Jürg und Susanne Seiler

Der Stempelschneider


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sah ich nie mehr wieder. Später, viel später, erfuhr ich von einem Händler, dass sie sich selbst umgebracht hatte. Damit war von meiner Familie niemand mehr am Leben, und das war der Anfang meines Sklavendaseins.

      Eng zusammengepfercht mit vielen anderen wurde ich nach Athen gebracht und auf dem Sklavenmarkt verkauft. Ich dachte, weil ich aus einer höheren Familie stammte und eine gute Ausbildung genossen hatte, würde ich doch sicher als Hauslehrer bei einem vornehmen Bürger landen und war dann sehr enttäuscht, dass mich nur ein Handwerker, der nicht einmal Bürger Athens war, kaufte. Erst später merkte ich, dass mir das Glück auch in meiner schlimmen Lage noch hold war. Ich hätte auch in den Silberminen von Laurion landen können, und dieses Schicksal war das Schlimmste, was einem Sklaven passieren konnte, denn von dort kam nie jemand zurück. Auch im Haushalt eines Aristokraten sind die Sklaven oft ständig in Angst, denn eine schlechte Laune des Herrn oder auch nur eine kleine Nachlässigkeit kann schlimme Folgen haben, die Strafen reichen von Schlägen bis zum Verkauf an die Silberminen.

      Da ist das Leben im meinem Haushalt doch sicherer, mein Herr ist milde, die Frau des Hauses, die nicht nur zurückgezogen in ihren Gemächern lebt, sondern überall im Hause zu sehen ist, eine sanfte Schönheit, und Phoebe, die kleine Tochter, verspricht noch schöner und liebenswerter zu werden. Auch mein Schützling Nikodemos, den alle nur Niko nennen, erweist sich meist als umgänglicher Junge, wenn er mich auch in letzter Zeit oft in Angst und Schrecken versetzt. Denn immer wieder gelingt es ihm, sich meiner Aufsicht zu entziehen. Er ist ein ausgezeichneter Läufer und kann so blitzschnell einen Moment der Unaufmerksamkeit ausnützen und sich richtiggehend in Luft auflösen. Ich konnte bisher wenig dagegen tun. Sollte ich mich bei meinem Meister beklagen? Keine gute Idee. Es ist meine Pflicht, ihn nicht aus den Augen zu lassen, verschwindet er also, bin ich nachlässig, und man wird mich bestrafen. Also sagte ich dem Meister nichts, ich versuchte zwar mit Niko zu sprechen, erfuhr aber nie, was er auf seinen Ausflügen machte. Nichts Gutes, sagte mir mein Gefühl, und die späteren Ereignisse sollten mir Recht geben.

      Meine Stellung im Haushalt hat sich über die Jahre auch sehr verbessert. Ich bin der eigentliche Hausmeister und der Herr vertraut mir in allen Belangen. Sein Geschäft beansprucht ihn voll und ganz, er konzentriert sich auf das Herstellen seiner Stempel und Siegel und das Anfertigen von Schmuck für die reichen Damen. Bei allen Belangen des Haushalts pflegt er zu sagen:

      „Fragt Panos, er weiss was zu tun ist.“

      Habe ich mich nun mit meinem Sklavendasein abgefunden? Nein, es geht mir zwar gut, aber der Wunsch nach Freiheit ist trotzdem da, er wächst und nagt an mir. Eines Tages werde ich wieder ein freier Mann sein, vielleicht arm, aber frei, das habe ich mir geschworen und irgendwann wird sich eine Gelegenheit bieten, diesen Wunsch umzusetzen. In meinen Träumen segelte ich oft auf einem stolzen Schiff zurück nach Melos, betrat den geliebten Boden, suchte nach übrig gebliebenen Verwandten und Bekannten. Eine Stimme tief unten wisperte dann zwar: da ist niemand mehr, vergiss es, die jüngeren Leute sind alle ermordet oder verschleppt und die alten Leute sind unterdessen alle tot, was willst du dort, du wirst enttäuscht sein! Dennoch hat dieser Traum mich gestärkt bis zum Tage, an dem ich auf dem Markt einen Mann sah, der mir bekannt schien. Ich näherte mich ihm, er drehte sich um, betrachtete mich lange, und dann breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus.

      „Panos!“ rief er, „bist du es wirklich?“

      Jetzt erkannte ich ihn auch, es war Lysias, ein Mitschüler aus dem Gymnasium von Melos. Wir fielen uns in die Arme und boten in unserer Freude wohl ein ziemliches Spektakel.

      Auch Lysias war als Gefangener nach Athen gekommen und gehörte jetzt als Sklave zum Haushalt des Kritias. Er hatte auch Nachrichten aus Melos, und die zerstörten alle meine Träume. Was meine kleine Stimme immer gewispert hatte, war wahr. Die Athener herrschten mit eiserner Hand, fast alle Einwohner von Melos waren ermordet oder verschleppt worden, und die Besitztümer waren unter athenischen Siedlern verteilt worden. Einzig ein paar Schafhirten und alte Bauern auf den Hügeln waren übrig geblieben und unterdessen wohl auch schon tot.

      „Wir können nicht nach Melos zurück,“ seufzte er, „wir müssen auf andere Weise unser Geschick verbessern.“

      Das war das Ende des Traums mit meiner Rückkehr nach Melos, aber mein Los verbessern, das will ich immer noch! Die Worte meines Fechtlehrers sind in mein Gedächtnis eingegraben: Geduld! Geduld führt mehr Kämpfe zum Sieg als Geschick. Ich werde meinen Weg in die Freiheit finden, bis dahin übe ich mich in Geduld.

      Jetzt aber heisst es, die Vorbereitungen für das grosse Fest der Hauseinweihung in Angriff zu nehmen. Nur selten wird einem Nicht-Bürger das Recht erteilt, Grundbesitz zu erwerben. Meinem Meister, dem Stempelschneider, war diese hohe Ehre zuteil geworden. Theramenes, der Schutzherr meines Herrn, war so begeistert von seiner ausserordentlich guten Arbeit und der Hilfe in einer schwierigen Zeit, dass er für ihn die Erlaubnis erwirkte, ein Haus zu kaufen. Und dieses Haus wird nun, mit Theramenes als Ehrengast, eingeweiht.

      Ich hole den Thraker, seine Aufgaben sind die niedrigen Arbeiten im Haus. Er hat keinen Namen, er spricht auch kaum griechisch, seine Geschichte kenne ich nicht, er ist irgendwie als Sklave hierher gekommen. Ich befehle ihm, den Hof zu säubern, die Veranda zu trocknen und dies alles besser denn je; ich mache ihm klar, dass heute die kleinste Nachlässigkeit schlimme Folgen haben wird.

      Dann eile ich zu Niko, meinem Schützling, der immer noch in seinen Träumen verfangen ist.

      „Aufstehen,“ rufe ich, „die Arbeit ruft, wir wollen auf den Hügeln die frischesten und schönsten Ranken holen, damit die Frauen nachher Blumenkränze herstellen und alles schmücken können!“

      Niko reibt sich die Augen, dann zeigen sich zornige Falten auf seiner Stirn:

      „Du wagst es, mich zu wecken? Du wagst es, von mir zu verlangen, zu den Hügeln zu laufen!“

      „Falsch,“ antwortete ich, „nicht ich bin es, der dich weckt und dorthin schickt, es ist dein Vater, und du willst doch sicher seine Wünsche erfüllen. Ausserdem bist du zwar der beste Läufer, aber auch der braucht täglich Training, sei also froh, dass du die Gelegenheit, deine Laufkunst zu üben, bekommst.“

      Die Falten auf Nikos Gesicht glätten sich, er springt auf.

      „Gut, rennen wir, wer ist schneller auf dem Hügel der Musen?“

      Beim Wasserbecken im Hof kühlen wir uns noch etwas ab und los geht es.

      Bald stehen unsere Körbe mit Blätterranken im Hof. Nun fehlen nur noch die Blumen. Da drückt mein Herr mir ein paar Münzen in die Hand:

      „Geh zum Markt, kauf Blumen und die frischesten und süssesten Trauben und Feigen!“

      Die Münzen sind sehr kostbar aber auch sehr klein und können leicht verloren gehen, also stecke ich sie in meine Backen, da sind sie sicher und renne los. Der Markt ist der Platz in Athen, den ich besonders liebe. Das Durcheinander von Farben, Gerüchen, Waren von überall her, Menschen, die alle möglichen Sprachen sprechen. Ich liebe diesen Platz und begutachte jetzt die verschiedenen Stände. Da sind Trauben, aber sind sie nicht etwas klein?

      „Schau mal meine Feigen,“ ruft mir ein Händler zu, „das sind die grössten weit und breit.“

      Ich betrachte die Früchte und lache den Händler aus.

      „Gross? Diese Feigen sind Winzlinge, geeignet für Kleinkinder!“

      Der Händler ist nicht beleidigt, zeigt mir dafür seine Trauben und wirklich, die sind gross und schön. Aber sind sie auch süss?

      „Süss? Du hast in deinem ganzen Leben noch nie so süsse Trauben gegessen, glaub mir, soll ich dir welche einpacken?“

      „Kann ich sie erst probieren?“

      „Nun ja, wenn es sein muss, iss mir aber nicht meinen ganzen Vorrat weg!“

      Da ist nun wirklich keine Gefahr. Bei der ersten Traubenbeere zieht sich mein Inneres zusammen. Brr! Ich schüttle mich.

      „Du hast die Trauben zu früh geerntet! Geduld mein Lieber!“

      Bald aber ist es mir gelungen, einen