Norbert Johannes Prenner

Wir sind Unikate, Mann


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an den Vormittagen, denn gegen Mittag verabschiedete sich die Sonne stets hinter dem hohen First des Vis-avis-Hauses und breitete ihre Schatten behutsam erst über den Teppich, dann über den Esstisch und den roten Samtfauteuil aus, von wo aus sie langsam bis hin zur Vorzimmertür krochen und den sonst so hellen Raum in Augen schonendem Rosa zurückließen, reflektierten doch vorwiegend die Rottöne der Überwurfdecke der Couch wie auch der roten Gardinen ihren Teint an die weißen Wände, ebenso wie an die Stuckdecke.

      Arno liebte diese Lichtspiele ganz besonders an den im April und Mai häufiger werdenden Sonnentagen und er konnte sich nicht daran satt sehen, ja, es kam sogar manchmal vor, dass er gerade wegen dieser Spiele seine Aufmerksamkeit beim Lesen verloren hatte und sich dabei ertappte, wie seine Augen bloß den Sonnenstrahlen folgten, ähnlich wie die dünnen Ästchen des Benjamins, und auch er streckte sich dann und hob die Arme empor, die ihm vom Halten der Lektüre oft schon zu ermüden begonnen hatten, um gleich danach wieder den Zeilen jener Stelle des Textes zu folgen, den er vor sich auf den Oberschenkeln aufgebreitet hatte. Das Vorzimmer hingegen war in Dunkel gehüllt, vom engen Lichthof gegen die Sonnenflut abgeschottet, beinahe düster im Gegensatz zum glänzenden wohnzimmerlichen Überschwang und barg zwei große Wandschränke unter ihrem rundbogenartigen Deckengemäuer, in denen Arnos Garderobe ausreichend Platz fand, denen aber im Laufe der Zeit auch die Aufgabe zuteil geworden war, intimste Geheimnisse vor den Blicken allzu Neugieriger hinter wohl verschlossenen Türen zu beherbergen, wie etwa einige lichtempfindliche Whiskeysorten oder den Familienschmuck, der besser in einem Safe aufgehoben worden wäre.

      Jedoch in diesem Punkt war Arno seit je her zu wenig umsichtig gewesen, trotzdem aber, bis zum heutigen Tag, vor unliebsamen Überraschungen verschont geblieben. Arno, kaum sonderlich am Leben anderer interessiert, als ausschließlich an seinem eigenen, er, der stets in der Kompliziertheit seiner nicht enden wollenden Gedankenwelten verstrickt schien, hatte in erster Linie ein Verhältnis zu Büchern, und dann noch eines mit Constance Jäger, und er liebte Constance Jäger, Übersetzerin, vierunddreißig, mittelblond, und bildhübsch, ein Tatbestand, der auf Gegenseitigkeit beruhte, von Anfang an, wie er glaubte. Liebe auf den ersten Blick, könnte man sagen.

      Constance war für ihn - das Leben, zu dem er selber nicht, es ohne sie zu leben, imstande gewesen wäre. Hätte ihn der griechische Dichter Nikos Katzantsakis gekannt, würde er vielleicht Kopf schüttelnd über ihn gesagt haben: „Verstehe, zu viele Bücher!“, und hätte vielleicht gelächelt. Für Arno wäre das kein Grund zur Heiterkeit gewesen, denn Bücher waren nun einmal sein Lebensinhalt, waren für ihn das Salz des Lebens. Constance Jäger hingegen war ihm die Wonne, die sein Dasein versüßte, mit ihrem Lächeln, mit ihren wundervollen schmalen Hüften, der weichen, samtigen Haut, ihren warmen, vollen Lippen, die sie beim Küssen um die seinen, schmäleren, zu stülpen pflegte, als wollte sie ihn aufessen, ihn in sich aufsaugen, ganz, mit Haut und Haaren.

      Und Arno ließ es geschehen, willenlos, ekstatisch, bis zur Erschöpfung, aus kürzester Distanz, wie bei einem Duell. Er pflegte, unter ihr und mit ihr aus Leidenschaft zu sterben. Tausende Male schon! Und er würde es noch tausende Male wollen. Constance war um Einiges jünger als er und seit längerem verreist. Seit Wochen schon wartete er mit Sehnsucht auf ihre Rückkehr aus Paris.

      Kapitel 4

       Vom Anspruch an die Welt da draußen

      Arno hatte sich damit abgefunden, dass er von Zeit zu Zeit auf Constances Anwesenheit verzichten musste, weil sie oftmals beruflich im Ausland zu tun hatte. Er hatte sich in seinem langen Leben auch damit abgefunden, dass die Dinge einfach geschahen und die Welt ihren Lauf nahm, und dass darüber geschrieben wurde. Somit schien diese Welt für Dichter geradezu geschaffen.

      Alles, dachte Arno, ist Material für sie, und sei es noch so tief, oder so trivial, so tragisch oder eben komisch. Es wäre alles nur eine Frage des ästhetischen Momentes, oder einer gewissen Lehrhaftigkeit seiner Pragmatik. Thema war alles und die Zeiten der Eingrenzung positivistischen Kerkertums ein für alle Mal vorbei. Die Umsetzung der Stoffe unterlag keinen Zwängen mehr, moralisierend zu sein, oder allzu logisch, zu rational, nein, es war möglich, über alles zu schreiben, ob das über gebrauchte Tampons war oder über angebrannte Milch, und es wurde gedruckt, egal, ob es sich auch verkaufen ließ. Auf den Versuch käme es schließlich an und Arno hatte Constance oftmals über die Schultern geblickt, um zu sehen, was sie denn gerade übersetzte und hatte aufgehört, sich zu wundern, was er an Texten zu lesen bekam.

      Manchmal kam ihm in den Sinn, ob es nicht so etwas wie eine vergleichbare Anatomie der Dichtung geben könnte, und ob sich daran eine Technologie ihrer Disziplinen ablesen ließe, denn im Großen und Ganzen kam ihm alles so vor, als handle es sich dabei bloß um den Versuch einer Vereinfachung der Darstellung unübersehbarer komplexer Wirklichkeiten durch Abstraktion. Jedoch, bei genauerer Überlegung meinte er, dass man ja doch nur eine Art literarisch geografische Tabulatur erstellen würde, im schlechtesten Fall mit chronologisch aneinander gereihten, uninteressanten Scheußlichkeiten unterschiedlicher Einzelschicksalhaftigkeiten. Trotzdem könnte man dabei vielleicht lediglich nur eine genetische Richtung verfolgen, vielleicht mit dem Ziel, die organische Entwicklung der Thematik zu beobachten, auf der Suche nach dem tatsächlichen biologisch literarischen Leben?

      Der Mensch, dachte Arno, ist schon ein undurchsichtiges, unberechenbares Geschöpf, und gefährlich, mit Waffen ausgerüstet, mechanischen, geistigen, ein Wesen, welches sein letztes Geheimnis nicht verrät, rätselhaft, nicht kalkulierbar, und wenn er es gern sein möchte, dann ist er es immer mit Vorbehalt. Keiner kennt sich so gut, als dass man sich selber nicht immer wieder zu überraschen imstande wäre. Ein Mensch gebiert immer nur einen Menschen, einen noch nie da gewesenen, glauben wir, ein Individuum, nicht so wie beim Rind, das eben bloß irgendein Vieh ist, für den Acker bestimmt, oder zum Verzehr. Wir sind Unikate, Mann, dachte Arno, und darum machen wir so viel aufheben um uns, nehmen uns so wichtig, weil wir so einzigartig sind.

      Jeder von uns ist eben anders. Aber es gibt auch scheckige Kühe, helle, dunkle, schwarze und so weiter. Wir aber denken unterschiedlich, sprechen unterschiedlich, und bilden uns ein, die Vielfalt der Originalitäten darzustellen. Wir schreiben auch unterschiedlich, wenn wir nicht gerade von einander abschreiben, und einiges davon gilt als Literatur. Anderes wiederum nicht, weil es dem Zeitgeist nicht entspricht, oder dem Normativen, oder dem Spekulativen. Arno dachte an Constance und an die Stapel Manuskripte auf ihrem Schreibtisch. Unveröffentlichtes, ungelesen, nicht eingereiht in den Kanon der Erwartungshaltungen. Das Gegenwärtige verlangt stets nach dem Neuen, danach, was wirksam ist, Wert messend ist, und je gewaltiger es ist, verschlüsselter, oder vulgärer, desto zeitgemäßer ist es.

      Aber um seine Wirkung zu testen, muss es allerdings erst gelesen und verstanden werden und – es sollte möglichst vielen gefallen, denn schließlich ist es ein Geschäft, das, mit den Büchern, wenn auch kein so bedeutendes wie jenes mit dem Öl. Das Merkwürdige dabei ist, dass sich so viele an der Beurteilung beteiligen, die interpretieren, beschönigen, kritisieren, verleumden, ohne selbst auch nur eine einzige Zeile versucht zu haben, flüsterte Arno halblaut vor sich hin, was wird hier nicht alles verfälscht und umgelogen! Und er schüttelte nachdenklich den Kopf. Ist es erst einmal niedergeschrieben, hat man eine tote Quelle vor sich, und findet sich nichts Neues, wird sie ganz einfach uminterpretiert. Basta! Arno ließ von Constances Manuskriptstapel ab um es dem Besuch, der sich seit Längerem schon angesagt hatte, so bequem wie möglich zu machen und er hatte eingekauft.

      Wurstaufschnitt, Kaffee, etwas Obsttorte, Cognac und einen schwereren französischen Rotwein. Professor Wasner war ein Feinschmecker und schwer zufrieden zu stellen, wenn es um’s Essen ging, auch dann, wenn es sich bloß um eine Kaffeejause handelte, und es blieb selten bei einer solchen, denn danach kam der Appetit, und Professor Wasner hatte immer Appetit, und dann wurde also die Wurst gereicht und was sonst noch so da war, und schließlich wurde der Rotwein aufgemacht, nachdem Wasner immer umständlich darauf zu verweisen pflegte, um Gottes Willen, machen Sie den nicht wegen mir auf, das kennt man ja schon, überdies wollte Arno selbst einen Schluck trinken, und dann gab’s immer noch ein Schlückchen Schärferes und so weiter und es wurde geredet, solange, bis man sich wieder einmal in ein Thema verbissen hatte, wobei es meistens bis gegen Mitternacht ging.

      Jedenfalls