Urs Rauscher

Die Zweitreisenden


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mit sich führte. Man kannte sich hier mit Piraten aus.

      Was wohl Nick und Mike gerade machen, fragte sich Martin.

      Nick und Mike verpassen was. Zu dumm für sie, dass sie die Maschine gerade zerstören. Das ist Fluch der Karibik in echt.

      Zu ihrer Linken erschien die Mündung eines weiteren kleineren Flusses, aber sie folgten dem Hauptstrom.

      Die Luft wurde immer dicker, schwüler. Neben der brennenden Hitze der Sonne, machte ihnen nun auch die Luft selbst zu schaffen. Doch das Wasserschaufeln half ihnen dagegen kaum noch. Das Flusswasser war warm und brackig. Schließlich rührten sie es gar nicht mehr an.

      Längst war das Schiff außer Reichweite, aber das änderte nichts daran, dass Martin und Benjamin überzeugt davon waren, in das Piratennest gebracht zu werden. Sie würden den Rest ihrer Tage an Bord eines dieser Schiffe verbringen, das harte Leben der Gesetzlosen leben und sich mit leichten Ladies ohne Zähne die Nächte um die Ohren schlagen. Tagsüber hätten sie Pulverdampf in den Nasen und den Geruch von verbranntem Fleisch. Die Geräusche von berstendem Holz, sterbenden Menschen und sich kreuzenden Klingen würden ihnen zur Gewohnheit werden. Sie würden auf Holzbeinen humpeln, nur noch Pökelfleisch und Fisch essen und ungenießbaren Rum trinken.

      Vielleicht gab es kein Leben, das für die beiden ungeeigneter war.

      Vielleicht hätten wir doch am Strand bleiben sollen, kam Martin plötzlich ein Gedanke. Dort wären wir gemütlich verhungert.

      Vielleicht wäre der Rachen eines Hais doch der bessere Ort für mich, erwog Benjamin. Dort wäre ich schneller gestorben.

      Beide stellten sie fest, dass sie in den letzten 24 Stunden eine Reihe von Fehlern gemacht hatten. Sie konnten aber nicht mehr sagen, welcher darunter der größte gewesen war. Nur eines wussten sie mit Gewissheit: Dass der jeweils andere diesen begangen hatte.

      Ein weiteres Mal teilte sich der Strom, der noch immer zehn Piratenschiffe breit sein mochte. Sie nahmen die rechte Abbiegung.

      Die Jungen ihnen gegenüber kannten nun jede Runzel und jede Falte auf ihren Gesichtern, so lange starrten sie sie schon an. Benjamin machte Grimassen, aber sie starrten weiter. Martin redete ihnen freundlich zu, was sie zu bösem Gegacker verleitete. Benjamin gackerte genüsslich mit.

      Noch vor kurzer Zeit hätten sie zu dieser Stunde die Hostessen-Agentur angerufen und sich ein Leckerli aus dem Menü bestellt. Die Zeit des Wartens hätten sie mit Zocken und Schniefen verbracht. Dann wäre irgendwann die Klingel gegangen und drei oder vier blendend aussehende Frauen hätten vor ihnen gestanden. Sie konnten nur hoffen, dass es im Piratennest einigermaßen akzeptablen Ersatz gab.

      Dann erreichten sie das Ziel ihrer kleinen Bootstour. Am rechten Ufer erschienen, direkt in den Urwald hinein gebaut, die ersten Häuser. Sie unterschieden sich stark von den hölzernen Fischerhütten, welche entlang des Stroms anzutreffen waren. Bis auf ein paar schlichte Bauten unmittelbar am Wasser, waren die Behausungen der Piraten zweistöckig und aus weißgetünchtem Stein. Die Dächer bestanden aus roten Ziegeln und die Fenster zumeist aus Glas. Sie reflektierten beim Vorbeifahren in der Sonne.

      Das ganze Ausmaß des Ortes wurde ihnen erst bewusst, als sie mit den Füßen auf Land standen. Über einen kleinen hölzernen Steg waren sie zwischen zwei offenen Handwerkerhäusern auf eine größere Straße gelangt. Dies war kein Dorf, auch kein Piratennest. Es war eine ganze Stadt. Es wimmelte hier nur so vor Menschen.

      „Wo sind wir hier?“, fragte Martin seinen Freund.

      „Nicht bei Piraten“, erwiderte der.

      „Piraten?“, fragte Martin überrascht. „Du meinst Ungarn.“

      „Was du meinst, sind Russen.“

      „Ferengi Purtugesasch“, sprach der Alte und schubste sie vorwärts.

      Die meisten hier waren Eingeborene. Aber man sah auch europäisch aussehende Menschen. Man erkannte sie daran, dass sie allesamt aus der Menge herausragten, weil sie zwei Köpfe größer waren als ihre einheimischen Nachbarn. Und dass sie verwahrloster aussahen.

      „Diese Ferengi Purtugesasch sind mir unheimlich“, flüsterte Martin. Die vier Fischer hatten sie in ihre Mitte genommen und ließen sie nicht aus den Augen.

      „Möchte auch ungern mit ihnen in einen Topf geworfen werden“, meinte Benjamin ebenso leise.

      Sie kamen an einem Markt vorbei, wo Fische, Fleisch und Gemüse feilgeboten wurden. Menschen riefen durcheinander, drängten sich an den Ständen vorbei, gestikulierten. Zwei Männer gerieten in Streit und der eine streckte den anderen mit einem Messer nieder. Leute kamen und brachten den Leichnam fort. Die Geschäfte gingen weiter.

      Die beiden Freunde sahen den Alten an. Der blickte seelenruhig zurück. „Bindi do bandu do“, sagte er.

      Sie wollten die Szene so schnell wie möglich vergessen und richteten den Blick wieder nach vorn. In diesem Gewusel und Gewimmel hatten es ihre Bewacher schwer, sie immer in ihrer Mitte zu halten. Schließlich kamen sie auf eine Art Allee, an der die Häuser herrschaftlicher und höher wurden. An ihrem Ende strahlte das Weiß einer imposanten Kathedrale. Auf ihrem Vorplatz war ebenfalls ein Markt, wo man Stoffe, Tücher, Kleider und Lederwaren erstehen konnte. In diesem Teil der Stadt waren noch mehr Europäer unterwegs. Hier und da und dort staken ihre Köpfe aus der bunten Masse heraus. Die meisten von ihnen schienen Soldaten zu sein, sie hatten glänzende Helme auf und trugen Lederwämse, manche von ihnen schleppten sogar Brustpanzer mit sich herum. Daneben gab es noch Mönche in braunen Roben, deren Tonsuren durch die Sonne zu hellen Tupfern im dunklen Frisureneinerlei wurden.

      Schon wieder Mittelalter, dachte Benjamin entgeistert.

      Mike, der Idiot, dachte Martin. Noch nicht mal die Zeit stimmt.

      Sie bogen in eine Seitengasse ein, in der nur Frauen bei der Arbeit waren. Sie schienen Nüsse und Früchte zu sortieren und schrien dabei maßlos durcheinander. Sie hatten bunte Tücher an.

      Die Frauen hier sind gekleidet wie Inderinnen in der Gegenwart, dachte Martin.

      Wenn ich es nicht besser wüsste, dachte Benjamin. Ich würde diese Leute hier für eine Art Inder mit Wachstumshemmung halten.

      Nun gelangten sie abermals auf eine größere Straße an deren Ende sich eine weitere, bauähnliche Kathedrale befand.

      Diese Leute hier sind keine Hindus. Sie tun nur so, als ob sie Inder wären, sagte sich Benjamin. Ich weiß nicht, was das bringen soll.

      Muslime sind die Ferengi und die Purtugesasch auf jeden Fall schon mal nicht, dachte Martin. Persien ist also ausgeschlossen.

      Sie schienen an ihrem Ziel angelangt zu sein. Es handelte sich um ein graues, schmales Gebäude, vor dem zwei Soldaten Wache hielten. Der Alte ging zu den Männern hin und krächzte etwas auf deren Sprache, was diese zunächst nicht verstanden. Er musste es mehrfach wiederholen. Dabei zeigte er auf die beiden Freunde.

      Dann verstanden ihn die Wachen. Sie kamen direkt auf Martin und Benjamin zu und packten diese an den Schultern. Als diese schon durch die Türe ins Innere des Hauses gebracht werden sollten, begann der Alte zu quengeln und zu jammern. Er hängte sich an einen der Soldaten und versuchte sich wieder in der Fremdsprache. Der Soldat löste sich aus der Umklammerung und warf den Alten zu Boden. Der küsste den Staub und machte ein verzweifeltes Gesicht. Einer der Soldaten nahm einen Beutel, zog Geldstücke heraus und warf sie vor ihn auf den Boden. Alle Fischer stürzten sich auf den Alten.

      „Bindi du bando do“, sagte Benjamin.

      IV.

      Die ganze Stadt hatte auf bestialische Weise gestunken, und so waren sie jetzt froh, dass der Mief im Inneren des Gebäudes ihren Nasen Linderung verschaffte. Im Erdgeschoss saßen in Einheitskleidung gehüllte Männer an Tischen und diskutierten mit Eingeborenen; ausschließlich Männern. Dahinter bildete sich eine schweißdampfende Schlange, und Martin und Benjamin machten widerwillige Gesichter. Über sich durchbiegende Treppenstufen wurden sie jedoch