Christian U. Märschel

Kiez, Koks & Kaiserschnitt


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auf­bau­en kann.

      Ei­ne Zu­kunft aus dem Nichts, aus ein paar Hab­se­lig­kei­ten, die ei­nem einst rei­chen Mann, der so gern ein Großer sein woll­te auf dem Ham­bur­ger Kiez - dem schön­sten Fleck­chen Er­de, das ich bis­her ken­nen­ge­lernt ha­be -, ge­blie­ben sind.

       Kaiserschnitt-Kinder

       Ich wurde 1964 geboren, ein einer Stadt, die damals schon eine Großstadt war. Haufenweise wurden alle umliegenden Orte eingemeindet, dieser –meiner-

      Stadt angegliedert. Immer seltener sah man in dieser Zeit auch die Autokennzeichen KK, WES, GV, und MO. Alles wurde KR. Es war toll, in einer

      Großstadt zu leben, fand ich damals. Es musste wohl die größte Stadt der Welt sein, denn alle Ortschaften, in die ich damals in meinem zarten Alter kam,

      waren kleiner.

      Das wusste mein Vater immer zu berichten. Er wusste alles, wie das bei Vätern nun eben mal so ist. Er musste es auch schliesslich wissen, denn er war ja

      bei der Polizei! Leider kam er zum täglichen Mittagessen im Familienkreise nie mit einem Auto mit Blaulicht drauf, lange habe ich nicht verstanden, warum.

      Wenn man bei der Polizei ist, gibts doch auch ein Blaulicht.

      Mein Vater war bei der Kriminalpolizei.

      Als er starb, war ich vierzehn.

      Sein letzter Dienstgrad war Erster Polizeihauptkommissar, das war wohl nur ein paar Stufen unter dem Polizeipräsidenten. Ich weiß nicht viel über ihn.

      Er hatte gefehlt in der entscheidenden Phase, die für die Erwachsenwerdung eines Menschen so wichtig ist, in der Pubertät. Da war er schon tot.

      Ich wurde per Kaiserschnitt geboren.

      Ich weiß nicht, ob der danach folgende Verlauf meines Lebens wirklich hiermit zu tun hat? Die Meinungen gehen auseinander, was die Vor- und Nachteile

      des Kaiserschnitts anbetrifft. Einige Meinungen habe ich bei meiner Suche nach den Ursachen für mein Anderssein im Internet und in schlauen Büchern gefunden.

      Die Gegner des Kaiserschnitts warnen vor einem verpassten Geburtserlebnis, sowohl für die Mutter als auch für das Kind, vor einer geschmälerten

      Mutter-Kind-Bindung und vor Babys, die bereits durch die Geburt einen psychischen Knacks haben.

      Und den habe ich bestimmt, ob es nun am Kaiserschnitt liegt oder nicht.

      Ich analysiere gern alles und jeden, besonders mich. Und mindestens hundert Knackse habe ich schon bei mir feststellen können. Es heißt, Kaiserschnittkinder

      würden sich im weiteren Leben häufiger vor Entscheidungen drücken und seien weniger durchsetzungsfähig.

      Genau das trifft auf mich zu.

      Ich schiebe Entscheidungen so lange vor mir her, bis sie auf der anderen Seite der Weltscheibe endlich herunterfallen. Aber ich kann mich durchsetzen! Das

      klappt gut, wenn man sich eine Umgebung mit Menschen aussucht, die schwächer sind als man selbst, vielleicht auch nicht ganz so schlau, und gerne jünger.

      Leider kann man seine Umgebung nicht immer selbst gestalten. Dann klappt das mit dem Durchsetzen auf einmal auch nicht mehr.

      Manche Menschen, so habe ich herausgefunden, sind kategorisch gegen einen Kaiserschnitt. Er würde die Entwicklung eines Kindes behindern. Das Fehlen

      der natürlichen Geburtserfahrung könne die Mutter-Kind-Bindung schwächen. Beim Kaiserschnitt werden der Mutter prägende Glückserlebnisse nach dem

      schmerzhaften Geburtsvorgang vorenthalten.

      Obwohl dies auf meine Mutter nicht zutraf. Sie war bis in mein fortgeschrittenes Alter, ja bis zu ihrem Tode eigentlich, eine Glucke, im liebsten Sinne des Wortes.

      Kaiserschnittkinder stehen unter dem Verdacht, ängstlicher und unruhiger zu sein, weil sie nicht den "struggle for life" durchgemacht haben.

      Ich habe Angst vor allem. Besonders vor dem Leben und dessen unkalkulierbaren Risiken.

      Weiterhin sagt man, dass Kaiserschnittkinder auch oft Anpassungsstörungen haben, weil man sie einfach so ohne Vorwarnung (Wehen) aus ihrer sicheren

      Gebärmutterhöhle reißt. Und ich bin der unangepassteste Mensch, den man sich vorstellen kann. Ich versuche es auch gar nicht. Das zeigt sich zum Beispiel

      an der Tatsache, dass ich hier in Amsterdam seit beinahe sieben Jahren lebe, ohne auch nur einen Freund, guten Bekannten oder gar eine Freundin/Lebenspartnerin

      gefunden zu haben. Ich suche auch nicht danach. Weil ich mich dann anpassen müsste. Kompromisse schließen müsste. Und das will ich nicht. Kann ich auch nicht.

      Man sagt, Kaiserschnittgeborenen fehle die "Massage" durch den Geburtskanal, die zuständig ist für die Vermittlung von Gefühlen wie Anschmiegsamkeit,

      Liebesbedürftigkeit und dem Verlangen nach Zärtlichkeit.

      Stimmt. Fehlt mir alles.

      Ich suche Entschuldigungen dafür, warum ich so bin, wie ich bin. Oder Erklärungen. Oder beides. Ich bin nie schuld. Immer andere. Jetzt eben der Kaiserschnitt.

      Ich habe nie Ideale gehabt oder Idole.

      Die Sache mit den Boy- oder Girlie-Groups, die heutzutage als solche dienen können, war damals noch nicht erfunden. Was man gerade erst erfunden hatte, war

      der Kassettenrecorder. Völlig abgefahren, das Teil (ich glaube, so sprach man damals auch noch nicht…), aus schwarzem Kunststoff, abgesetzt mit braunem

      Holzimitat. Den Tragegriff konnte man aus dem Gerät herausziehen und ihn, wenn man es nicht tragen wollte, auch wieder hineinschieben. Nein, er spielte nicht

      automatisch beide Bandseiten ab, man musste die Kassette schon noch von Hand herumdrehen. Wenns eine Automatik hierfür schon gegeben haben sollte,

      dann wäre meiner Mutter das zu teuer gewesen.

      „Das braucht man doch nicht, die Cassette kannst du doch wohl eben noch selber rumdrehen, das ist doch ein schönes Gerät, da kannst du doch diese

      neumodische Musik drauf abspielen. Und das ist eine gute Marke, der war teuer!“

      Ich weiß nicht, ob sie es so gesagt hatte, aber das wäre zumindest ihre Art gewesen, so etwas zu sagen.

      Meine Mutter war immer sehr sparsam. Nicht geizig. Sparsam. Aber wenn sie etwas kaufte, dann musste das auch gut sein, lang halten.

      Ich wusste damals, als ich klein war, auch schon was ein Kilometer ist. Für Kinder gar nicht so einfach, eine solch weite Strecke einschätzen zu können.

      Ein Kilometer, dass ist so abstrakt! Mein Vater, der alles wusste, sagte einmal, es sei so weit wie vom Hauptbahnhof unserer Stadt bis zum Polizeipräsidium.

      Das war dort wo er arbeitete. Das konnte ich mir fortan merken und auf andere Längen anwenden, die es zu bemessen galt. Später einmal fand ich heraus, das

      der Ostwall in Wirklichkeit viel länger ist als ein Kilometer. Aber es stimmte halt so ungefähr.

      Eine auch ungefähr so lange Strasse ist die Reeperbahn.

      Ganz weit weg für mich damals und noch völlig unbekannt. Die Reeperbahn ist auch in einer Grossstadt. Aber in einer viel größeren und schöneren als Krefeld,

      der Stadt in der ich aufwuchs, die aber leider nie mein Leben prägte.

      Ich kannte mich toll aus in Krefeld. Es gab kaum keine Strasse, die ich nicht beim Namen kannte und wenige, von denen ich nicht wusste, über welche Strassen,

      deren Namen ich natürlich auch wusste, man dorthin gelangt. Ich