Christian U. Märschel

Kiez, Koks & Kaiserschnitt


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      Die anderen Kinder aus der gepflegten, gutbürgerlichen Siedlung, aus der ich stamme, waren damals noch zu klein, um mit dem Fahrrad durch die Stadt fahren zu

      dürfen. Sie waren im schnitt 2 – 4 Jahre jünger als ich. Ich war früher immer mit Jüngeren zusammen. Vorteil: alles hört auf dein Kommando. Nachteil: lernen von

      den Grossen tuste hierbei nichts.

      Es war buchstäblich niemand da, an dem ich mich hätte orientieren können, selbst wenn ich damals schon erkannt hätte, das so was später vielleicht mal nützlich

      sein könnte.

      Mein Mutter war froh, dass sie nach dem Tod meines Vaters ihren Sohn nicht unkontrolliert verlor an Leute, von denen sie oft sagte: „Halt dich von denen mal

      lieber fern, das ist kein guter Umgang für dich, der Vater ist nur ein einfacher Arbeiter“.

      So oder ähnlich hörte ich es oft und lange, noch als ich schon größer war, gerade bei den Leuten, die ich grad neu kennengelernt hatte und interessant fand.

      Familienleben und Jugend in den 70gern waren geprägt von Schubladen, Urteilen und Vorurteilen und von Äusserungen wie: „ Was sollen bloss die Nachbarn

      denken?!“ Jedenfalls war das bei mir so.

      Von der „Sündigen Meile“ hörte ich zum ersten mal, als ich mit meiner Mutter abends in trauter Zweisamkeit vor dem häuslichen Fernseher sass. Es kam irgendein Bericht, in dem in loser Reihenfolge Worte vorkamen wie Reeperbahn, St. Pauli, Hamburg. Ich wollte wissen was die Worte bedeuteten, die mir, in Kombination mit schummrig-roten Fernsehbildern von leicht bekleideten Frauen, die an Tischen mit Gläsern und Champangnerflaschen saßen, zum ersten Male begegneten. Die vorbeschriebenen Umstände jener Zeit liessen nicht zu, dass meine Mutter mir das genauer erklärte. Aber das Interesse war geweckt! Ich war damals so vierzehn oder fünfzehn.

      Kurz nachdem mein Vater gestorben war, sprach meine Mutter mit mir auf einmal über viele Dinge, über die sie früher nie mit mir geredet hätte. Weil ich da ja

      noch ein Kind war. Ich habe damals nie an häuslichen Problemdiskussionen teilgenommen, falls es die überhaupt gegeben hatte. Ich kann mich nicht daran

      erinnern. Aber nun meinte sie, dass ich jetzt alt genug dazu sei und obendrein der einzig verbliebene Mann im Haus. Sie übertrug mir ein bislang nicht gekanntes Verantwortungsgefühl durch diese neuerliche Offenheit von ihr. Ich war erwachsen!

      Es gab damals für Teenies (die so auch noch gar nicht hiessen!) noch keine nach Musikrichtungen sortierten Klamotten im Techno-, Hip-Hop- oder

      Gabba-Look. „Junge Heranwachsende“, wie das damals hiess, trugen auch junge Mode. Das war das Oberhemd, wie es auch der Vater hatte, nur eine Nummer

      kleiner und mit anderem Muster. Die „Jeanshosen“, wie ich die Jeans jetzt noch alt-gewohnter Weise nenne, kamen gerade richtig in Mode.

      Ich jedoch, beladen mit einer neuen, schweren Verantwortung, der des „Mannes-im-Hause“, entschied mich damals: wenn erwachsen, dann richtig! Während

      meine Schulkameraden in lässigem Outfit mit T-Shirt-Aufschriften wie AC/DC (laut meinem damaligen Langenscheidt-Englisch-Lexikon waren sie also scheint’s

      Fans von Elektroinstallateuren), Uriah Heep oder einer Rolling-Stones-Zunge in den Klassenraum schlurften, kam ich eines Tages, neu eingekleidet, wesentlich

      seriöser daher! Ich trug eine hellbraune Cordhose, ein gemustertes Oberhemd und einen langen schwarzen Trenchcoat, so einen, wie Derrick damals immer anhatte.

      Ich war immer schon jähzornig.

      Vielleicht lag das ursächlich unter anderem daran, dass ich, je älter ich wurde, merkte, dass meine Mutter ständig versuchte, mich zu kontrollieren. Ich „entglitt“ ihr,

      wie sie oft sagte. Ich nannte es „entwickeln“ und so nenne ich es auch heute noch. Aus der liebevollen Glucke wurde eine Mutter, die alles und jedes an mir

      kontrollieren wollte.

      „Nein, mach das mal besser so und so, glaub mir, ich meine es nur gut mit dir...!“ Sie spielte dann die Beleidigte, wenn ich es nicht so tat, wie von ihr

      geheissen. Sie spielte sie nur, denn in Wirklichkeit war sie sauer, weil sie ihr Ziel nicht erreicht hatte. In extremeren Fällen sprach sie dann nicht mehr mit mir, das

      konnte zum Teil Tage dauern.

      Irgendwann ersann sie dann eine „Belohnungs-Strategie“.

      „Wenn du das und das von mir willst, musst du mir aber auch einen Gefallen tun – mach dies und das bitte nicht mehr, geh nicht mehr mit diesen oder jenen Leuten um, die sind nicht gut fur dich, warum triffst du dich denn nicht mehr mit deinen Freunden Dirk oder Holger, das sind doch nette Junges!“

      Ja, nette Jungs, aber auch kleine Jungs. Jungs, die alle auf ihre Mütter hörten, jünger als ich. Ich hatte andere Freunde gefunden, die waren zum Teil älter, reifer,

      oder einfach nie „liebe“ Jungs gewesen.

      Meine Mutter versuchte immer Gründe zu finden, auf die sie meine „unerklärliche“ Entwicklung schieben konnte. „Ich kann dich in letzter Zeit gar nicht mehr

      erreichen, du entfremdest dich so sehr von mir...“ sagte sie öfters, und mit „erreichen“ meinte sie nicht die telefonische Erreichbarkeit, denn Handys gab es damals noch nicht, „... du entgleitest mir ganz und gar!“

      Unser Verhältnis wurde immer gespannter und ich erinnere mich gut daran, dass meine Mutter immer noch einen oben drauf setzen konnte, mich regelrecht fertig

      machte, wenn sie merkte, dass sie mich endlich etwas in die Knie gezungen hatte. Ein verzweifelter Versuch, wieder Einfluss auf mich ausüben zu können.

      „Du warst so ein lieber Junge, als du klein warst!“ Ja, alle kleinen Jungen sind lieb, aber sie werden auch mal älter, Mutter, sehen nicht nur das in der Welt, was ihre Mütter zulassen sondern fangen eigenständig an zu sehen, mit eigenen Augen und eigenem Urteilsvermögen, dass meine Mutter mir immer absprach. Nach der Belohnungs-Strategie kam die „Enttäuscht-Strategie“ und Schuldzuweisungen, die sie eigentlich nie offen aussprach.

      „Ach, ich habe schlecht geschlafen heute nacht!“

      „Warum?“

      „Hach ja, ich muss so viel nachdenken.“

      „Worüber denn?“

      „Ach so allgemein. Es ist ja alles nicht so einfach im Moment. Du machst es mir ja auch nicht gerade leicht! Du solltest schon mehr auf deine Mutter hören, ich

      meine es ja nur gut mit dir. Du machst mir viele Sorgen!“

      Meine Mutter musste zuletzt oft ins Krankenhaus, Krebs war früher nicht rechtzeitig zu erkennen, und so hatte meine Mutter Lymphdrüsenkrebs und Brustkrebs.

      „Die Ärzte sagen, das kommt auch oft durch viel Ärger und Aufregung.“

      Ich weiss nicht ob es richtig ist, in einem Kind solche Schuldgefühle zu erwecken.

      In einem Fernsehbericht hörte ich einmal von einem Buch von Joseph Kirschner „Manipulieren – aber richtig“. Ich glaube nicht, dass ich damals, im Alter von

      vierzehn oder fünfzehn Jahren schon wusste, dass meine Mutter mich fortwährend manipulierte oder zumndest wusste ich nicht, dass dieses Wort das richtige war

      um das, was sie mit mir tat, zu beschreiben. Jedenfalls kaufte ich mir dieses Buch schon Tage später.

      Meine Mutter fand das Buch in meinem Zimmer, als ich in der Schule war, las es auszugsweise und sie bezog es natürlich auf sich – ich wolle sie manipulieren und mir aus diesem Buch die Anleitung hierfür holen.

      Kauf dir das Buch einmal, es ist sehr interessant, aber es geht in keinem Falle darum, wie man