Lina-Marie Lang

Angriff der Keshani


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Körper kaum noch fühlen. Sie hatte keine Kraft um sich zu heilen, die Haltung verkrampfte ihre Muskeln, dazu kamen noch die Prellungen von dem Sturz. Wie lange würde sie noch hier stehen müssen?

      In der Menge entdeckte Nadira ein vertrautes Gesicht: Tinju. Würde er sie herausholen? Nein. Er ging. Er konnte sie doch nicht hier zurücklassen. Nadira wollte nach ihm rufen, aber ihr fehlte die Kraft dazu. Jemand musste ihr helfen. Brancus hatte sie verraten. Obwohl er schon immer ihr Feind gewesen war, hätte Nadira niemals erwartet, dass er zu solch einen Verrat fähig war. Irgendjemand musste ihn aufhalten. Er brachte nicht nur Nadira in Gefahr, sondern ganz Alluria, vielleicht sogar ganz Soria.

      ***

      Darec konnte nicht glauben, was hier passierte. Zuerst beschuldigten die Bürger Nadira, schuld an den Angriff der Wölfe zu sein, dann bezeichnete Brancus Nadira als Verräterin und die Wachen glaubten ihm auch noch.

      Immerhin war auch Brancus Ziel das Haus der Dynari. Dort würde sich die Sache aufklären. Dyna Sirdyna, das Oberhaupt der Dynari in Giagan kannte Nadira und würde Brancus sicher nicht so einfach glauben. Außerdem wusste sie, dass Nadira eine Dynari war und keine Betrügerin.

      Aber Brancus lies die Sache nicht auf sich beruhen. Als sie auf einem großen Platz kamen, ließ er Nadira in einen Pranger stecken, wie eine billige Hure. Darec schwor sich, dass Brancus für das hier bezahlen würde.

      Er versuchte sich loszureißen, um Nadira zu helfen, aber die beiden Wachen, die ihn festhielten, waren so gut ausgebildet wie er selbst und er hatte keine Chance zu entkommen. Immer wieder rief er den Wachen zu, dass sie einen schlimmen Fehler machten, aber sie hörten nicht auf ihn. Sie glaubten, Nadira hätte ihn und Aurel irgendwie beeinflusst.

      Eigentlich sollten sie es besser wissen. Die Wachen lernten, dass Ashara den Geist von Menschen nicht dauerhaft beeinflussen konnte. Zwar waren manche Ashari in der Lage, die Sinne zu verwirren, aber keiner von ihnen konnte die Gedanken anderer Menschen kontrollieren. Wieso verhielten sie sich so, obwohl sie wissen mussten, dass sie falsch handelten?

      Darec konnte es sich nur so erklären, dass sie durch das schreckliche Halsband, das Ashari ihre Kraft nahm, verunsichert waren. In Alluria hatte man von diesem Ding noch nie gehört. Wahrscheinlich wollten sie die Entscheidung den Dynari überlassen.

      Sie ließen Nadira auf dem Platz zurück. Wie einen Verbrecher hatte man sie an den Pranger gestellt. Sie, die ihr Leben riskierte hatte, um anderen zu helfen, die jetzt ihr Leben riskierte, um Alluria vor einer schrecklichen Gefahr zu warnen. Es war ein Hohn, ein schrecklicher Hohn. Wenn das Ganze in einer Geschichte passiert wäre, hätte er darüber gelacht.

      Darec erkannte, dass es keinen Sinn mehr machte, sich gegen die Wachen zu wehren. Er würde nicht entkommen. Und selbst wenn er die beiden überwinden konnte, wäre er nicht frei. Die kleine Gruppe wurde noch von sieben weiteren Wachen begleitet. Er konnte nicht entkommen, also wechselte er seine Taktik.

      „Wie könnt ihr das zulassen?", fragte er die Wachen, die ihn festhielten.

      „Wir befolgen nur Befehle", sagte einer der beiden.

      „Ihr müsst doch wissen, dass Brancus euch Unsinn erzählt hat."

      „Das ist Sache der Dynari. Wir bringen euch zu ihnen."

      Es war ihnen offensichtlich egal, was sie taten. „Ihr habt eine Dynari an den Pranger gefesselt", rief Darec.

      „Sei still", fauchte Brancus ihn an. „Wir werden das, was sie getan hat, rückgängig machen. Dann wirst du wieder wissen, wer du bist: mein Hüter."

      „Ich bin Nadiras Hüter. Und du bist verrückt geworden", schrie Darec Brancus an.

      Eine der Wache schlug Darec mit der Faust in den Bauch. Der Schlag war nicht einmal besonders fest gewesen, es war nur eine Warnung. „Sprich nicht so mit dem Dynari."

      „Er ist verrückt geworden", rief Darec, der die Warnung ignorierte.

      „Könnt ihr ihn bitte ausschalten?", sagte Brancus mit genervter Stimme. Darec hatte keine Chance zu reagieren, ehe er den Knauf eines Schwertes auf seinen Kopf zurasen sah. Der Treffer warf seinen Kopf in den Nacken und blies sein Bewusstsein aus.

      ***

      Die Dunkelheit hatte sich über die Stadt gesenkt. Nadira stand noch immer im Pranger und versuchte verzweifelt, sich auf den Beinen zu halten. Wenn ihre Beine die Kraft verließ, würde sie sich selbst strangulieren.

      Die beiden Wachen standen links und rechts von ihr, jeweils einige Meter von ihr entfernt. Die Menge, die Nadira beschimpft und mit fauligem Obst beworfen hatte, hatte sich inzwischen aufgelöst. Die Frau im Pranger war offensichtlich weniger interessant als ein gemütlicher Abend Zuhause am warmen Kamin.

      Mit dem Abend war es auch deutlich kühler geworden. Da Nadira sich kaum bewegen konnte, traf die Kälte sie um so stärker. Sie fühlte, wie ihre Muskeln immer steifer wurden und so nur noch mehr Wärme und Kraft verloren. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese Nacht überstehen würde.

      Eine Bewegung auf dem Platz vor ihr lenkte Nadiras Aufmerksamkeit von ihren Schmerzen ab. Es war inzwischen so dunkel geworden, dass sie nicht erkennen konnte, wer dort stand.

      „Darf ich zur Gefangenen?", fragte eine männliche Stimme.

      „Nein", rief eine der Wachen. „Verschwinde."

      „Sie braucht etwas zu trinken", sagte der Mann und hielt etwas hoch.

      „Na gut", sagte schließlich eine der Wachen. Nadira hörte Schritte, die die paar Stufen des Podestes hinaufstiegen und sich ihr dann auf dem Holzboden näherten. Eine Hand griff nach ihrer Hand und Nadira hob kraftlos den Kopf.

      „Ich bringe dir etwas zu trinken", sagte ein Mann und ging vor Nadira in die Hocke. Sie konnte ihn nicht erkennen, da er eine Kapuze trug, die sein Gesicht verdeckte. Erst als der Mann den Kopf hob, erkannte Nadira ihn. Es war Tinju.

      „Trink", sagte er und hielt Nadira einen Wasserschlauch an den Mund. Gierig trank Nadira das schale Wasser. Sie hatten ihr den ganzen Tag über nichts zu trinken gegeben.

      „Das ist genug", rief eine der Wachen.

      „Ist ja gut", sagte Tinju und zog den Trinkschlauch weg. Ehe er aufstand, flüsterte er Nadira noch zu: „Es wird alles gut."

      Er ergriff noch einmal Nadiras Hand, doch diesmal war seine Hand nicht leer. Er legte ihr etwas hartes, glattes in die Hand, Nadira schloss ihre Hand darum, um es zu verbergen. Tinju drehte sich um und ging weg. „Ihr solltet eure Gefangenen besser behandeln", sagte er im Vorbeigehen.

      „Kümmere dich um deine eigenen Probleme", sagte eine der Wachen. Tinjus Schritte entfernten sich.

      Nadiras hatte noch immer massive Probleme sich zu konzentrieren. Die Energie, die ihr laufend entzogen wurde, schien auch ihre Gedanken aufzusaugen und ihr Kopf fühlte sich die meiste Zeit leer an.

      Aber irgend etwas war anders. Da war ein kleiner Ort am Rande ihres Bewusstseins. Ein Ort, der dem Sog des Halsrings widerstand. Neugierig und mit unendlich großer Mühe, wandte Nadira sich diesem Punkt zu. Er war rund, er war voller Ashara. Nadira konnte das Strahlen der Kraft sehen, die von diesem Punkt ausging. Der Sog schien das Ashara in diesem Punkt kaum zu beeinflussen. Was war das?

      Dann plötzlich verstand sie. Das harte, runde etwas, das Tinju ihr in die Hand gegeben hatte. Vor Schreck über die Erkenntnis ließ sie den Fokusstein fast fallen. Aber nur fast, stattdessen griff sie fester zu.

      Die Wachen schienen bemerkt zu haben. „Was ist das?", sagte einer von ihnen.

      „Was ist was?", fragte der andere.

      „Sie hat etwas in der Hand."

      Bloß keine Zeit verlieren. Wenn sie ihr den Fokusstein wegnahmen, war alles vergebens. Nadira griff nach dem Ashara im Fokusstein, aber es funktionierte nicht. In dem Moment, in dem sie das Ashara zu sich heranzog, wurde es vom Sog erfasst und verschwand.

      „Was ist das?", sagte die Wache. Schritte näherten sich ihr. Nadira lief die Zeit davon. Sie musste das Ashara