Jürg und Susanne Seiler

Der Stempelschneider


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viele andere Kämpfer auch. Es gibt keine Rettung mehr, es läuft auch ein Gerücht über Verrat um. Ich weiss nicht, wie die Athener mit uns verfahren werden. Ich glaube nicht daran, dass sie Milde zeigen werden, auch wenn sie dies jetzt versprechen. Solche Versprechen werden meist gebrochen, sobald die Feinde in der Stadt sind. Sieh zu, dass du dich mit deiner Mutter verstecken kannst. Viel Glück, kleiner Bruder!“

      Und schon eilte er wieder auf seinen Posten. Wir rannten durch die verwinkelten Gassen nach Hause, um die Familie zu warnen. Als wir atemlos in den Hof stürzten, hatte sich die ganze Familie mit den Sklaven schon dort versammelt. Mein alter Onkel erkundigte sich:

      „Wie sind die Nachrichten.“

      Ich erzählte, was mein Bruder mir anvertraut hatte. Schrecken malte sich auf alle Gesichter, doch mein Onkel blieb ruhig.

      „Wir müssen warten und hoffen,“ erklärte er, und dann erhielt jeder eine Handvoll Oliven und etwas Wasser.

      „Die Vorräte sind bald alle,“ meinte er, „aber wir werden durchhalten.“

      Alle setzten sich nun in eine schattige Ecke, und wieder warteten wir und horchten auf die beängstigenden Geräusche, die uns von allen Seiten erreichten. Nach einer Weile schickte mein Onkel einen Sklaven auf das Dach, er sollte jede Veränderung sofort mitteilen. Ich wollte ihn begleiten, aber der Onkel hielt mich zurück. Der Tag neigte sich dem Abend zu, der Himmel begann blasser zu werden und sich rosa zu verfärben.

      Dann, ganz plötzlich, erhob sich mein Onkel und horchte.

      „Hört ihr das?“ fragte er.

      Verwundert erhoben wir uns alle ebenso. Die Geräusche der Schlacht, an die wir uns seit Tagen gewöhnt hatten, veränderten sich, die rauen Kämpferstimmen hatten einen anderen, triumphierenden, Ton angenommen, dazu drang das gellende Geschrei von Frauen, vielen Frauen, zu uns, lauter und lauter wurde es, näher und näher kam es, und die Angst, unser ständiger Begleiter der letzten Tage, schickte kalte Schauer über uns. Das letzte noch so kleine Stücklein Hoffnung, das wir gehegt hatten, schmolz dahin wie die seltenen Schneeflocken, mit denen ab und zu ein strenger Winter für ein paar Stunden unsere Stadt verzaubert hatte.

      „Der Kampf ist vorbei, mögen die Athener milde mit uns verfahren,“ rief mein Onkel und kniete vor unserem Hausaltar nieder.

      Wir blieben unschlüssig im Hof stehen. Hatte der alte Onkel Recht, wurde wirklich nicht mehr gekämpft?

      „Siehst du etwas,“ rief ich dem Sklaven auf dem Dach zu.

      „Ja,“ rief er zurück, „da draussen laufen Leute.“

      Ich öffnete das Tor. Da eilten ein paar Bürger aus der nächsten Gasse auf uns zu und riefen:

      „Die Tore sind offen, sie haben die Stadt den Athenern übergeben, lauft, so schnell ihr könnt, den Athenern ist nicht zu trauen.“

      Ich rannte zurück in den Hof und überbrachte die schlechte Nachricht. Mein Onkel sagte ganz ruhig.

      „Ich werde das Haus den neuen Herren übergeben. Ich bin ein alter Mann, was immer geschieht, ich habe ein gutes und langes Leben genossen.“

      Meine Mutter wurde bleich, sagte dann aber gefasst:

      „Versteckt euch, so gut es geht! Ich glaube nicht an die Milde der Athener.“ Sie umarmte mich und wisperte: „Rette dich, mein Sohn, vielleicht gelingt es dir, zu fliehen, versuch es, ich weiss nicht, welches Schicksal dir sonst auferlegt wird!“

      Dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück und schickte die Sklavin weg. Wir alle wussten, dass sie sich umbringen würde, denn mit der Frau eines Anführers pflegten die Sieger nie nachsichtig umzugehen. Der Onkel pflanzte sich mit ein paar Sklaven neben dem Hauseingang auf. Ich hingegen beschloss, mich nicht auf Gedeih und Verderb den Athenern auszuliefern und suchte nun zuerst nach einem guten Versteck. Bald wurde klar, dass dies ein schwieriges Unterfangen war. Sollten wir auf das Dach klettern? Die aufsteigenden Rauchsäulen in der Stadt zeigten uns, dass da und dort schon Häuser in Brand gesteckt worden waren, keine gute Idee also. Im Vorratsraum? Dort suchten sie sicher ohnehin nach Wein, auch nicht besser. Blieb also nur noch die Flucht. Aber wohin? In den Gassen hörte man von allen Seiten das Geheul der Krieger, sie waren schon überall.

      Mein Sklave und ich kletterten nun auf das Dach und hofften, ein paar Gassen zu erspähen, die noch nicht geplündert wurden. Das sah nun allerdings schlecht aus, Rauchsäulen stiegen auf allen Seiten auf, überall Schreie und verzweifelte Hilferufe. Aber aufgeben kam nicht in Frage. Wir kletterten durch das kleine Fenster auf der Rückseite des Hauses, dann über die Mauer in den nächsten Hof, der alte riesige Feigenbaum half uns über die nächste Gasse und bald befanden wir uns in einer etwas ruhigeren Gegend. Hier waren die Häuser klein und schäbig, keine Vorhöfe luden zum Verweilen, keine Feigenbäume spendeten den ersehnten Schatten. Bei den meisten Häusern standen die Haustüren weit offen, die Bewohner hatten wohl das Heil in der Flucht gesucht. Das war ja gar nicht so schlecht für uns, wir konnten uns jederzeit in einem leerstehenden Gebäude verstecken. Dies war bald auch schon nötig, der Lärm kam näher und weit vorne blitzten blanke Schwerter. Rasch stürzten wir in ein Haus hinein und suchten nach einem Versteck. Im Raum selbst war nichts zu finden, das mehr als einem Hasen Deckung bieten konnte, und der Lärm kam immer näher. Schon hörten wir Stimmen aus dem Nachbarhaus, wir waren verloren.

      „Der Dachbalken!“ wisperte mein Sklave, und so schnell wir konnten kletterten wir hinauf und legten uns flach auf den grössten Dachbalken. Würden sie uns trotzdem sehen? Schon trat ein grosser schmutziger Krieger mit einem vernarbten Gesicht in den Raum und sah sich um. Wir hielten den Atem an und lagen starr auf dem Balken. Ein zweiter Krieger trat ein, warf den Tisch um, schaute in den Kochtopf und fand:

      „Die hausen wie die Schweine, da ist nichts, vergiss es, wir suchen ein nobleres Haus, da wird es doch wenigstens Wein haben!“

      Daraufhin verliessen beide das Haus. Der Narbige drehte sich unter der Türe nochmals um, schaute in alle Ecken und sagte:

      „Wo sind bloss all die Leute hin?“

      „Vielleicht schon verhungert,“ brummte der andere, „komm, ist doch nicht wichtig, wir wollen Beute!“ Und weg waren sie.

      Erst nach einer Weile wagten wir es, vom Dachbalken herunter zu steigen. In der Gasse war es unterdessen ruhig, wir flohen weiter immer Richtung Osten, wo wir das kleine Ausfalltor wussten. Wir hofften, dass die Kämpfer sich nun in den Quartieren mit den grösseren Häusern aufhalten würden. Mein Herz wurde zu Stein bei dem Gedanken, denn dort wartete ja mein greiser Onkel. Weiter eilten wir, bei jedem Geräusch warfen wir uns in eine dunkle Ecke oder in ein leerstehendes Haus, aber wir kamen gut voran. Weit konnte es bis zum kleinen Tor nicht mehr sein, zudem wurde es langsam dunkel und dies konnte uns ja nur nützen.

      Gelang es uns, die Stadt zu verlassen, konnten wir uns durch die Olivenhaine davonmachen, jedenfalls war dies mein Plan. Weiterhin hielten die Götter eine schützende Hand über uns. Einmal entwischten wir um Haaresbreite einer Truppe Soldaten, indem wir uns in einem dichten Gestrüpp versteckten und uns still hielten, obschon die Dornen uns rundherum zerkratzten.

      Aber dann war es vorbei mit unserer Glückssträhne. Um eine Ecke herum liefen wir ein paar Athenern direkt in die Arme. Wir versuchten wegzurennen, aber auf der anderen Seite tauchten weitere Kämpfer auf. Der Anführer packte mich und begutachtete mich wie ein Huhn auf dem Markt. Dann fand er:

      „Netter Junge und gut gekleidet, sicher der Sohn eines Aristokraten, vielleicht kann er sogar lesen und schreiben.“

      Da wurde ich zornig und schrie: „Natürlich kann ich das, ich bin auch ein guter Läufer und Kämpfer, denkt ihr, wir Leute aus Melos können nur Oliven pflücken?“

      Der Anführer der Athener lachte: „Der Bengel ist gut, frech wie ein Spatz, noch nicht ganz trocken hinter den Ohren, aber den kann man sicher noch brauchen. Lasst ihn leben! Wir können ihn als Sklaven verkaufen, der wird viel Geld bringen. Fesselt ihn und bringt ihn zu den Schiffen.“

      Zusammen mit meinem Sklaven brachten sie mich zum Hafen, und ich merkte plötzlich, dass wir nun gleich gestellt waren: Wir beide