Sylvia M. Dölger

Zum Teufel mit Barbie!


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der Pause saß Sue alleine auf dem Schulhof und las das Buch ›Die Verwandlung‹ von Kafka, das sie tatsächlich in der Schülerbücherei entdeckt hatte. Tief in die Geschichte versunken, sah sie ihn nicht.

      »Darf ich?«

      Sie blickte auf. Kilian! Ausgerechnet.

      »Das war nicht nett von den anderen. Tut mir leid«, sagte er. »Übrigens verstehe ich dich. Ich kenne meinen Vater auch nicht.« Er setzte sich. Sue ließ ihn, las aber weiter. Das Buch war wirklich abgefahren. Jimmy hatte einen tollen Geschmack. »Was liest du denn da?«

      »Die Verwandlung.«

      »Und gut?«

      »Mhm.«

      »Bist du immer so gesprächig?« Kilian strich sich die rotblonden Haare aus dem Gesicht. Er sprach gequält, wirkte müde. »Die anderen sind doch total krank.« Seine Stimme klang rau. Hatte er eine aufgeplatzte Lippe?

      »Ja.« Sue legte ihr Buch beiseite. Sie schaute ihn an. »Weißt du, was die gegen dich haben?«

      »Nee, keine Ahnung.«

      Er zuckte mit den Schultern. Richtig fertig sah der aus. Die Schatten unter seinen Augen ließen ihn älter wirken als er war. Hoffentlich wurden sie nicht zusammen gesehen. Das würde die Situation nicht gerade verbessern.

      Andererseits, was sollte noch Schlimmeres passieren?

      Eigentlich tat es ihr gut, mal mit jemandem zu reden.

      »Was hörst du?«, fragte sie ihn und zeigte auf die Kopfhörer, die um seinen Hals hingen.

      »Rihanna und ... so.«

      »Ach ja?«

      »Klar. Willst du mal reinhören? Das ist die neueste CD von ihr« Er bot ihr einen Kopfhörer an, aber sie lehnte ab. Als es zum Ende der Pause klingelte, unterhielten sie sich noch über die Songs in den Charts.

      »Du bist in Ordnung, Sue.« Er grinste schief aber irgendwie sympathisch.

      Im Sport-Unterricht konnte Sue endlich Dampf ablassen. Sie rannte den anderen einfach davon. Während Christina mit Seitenstichen am Rand des Platzes lehnte und stöhnte, lief Sue eine Runde nach der anderen. Allmählich beruhigte sie sich. Nur Kilians Blick haftete noch an Sues Gedanken wie Klebstoff. Er hatte ausgesehen, als ob er sich geprügelt hätte. Jetzt dämmerte es ihr: Rick und die anderen. Klar, wegen der Mathesache! Die hatten doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!

      Es war ein sonniger Tag. Nach dem Unterricht streifte Sue eine Runde durchs Kaufhaus und machte sich danach auf den Weg zu Fritz.

      Nachdenklich drehte sie seinen Zettel zwischen den Fingern. Ob sie ihn wirklich in diesem Neubaugebiet antreffen würde? Hier gab es keine Hausnummern, aber eigentlich auch keine Häuser. Es gab nur ein einziges Gebäude mitten auf einer Wiese. Es hatte zwar ein Dach, aber keine Fenster. Fitz wohnte offensichtlich in einem Rohbau.

      Und er war da! Wie immer freute der Obdachlose sich über die mitgebrachten Leckereien, die Sue stibitzt hatte. Sie kraulte den vor Freude jaulenden Goethe hinter den Ohren.

      »Probleme in der Schule?« Fritz runzelte die Stirn.

      »Wie kommst du denn darauf?«

      »Na, du kräuselst deine Stirn immer so, wenn du Sorgen hast, Mädel.«

      »Die anderen sind bescheuert. Ich komm schon klar. Hier wohnst du also?« Ihr Blick fiel auf die roten Steine, aus denen die Wände bestanden. Der Boden war aus Beton. War es hier wirkliche wärmer als unter der Brücke?

      »Ja. Vielleicht kommen die anderen auch hierher.«

      »Hm, und der Eigentümer?«

      »Baustopp wegen der Kälte. Sind ja noch keine Fenster drin. Da lässt sich niemand hier blicken«, erklärte Fritz. »Mach dir mal keine Sorgen. Ich mach‘s mir schon gemütlich.« Er deutete auf den Stapel löchriger Decken, seinen kleinen Kocher und auf den dösenden Goethe.

      »Na, gut. Erzählst du mir mehr von deinen Thailandausflügen?«

      »Na, findest det doch spannend. Na klar. Is aber alles lange her. Ich war ja nur zum Urlaub dort. Mit meiner damaligen Freundin. Mit dem Rucksack waren wir unterwegs.«

      »Cool.«

      »Ja, aber auch anstrengend. Is aber alles nich so teuer gewesen wie hier«, sagte er und trank aus seiner Bierdose.

      »Willst ‘nen Schluck?«

      »Klar.«

      Das kühle Bier kitzelte ihren Gaumen. Sue reichte die Dose zurück, legte ihren Kopf auf Goethes warmen Körper und lauschte der Erzählung des Obdachlosen.

      »Das waren Zeiten. Damals hatte ich immerhin ein Dach überm Kopf. Reich waren wir nich, aber ich hatte einen Job. Scheiße Mann, det war geil.« Er schien sie ganz vergessen zu haben.

      »Was war geil?«

      »Na, die einsamen Strände und det. Warst schon mal an ‘nem Strand?«

      »Nur an der Ostsee. Mit dem Wohnwagen. Und in Italien.«

      »Det kannste aber nicht vergleichen. In Thailand ist der Strand weiß. Da gibt et Palmen und ein türkises Meer. Wunderschön ist det. Ich träum immer wieder davon.«

      »Klingt gut.« Sie nahm noch einen großen Schluck.

      »Na, du bist jung, hast noch allet vor dir. Vielleicht kommste ja mal hin. Vielleicht siehste dann auch deine Mutter, deine Richtige mein ich.«

      Sue sprang auf.

      »Du, ich muss wieder los, hab noch viele Hausaufgaben. Bis morgen dann!«

      Sie drehte den Gashebel bis zum Anschlag. Warum wollten nur alle, dass sie ihre Mutter kennen lernte? Die hatte sie doch weggegeben, das süße Baby nicht haben wollen. Nein, von der wollte Sue nichts wissen! Die war für sie gestorben und so sollte es auch bleiben. Besser so. Und ihr Vater! Na, das war ein ganz Großer! Schwängerte im Urlaub eine kleine Thailänderin und machte sich aus dem Staub! So ein Wichser! Für so jemanden fand sie gar kein passendes Schimpfwort. Wofür gab es schließlich Kondome! Und die hatte es auch schon vor achtzehn Jahren gegeben!

      Außerdem hätte ihre Mutter das Kind wegmachen lassen. Das war auch in Thailand möglich. Verflucht! Plötzlich spürte sie, wie sie blass wurde. Die Musik in ihren Ohren sauste, ihr wurde schwindelig. Ihr Puls raste, sie bremste. Was wäre, wenn ihre junge Mutter wirklich abgetrieben hätte? Dann würde sie heute nicht hier stehen und Musik hören. Dann hätte sie nie Mom und Pa … und Vanessa … und Fritz kennen gelernt. Der Schwindel wurde stärker. Sie stieg ab und schob den Roller das letzte Stück.

      Zuhause angekommen, schlich sie sich in ihr Zimmer und fuhr den Laptop hoch. Die Hausaufgaben konnten warten. Sie twitterte:

       manga_girl: twilight forever

      Und checkte die Timeline. Dort fand sie immer wieder witzige Sprüche, tolle Tipps und geile links, meistens Youtube-Filme. Auch heute hatte sie wieder neue Follower. Täglich wurden es mehr. Bald wusste Sue gar nicht mehr, warum sie sich so aufgeregt hatte.

      Im nächsten Moment beschleunigte sich ihr Puls wieder. Eine private Nachricht von Jimmy! Der Junge hatte etwas, was sie nicht fassen, nicht benennen konnte, was sie aber unheimlich neugierig machte. Aus irgendeinem Grund stimmte die Wellenlänge zwischen ihnen. Dass sie nicht wusste, wer er wirklich war, machte den Flirt noch spannender, prickelnder.

       hi manga_girl, geht dir die schule auch auf en keks, bin voll genervt heute, liege auf dem bett und höre pink. würde mich über eine antwort von dir freuen. jimmy.

      Jimmy stand auf Pink! Das wurde ja immer besser.

      Sie lud ihn zu einem Chat im ICQ ein. Vielleicht hatte sie Glück und er war online.

       jimmy: hi manga_girl, nett dich zu treffen.

       manga_girl: hi