Jürg und Susanne Seiler

Der Stempelschneider


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Konnten wir überhaupt hoffen, aus diesem Gefängnis loszukommen?

      Die Sonne war aufgestiegen, und bald wurde nicht nur die Hitze wieder drückend, sondern in der unbewegten Luft breiteten sich die Gerüche von Schweiss, Fäkalien und unbeerdigten Leichen aus. Einige etwas aktivere Männer begannen, die Leichen an einem möglichst weit entfernten Ort zusammenzutragen. Auch wenn sie damit aus dem direkten Blickfeld gerieten, der penetrante Leichengeruch blieb in der Luft hängen.

      Gegen Mittag erschienen, unter aufmerksamer überwachung durch einen Trupp Soldaten, Scharen von Sklaven mit Wasser und Brot. Auch diesmal waren die Rationen klein, kaum genügend, um den Hunger zu stillen und den Durst zu löschen. Dann blieb wieder nichts anderes zu tun, als ergeben auf das Verdikt der Volksversammlung zu warten.

      Endlich, gegen Abend, erschienen die Soldaten, die diesmal eine Abordnung von syrakusanischen Bürgern begleiteten. Das Urteil, das sie uns verkündeten, war niederschmetternd, speziell für die Athener unter uns: Die Feldherren und höheren Offiziere waren zum Tode verurteilt und gleich hingerichtet worden. Die gefangenen Verbündeten der Athener sollten in die Sklaverei verkauft werden. Die Athener selbst sollten in den Steinbrüchen bleiben und dort für ihren Unterhalt arbeiten müssen. Wir hatten nur für einen Tag erst erlebt, was der Aufenthalt in den Steinbrüchen bedeutete, aber dazu noch schwere körperliche Arbeit ausführen, das war ein Todesurteil auf Raten.

      Ich stand in den vorderen Reihen, als uns dieses niederschmetternde Urteil verkündet wurde, und ich weiss nicht, wie es geschah, dass ich mich auf einmal an die Eingangsszene der Troerinnen von Euripides erinnerte. Zwei Jahre vor meiner Abfahrt nach Sizilien war diese Tragödie in Athen aufgeführt worden, und sie hatte grossen Eindruck auf mich gemacht. Wie ein Blitz durchfuhr mich der Gedanke, dass wir uns hier und jetzt in der gleichen Lage befänden, wie die Frauen nach der Eroberung Trojas, und ich begann, die Verse der Hekuba zu rezitieren, sie gleichzeitig an unsere Situation anpassend:

      „Auf, Unselige, hebet vom Boden das Haupt,

       Reisset den Nacken empor! Dies ist Athen nicht mehr.

       Dass die Stunde sich wandelte, erduldet‘s, ertragt’s!

       Lasst euch treiben vom Strom, lasst dem Schicksal den Weg,

       lenkt nicht wider den Schwall; dem Wind, wie er weht,

       gebt preis den Nachen des Lebens!“

      Weiter kam ich nicht, denn in den Reihen der Syrakusaner hatte sich Unruhe ausgebreitet, ein Mann war aus der Menge herausgetreten und rief:

      „Wer deklamiert hier Euripides?“

      Es kam mir nicht in den Sinn, mich vorzudrängen, dass ich als der Sprecher erkannt würde, war mir gleichgültig, aber meine Kameraden stiessen mich nach vorn. Der Mann stürzte sich auf mich, nahm mich am Arm und riss mich zu den Syrakusanern hin.

      „Fahr fort mit deinen Versen,“ gebot er mir, und zu seinen Mitbürgern gewandt sagte er:

      „Oh Glück, hier haben wir wieder einen gebildeten Mann, der uns weitere Strophen aus den neuesten Tragödien von Euripides vortragen kann.“

      Ich gehorchte ihm und wollte mit der Klage der Hekuba, so weit sie mir noch im Gedächtnis geblieben war, fortfahren, als mich ein Schwindel erfasste und ich zu Boden sank. Der Mann winkte aufgeregt seinen Nachbarn, einige Sklaven tauchten plötzlich mit Wein und Wasser auf, ich wurde gepflegt, dann aufgehoben und aus den Steinbrüchen weggetragen. Ich hatte dabei die Besinnung verloren und wachte erst wieder auf, als ich in einem kühlen Zimmer auf einem Bett lag. Ich war nackt, mit einem leichten Leinentuch bedeckt.

      Ich hatte keine Ahnung, wohin ich gebracht worden war, aber jedenfalls musste es das Haus eines recht wohlhabenden Bürgers sein, denn das Bett war mit feinem Leinen bezogen, auf einem Hocker lag ein neuer, weisser Chiton aus weicher Wolle, und neben dem Bett stand ein wunderbar bemaltes Gefäss attischer Herkunft voll Wein.

      Ich richtete mich halb auf, stützte mich auf den linken Ellenbogen, um mich im Raum umzusehen. Eine Frau, offenbar eine Sklavin, die still in einer Ecke gesessen war, sprang auf und glitt, mehr als sie ging, zum Zimmer hinaus. Ich hörte sie draussen mit unterdrückter Stimme nach jemandem rufen. Es vergingen nur wenige Augenblicke, dann trat der Mann, der mich in den Steinbrüchen gepackt hatte, ins Zimmer und fragte, mit einem Lächeln um die Augen:

      „Na, wie fühlst du dich? Besser?“

      Ich setzte mich auf und bejahte.

      „Wie kann sich einer nicht gut fühlen, wenn er – als ohnmächtiger Gefangener aus den Steinbrüchen getragen – in einer solchen Umgebung wieder aufwacht.“

      „Das ist gut so, ich hoffe, du bist soweit bei Kräften, dass du mir einige Fragen beantworten kannst.“

      Er zog einen Hocker heran und setzte sich.

      „Welchen Namen trägst du?“

      „Ich bin Ariston, der Sohn des Eupeithes von Athen.“

      Der Mann war sichtlich überrascht und fragte, sich gespannt nach vorn lehnend:

      „Des Eupeithes Sohn? Meinst du den Gemmenschneider Eupeithes, der seinen Laden am Ende des Kerameikos nahe der Agora hatte?“

      „Ja, mein Vater hatte seinen Laden dort, gleich in der Strasse linker Hand vor der Stoa Poikile. Weshalb fragst du? Kanntest du ihn?“

      Er sprang auf, kam zu mir hinüber, zog mich vom Bett hoch und umarmte mich.

      „Dich zu finden habe ich ja doppeltes Glück gehabt! Zuerst rezitierst du Euripides, meinen höchst geschätzten Dramatiker, und dann stellt sich noch heraus, dass du der Sohn meines lieben Gastfreundes in Athen bist.“

      Ich war wie vom Donner gerührt. Mein Retter ein Gastfreund meines Vaters? Ich sah ihm ins Gesicht, dann sagte ich zögernd:

      „Verzeihe, aber ich kenne dich nicht, ich habe dich bis heute noch nie gesehen.“

      Er lachte.

      „Klar kannst du mich nicht kennen. Es war vor vielen Jahren, dass ich in Athen war und bei deinem Vater Unterkunft und Gastfreundschaft fand. Du warst damals fünf oder höchstens sechs Jahre alt und durftest dich den ganzen Tag eigentlich nur im Frauenteil des Hauses aufhalten. Jedenfalls habe ich dich auch nur ein- oder zweimal ganz kurz zu Gesicht bekommen. Vielleicht hast du aber von mir erzählen gehört. Ich bin Eukleidas, Sohn des Kimon, der Stempelschneider.“

      Jetzt ging mir ein Licht auf. Natürlich hatte ich von ihm gehört, von diesem grossen Künstler, der schon damals in jungen Jahren zu den Besten seines Fachs gehört hatte. Mein Vater hatte von ihm manche Anregung erhalten, die er dann in seinen Schmuckstücken umsetzte. Sein Aufenthalt bei uns hatte schliesslich auch noch dazu geführt, dass mein Vater sich ebenfalls dem Schneiden von Prägestempeln verschrieb und mir diese Kenntnisse weitergab. Das alles kam in meinen Erinnerungen wieder hoch, und ich bestätigte ihm, dass wir viel und achtungsvoll von ihm gesprochen hätten. Er freute sich sichtlich über meine Worte und darüber, dass er mir das mir eigentlich zugewiesene Schicksal hatte abwenden können.

      „Nun musst du dich erst einmal erholen,“ sagte er, „dann werden wir weitersehen. Die Bürger von Syrakus werden es kaum erlauben, dass du sogleich wieder nach Athen zurückkehrst. Es kann noch eine gute Weile dauern, bis dir diese Bewilligung erteilt wird. Bis dahin bist du aber mein Gastfreund und sollst dieses Haus wie dein Eigenes ansehen.“

      Er wandte sich zum Gehen, drehte sich aber nochmals um und fragte:

      „Oh, entschuldige, in der Freude, dich gefunden zu haben, habe ich ganz vergessen, mich nach deinem Vater zu erkundigen. Wie geht es ihm, und was macht er? Er muss ja auch schon ein recht alter Mann sein.“

      Ich musste ihm leider mitteilen, dass mein Vater bereits vor über zehn Jahren an der damals in Athen grassierenden Pest gestorben war. Er schien echt traurig über den Tod meines Vaters zu sein und erklärte, er würde noch heute seinem Andenken ein Opfer bringen. Dann verliess er mich, nachdem er die Sklavin zu sich gerufen und ihr aufgetragen