Christian U. Märschel

Kiez, Koks & Kaiserschnitt


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von minus zehn links und elfkommafünf Dioptrien rechts. Je größer die Brillengläser werden, desto kleiner sind dann die Augen dahinter. Muss ja nicht sein. Obwohl ich lieber eine Brille trage. Aber nur zu Hause - Eitelkeit.

      Teil des Versuch, aus einem Durchschnittsmenschen, der sich eigentlich nicht von selbst von der Masse abhebt, das Beste zu machen.

      Verantwortung: wollte ich immer haben, möglichst viel aber möglichst nur so lange, bis es anfängt, schwierig zu werden. Kaiserschnitt-Kind, eben. Von den jüngeren Kindern, mit denen ich früher immer zusammen war und um Rat gefragt wurde bis hin zur Ersatzrolle "Mann-im-Haus" bei meiner Mutter, nachdem mein Vater gestorben war. Schon mit fuffzehn, damals nach dem Tod meines Vaters, kaufte ich mir einen wichtigen schwarzen Trenchcoat, Stoffhosen mit Bügelfalte habe sogar mal kurz Pfeife geraucht, in der Lehre, da war ich ungefähr siebzehn. Was müssen bloß die anderen gedacht haben? Ich war wichtig-erwachsen, leider nicht cool-erwachsen. Die einzige Zeit meines Lebens, in der ich zumindest in irgend einer Form erwachsen war, vielleicht zwei Jahre lang. Danach - bis heute - wollte ich nie mehr erwachsen sein.

      Wenn die Verantwortung dann zuviel wird, unlösbare Probleme mit sich bringt oder doch mehr Einsatz fordert, als mir die Sache wert ist, will ich sie schnell wieder loswerden, die Verantwortung. Dann erwacht das Flucht-Tier in mir. Der Wassermann. Weg, nichts wie weg. Ich melde mich nicht mehr bei den Leuten, für die ich noch bis vor kurzem mit unglaublichem Selbsteinsatz verantwortlich war, finde Ausreden, übertrage die Verantwortung an andere: „Urselchen, kannst Du Dich nicht mal eben kümmern? Ich kann grad nicht!“

      Urselchen sucht auch immer jemanden, für den sie verantwortlich sein kann. Sie ist da in vielen Punkten wie ich. Sie kommt auch nicht mit sich selbst zurecht, dafür supergut mit den Problemen anderer. Eigentlich schön, dass es solche Menschen gibt. Schön für andere, die ihren Nutzen daraus ziehen können. Schlecht für die Betroffenen selber. Weil sie ihre eigenen Probleme nie richtig lösen können, immer die der anderen vorziehen, sie als wichtiger bewerten als ihre eigenen Probleme. Und sich so nicht mit sich selbst beschäftigen müssen.

      Oder Flucht durch Umziehen: Wenn ich es selbst war, der für sich verantwortlich sein musste. Ich mache Mist ohne Ende, immer wieder, und immer in dem treuen Glauben, es wird schon gut gehen. Geht es meistens nicht. Statt dann meine Probleme zu lösen, löse ich mich auf. In Luft - und ziehe um. Ohne Anmeldung in der neuen Stadt, ohne Telefonbucheintrag, ohne postalischen Nachsendeantrag. Und wenn doch, dann nur an ein Postlager.

      Ich bin unstetig. Wassermann. Entschuldigung.

      Ich fange ganz viele neue Sachen zugleich an, mute mir viel zu, jedes mal, ohne irgendwas je richtig zu beenden. Irgendwann, wenn die ersten Schwierigkeiten auftauchen, ich mich nicht mehr rausreden kann, es langweilig wird oder nicht den gewünschten Erfolg bringt, höre ich jäh auf; lasse alles stehen und liegen, will wieder was Neues, was ganz anders machen, was diesmal bestimmt ganz toll klappen wird. Tut’s dann aber auch nicht. Hat’s noch nie. In dem Moment, wo ich mit einer Sache durch bin, will ich aber auch von den noch folgenden Ausläufern dieser nichts mehr wissen. Alle Rechnungen, die im Nachhinein kommen für ein gerade in Unehren beendetes Geschäft, sind gegenstandslos. Dafür bin ich ab sofort nicht mehr verantwortlich. Ich habe das Geschäft aufgegeben, oder die Wohnung, oder Gott weiß ich was. Da müssen nun auch alle Gläubiger ihre Forderungen aufgegeben.

      Das ist Vergangenheit.

      Damit habe ich nichts mehr zu tun.

      Ich bin für mich selbst nicht mehr verantwortlich. Das war ja ein anderes Leben, ein vorheriges, ein schlechteres.

      Ja. Ich habe Fehler gemacht, letztes mal, weiß ich, mach ich auch nie wieder.

      Aber jetzt will ich nichts mehr wissen davon. Lasst mich in Ruhe.

      So ein Verhalten bringt Schwierigkeiten. Weil Telefonrechnungen von zweitausend Mark für den letzten Monat und noch mal anderthalb für die davor liegenden zwei Monate einfach bezahlt werden wollen. Auch wenn man sich selbst für nicht mehr zuständig erklärt. Vogel-Strauss-System. Kopf in den Sand stecken. Wenn ich keinen sehe, sieht mich auch keiner.

      Man bekommt Routine darin. Es übt sich. Meistens klappt es auch. Na gut, ab und zu muss ich mal einfahren. Ein bis zwei Tage Knast, das ist schon öfters mal vorgekommen. Aber bis jetzt bin ich ja immer flott wieder draußen gewesen. Und die meisten Gläubiger haben mich nicht gekriegt.

      Ein Telefon in Deutschland werde ich wohl nicht mehr anmelden können. Ein Bankkonto werde ich wohl auch nicht mehr kriegen. Auch ein Leasing-Auto würde ich wohl nicht bekommen. Gar kein Auto mehr, in Deutschland.

      Fahren ohne Versicherung und Zulassung - noch habe ich keinen Richterspruch dafür zugestellt bekommen. Werde ich wohl auch nicht.

      Ich bin mal wieder umgezogen. Deutschland wurde zu eng. Nun bin ich Holland.

      Weite, grüne Felder, kleine Städte, neue Menschen, die alten Probleme habe ich hinter der Landesgrenze gelassen, einfach nicht mitgenommen, nicht angemeldet, beim Zoll, nicht verzollt, die Probleme. Einfach da gelassen. Ein neues Leben in einem neuen Land, mit neuen Leuten. Ohne die alten Probleme. Hier habe ich ein Bankkonto, kann ich ein Auto zulassen, hetzen mich keine Gläubiger. Noch nicht.

      Wenn ich die alten Fehler nicht erneut begehe, bleibt das auch so. Wenn. Mit den Problemen habe ich auch die Freuden zurückgelassen. Freunde, gute Bekannte, Menschen, die man einfach ab und zu gerne um sich hat. Die Muttersprache, in der ich so gerne rede und schreibe, meine Bekanntheit bei einer gewissen Menschengruppe, meine Beliebtheit bei denen, weil ich immer ein Spaßmacher war, immer Lösungen wusste für Probleme, immer geholfen habe, wo und wann ich nur konnte.

      All das habe ich auch an der Grenze abgegeben. Nicht verzollt. Dagelassen. Preis der Freiheit. Preis der Freiheit? Ist sie das wert, das alles, die Freiheit?

      Frauen & Verhältnisse: Frauen. Ein Thema für sich. Leute, die mich ein bisschen besser kennen, meinen etwas absonderlichen Geschmack und meine etwas ausgefallenen Vorlieben für bestimmte Mädchen hatten oft gefragt: „Was willst Du denn mit der?“ Ich suche nicht ein Mädchen, um es möglichst bald in den sicheren Hafen der Ehe zu führen.

      Ich suche ein Kunstwerk.

      Ein menschliches und wichtiger: - ästethisches - Kunstwerk an meiner Seite. Mit dem ich nicht über meine letzte Steuererklärung reden können muss. Oder über unseren nächsten Wochenendausflug.

      Ein Mädchen, bei dem es auf innere Werte ankommt, eine treue Frau, die zu Dir steht, in guten wie in schlechten Zeiten. Bei der ein paar Pfunde zu viel oder eine nicht so schöne Nase egal sind. Die aber mit Dir durch Dick und Dünn geht.

      Nein, so ein habe ich noch nie gesucht. Sondern ein Kunstwerk. Das eigentlich nur da sein braucht, um angesehen zu werden. Um schön gefunden zu werden. Einen van Gogh kauft man ja auch nicht, weil man ihn braucht...

      Ich bin ein Voyeur. Will eigentlich nur gucken. Nicht mehr - wenn Sie perfekt ist. Dann steht Sie auf einem Sockel. Ich stelle Sie dahin. Ich will sie anschauen, bewundern, von unten (meiner Position) nach oben (ihrer Position). Damit unterwerfe ich mich ihr. Wenn sie dann auch noch die Rolle der Domina drauf hat, dann passiert so was wie bei Nadine. Und dann bin ich ihr verfallen. Dabei muss sie ein ganz eigener, kaum beschreibbarer und für andere Menschen schon gar nicht nachvollziehbarer Typ sein. Ein Typ, mit dem die meisten anderen Menschen nichts anfangen können. Solche Typen gibt es!

      Und weil die meisten anderen Menschen nichts mit ihnen anfangen können, finde ich sie und kann sie oft auch (be-)halten.

      Wenn ich sehnsüchtig hinter irgend einem kleinen Ding hinterher schaue, kommt oft von meiner jeweiligen Begleitung die - wohlwollende - Bemerkung: „…na, na, die war aber wirklich noch ein bisschen jung!“

      Weiß ich. Darum geht’s aber nicht. Ich hab sie nicht angeschaut mit dem Gedanken, die flachlegen zu wollen. Sondern mit dem Gedanken, sie Schönfinden zu wollen. Habe sie ästhetisch gefunden. Perfekt. Oder nahezu perfekt.

      Einfach für meine Begriffe schön, hübsch, niedlich, süß. Adjektive, die mir sofort durch den Kopf schießen, wenn ich ein Mädchen sehe, das meinem Typ