Urs Rauscher

Die Zweitreisenden


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rechte davon wurden sie nach kurzem Klopfen eingelassen. Die beiden Soldaten gaben sie bei zwei weiteren Soldaten ab, die sie in die Mitte des Raumes bugsierten. Hier roch es nach Tabakrauch, Schweiß und Rotwein. Vor ihnen, an einem Holztisch mit Schnitzereien, saß ein äußerst dicker Mann. Seine Haare waren mit Pomade nach hinten gelegt, sein kurzer Bart wurde durch ein Doppelkinn gestaucht, Hemd und Überhemd drohten zu platzen. Trotz der Hitze trug er eine Art Umhang, der über die Rückenlehne geschlagen war. Darüber schnürte eine lächerliche Halskrause seine Atmung ab. Neben ihm stand ein dünner Mann mit Gänsekiel und Schreibpult, der trotz der Temperatur ohne Unterlass zitterte. Auf der anderen Seite thronte auf einem Schemel ein Mönch mit weitem Krempenhut, tiefen Augenhöhlen und einem Strichmund. Seine Hände hielt er gefaltet. Sein Alter war unbestimmbar.

      Das Buntglas in den eisernen Rahmen warf Blasen. Hindurch drang schummriges Licht in das Innere der freudlosen Einrichtung.

      Die beiden Soldaten wiederholten in schmatzendem, zischendem Kauderwelsch, was die Soldaten von unten ihnen erklärt hatten. Der dicke Mann hörte mit über den Tisch gebeugtem Kopf zu, nickte, brummte, räusperte sich. Die beiden anderen blieben regungslos.

      Für die beiden Freunde war unklar, von wem der Mundgeruch ausging, der sie von vorne anwehte. Er war jeder der Gestalten zuzutrauen. Benjamin tippte wegen der Würze auf den Dicken, Martin wegen der Säure auf den Schreiberling. Doch letztlich dachten beide: Der Stinker ist meistens der Mönch.

      Allesamt begutachteten sie die zwei jungen Männer in ihrer weißen Kleidung und den bisher ungesehenen Schuhen.

      Die zwei Soldaten befingerten die Freunde von hinten und deuteten eine Verbeugung an. Als sie nicht darauf reagierten, beugten sie gleichzeitig die Oberkörper der beiden nach vorne. Dabei sagten sie stramm: „U Wisserey. Fransischku Dagama.“

      „Hi“, sagte Martin. Benjamin trat ihn gegen das Schienbein.

      Der Dicke ließ sich zu einer Anrede herab. „Woseesch wiram direytament de Purtugau? Ou sao Purtugesesch do Territoriu Indiu?“

      „Ferengi“, sagten sie einstimmig.

      Martin meinte, auf den Lippen des Mönches den Hauch eines unterdrückten Lächelns erkannt zu haben. Benjamins Beachtung fand mit knappem Vorsprung der Dicke. Der lachte dröhnend.

      Der Mann hatte faulige Zähne. Er winkte die zwei Vogelscheuchen zu sich und die drei berieten sich. Mit einer zackigen Handbewegung scheuchte er sie wieder an ihre Plätze.

      Der dicke Mann sagte etwas.

      Benjamin hielt es für Spanisch.

      Martin für Französisch.

      Der dicke Mann mit den faulen Schneidezähnen sprach mit dem Mönch. Dieser nickte wortlos und verschwand aus dem Zimmer.

      Während sie auf den Gottesmann warteten, nahm der Hauptkommissar oder König oder Hochstapler nochmal einen Anlauf zur Klärung: „Hunc sunt viri italiensis iteam francencis?“

      Latein, dachte Benjamin. Jetzt ist alles verloren. Wegen Latein hätte ich beinahe mein Geschichtsstudium nicht beendet.

      Latein, dachte Martin. Das ist unser Ende. Warum war Platon denn kein Römer?

      Die Sprache der Römer, dachte Benjamin. Ist für mich schon eine tote Sprache. Und ich spiele ungern mit Leichen.

      Die Sprache des antiken Roms, dachte Martin, ist auch in unserer Zeit nicht vollständig tot, diese Halbleiche wird noch defibrilliert von einigen Lehrern, Medizinern und Wahnsinnigen.

      „Aphton die pleiaton virein dochletias?“, hoffte Martin durch letzten Einsatz auf die Universalbildung dieses vollbärtigen Vollbarbaren.

      Benjamin sah seinen Freund an wie einen Zeitreisenden.

      Der Faulzahnige wies den ausgemergelten Schreiber an, etwas zu Papier zu bringen. Der schrieb schweißgebadet.

      Schließlich reichte er den Beiden das Schriftstück. Darauf waren Zeichen, die die beiden Freunde noch nie gesehen hatten.

      Sie schüttelten mit dem Kopf.

      Der Faulzahnige wies die Soldaten an, den Schreiber zu entfernen. Unter Protestgeschrei wurde dieser durch die Türe geschoben.

      Der Faulzahnige sah die Beiden entschuldigend an. Er zuckte mit den Schultern. Je länger die Sache dauerte, desto größer schien der ihnen gezollte Respekt zu werden

      Trotzdem entschloss sich Benjamin, die Angelegenheit abzukürzen. „Wir sind Deutsche. Almanya. Deutschland. Germany.“

      Im Gesicht des Dicken regte sich ein Anzeichen von Durchblick. Er hatte den Mund geöffnet und die Zunge auf die Lippen gelegt. Die Halskrause schien ihn etwas zu stören.

      Der Mönch ließ sich Zeit. Dafür nahm ein neuer Schreiber seinen Platz ein. Der hatte noch weniger Nahrung gekriegt. Benjamin wollte ihm ein Mars geben, fand aber nur das Koks in der Hosentasche.

      Dann besann sich Benjamin auf etwas Neues. Er würde seine Sprache in der Zeit reisen lassen. Zum Spaß hatte er auf Wikipedia Mittelhochdeutsch gegoogelt. Dort hatte er einen Vers wiedererkannt, der ihm einst vorgetragen worden war. Den gab er nun zum Besten:

      „Es wous in Bourgonden viel edel Maghedin.“

      Das Gesicht des faulzahnigen Bartträgers hellte sich auf. Er sagte etwas zum Schreiber, der daraufhin ein paar Zeilen kritzelte.

      Von draußen drang das Schnalzen eines Peitschenriemens und die Schmerzlaute eines Mannes. Der Schreiber begann zu zittern.

      Dann wurde ihnen das Werk in krakeliger Schrift gereicht. Darauf stand: Francisco da Gama. Vicerei e governador do Estado da Ìndia. Reino de Portugal.

      Es war, als hätten sie den Stein von Rosette entschlüsselt. Sie befanden sich wohl doch in Indien. Diese wirren Leute waren Portugiesen. Aber das Interessanteste für den Historiker Benjamin: Dieser Mann behauptete, ein Entdecker zu sein. Mit einem Fehler im Detail. Wie bei allen Hochstaplern.

      Benjamin fuchtelte wie ein Besserwisser mit dem Zeigefinger. „Vasco da Gama“, korrigierte er. „No Francisco da Gama.“

      Der dicke Mann sah ihn unschlüssig an und kaute auf seinen Zähnen herum. Dann blickte er beleidigt drein.

      Ich habe einen Fehler gemacht, dachte Benjamin. Ich hätte an seinem Bein vorbeipinkeln sollen.

      Ich hab einen Mega-Hunger, dachte Martin. Hoffentlich kriegen wir vor der Hinrichtung noch was zu Essen.

      Der Schreiber zitterte noch immer. Ängstlich schielte er zu seinem Übergebenen. Benjamin bot ihm zum Trost Koks an. Aus standesgemäßer Bescheidenheit musste er jedoch ablehnen.

      Der Chef winkte Benjamin her und ließ sich das Zeug zeigen. Dann bat er seinen Gast, die Köstlichkeit anzurichten. Als er jedoch eine Line vor sich liegen hatten, fuhr er die Zunge aus, um sie aufzulecken. Benjamin konnte sich gerade noch dazwischen stürzen und ihm zeigen, wie man das kostbare Pulver zu sich nahm.

      Der Faulzahnige schien Erfahrung im Schnupfen von Tabak zu haben, denn der machte die Line ratzeputz weg. Er ließ ein zufriedenes Zischen vernehmen und bleckte die Zähne. Danach blickte er sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Kopf war hochrot. Sekunden später bedachte er Benjamin mit einem Blick wie der Papst den Messias.

      Der Mönch kam zurück. In der einen Hand trug er eine goldverzierte Bibel, mit dem Zeigefinger der anderen klopfte er wiederholt auf den Ledereinband.

      Die beiden Freunde wurden an den Tisch gebeten und der Mönch schlug den Ziegelstein von Buch auf. Die Heilige Schrift war zweifellos in Latein abgefasst. Dass sie kein Latein konnten, war nicht das größte Problem. Das größte Problem war, dass sie keinen Schimmer vom Inhalt dieser sakralen Schrift hatten. Als Kinder hatten sie immer den Disney Club angeschaut und als Erwachsene hatten sie bereits Pro Evolution Soccer für sich entdeckt. Dazwischen hatten sie hauptsächlich elektronische Medien konsumiert. Die Bibel war da eindeutig zu kurz gekommen.

      Sie hatten keinerlei Möglichkeit, Analogien zu