Urs Rauscher

Die Zweitreisenden


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geöffnet in die Sonne.

      Eine Weile saßen sie nur herum, verfielen in schwere Gedanken oder zerbrachen sich die Köpfe darüber, wie dies hatte passieren können und was sie nun tun sollten, Selbstmord oder Überlebenskampf. Aber das Denken war anstrengend, weil das THC in ihren Köpfen wieder die Oberhand gewann. Spätestens am nächsten Tag würde seine Wirkung jedoch nachlassen und in drei Nächten würden sie wieder träumen. Sie ängstigten sich schon jetzt davor.

      Tagträumend sann Martin über dies und das nach. Das Meer glänzte in der Sonne. Eine feine Gischt bewegte sich in Schlangenlinien über die Oberfläche und rollte anschließend zurück, nur um mit dem Spiel erneut zu beginnen. Die Wellen zerschlugen am Strand, flossen wieder zusammen und bäumten sich abermals auf, um auf den gehärteten Sand zu klatschen. Auf der einen Seite der Bucht schloss eine Felsformation an, auf der anderen buschbewachsene Hügel. Über den beiden Freunden tanzten die Palmblätter im Wind und ließen ihre Schatten auf ihren Gesichtern spielen. Die Natur war hier in voller Harmonie. Nur eins störte irgendwie das Gleichgewicht: Benjamin.

      Benjamin ließ seinen Ärger und seine Enttäuschung fahren. Er blickte aufs Meer hinaus, dann den Strand entlang. Das Blau des Himmels, das Grün der Palmen und das Gelb des Strandes ergaben die Farbpalette eines Paradiesmalers. Auch dieser Gogol hätte eine solche Komposition nicht besser hingekriegt. Das alles erinnerte ihn an Urlaub unter Palmen. Es fehlten nur ein Cocktail und eine barbusige Frau im String-Tanga, dann wäre alles perfekt. Es war traumhaft hier, aber irgendetwas trübte diesen Eindruck: Martin.

      Als sie eine Kokusnuss um ein Haar verfehlte, ließen sie von ihren Träumereien ab.

      „Ist das Zeug schon trocken?“, fragte Martin.

      Benjamin, der schon auf diese Idee gekommen war, musste verneinen. Doch beide sahen sich außerstande, so zur Tat zu schreiten.

      Dafür zogen sie sich die Klamotten aus und kehrten das Innere nach außen. Auch die Unterhosen. Nach Jahren des Zusammenwohnens, in dem sie sich nie wie Adam und Eva gegenüber gestanden hatten, kannten sie nun keine Scham mehr. Nach ihrer letzten Reise.

      Da saß er: Benjamin mit seinen proportionierten Gliedern, seinem athletischen Körper, seinem großen Glied. Ganz so, wie ihn die Evolution laut Lamarck erschaffen hatte, indem seine Vorfahren über Generationen immer höher gegriffen, weiter gerannt, schwerer getragen und ausdauernder kopuliert hatten.

      Hier war er zu sehen: Martin. Mit seiner gedrungenen Statur, seinen etwas zu kurzen Beinen, seiner jämmerlichen Brust. Ganz so, wie ihn die Evolution laut Darwin erschaffen hatte, indem sich seine genetischen Vorgänger durch Duckmäusertum und Versteckspielerei an Krieg und Zerstörung angepasst, und deshalb überlebt hatten.

      Die längeren Deckhaare ihrer Sidecuts waren ihnen an Stirn und Schläfe geklatscht. Einzelne Locken Martin lösten sich beim Trocknen daraus und kräuselten sich ungewöhnlich stark. Benjamins blonde Schnittlauchlocken wirkten dünn und fusselig, und bereit, sich jederzeit von der Kopfhaut zu lösen.

      Beide merkten sie, dass mal wieder ein Sonnenbrand im Anmarsch war, und rückten ein Stück in den Palmenschatten.

      Als das Koks getrocknet war, legte Benjamin mit seiner MasterCard auf seiner Visa zwei Lines. „Der Klügere legt nach“, sprach er.

      Der Klügere hat sein Koks leider nicht dabei, dachte Martin.

      Bald könnten sie ihre weißen Hemden und weißen Leinenhosen wieder anziehen und in ihre salzverkrusteten Lederschuhe steigen.

      Ihr Überlebenskampf konnte beginnen, dachte Benjamin. Sie würden durch den Urwald stapfen, Lianen hinter sich werfen, Gestrüpp zur Seite klopfen, über Baumbrücken klettern, Flüsse durchwaten, Bäche überspringen, Geschmeiß und Getier von ihrer Haut pflücken, Schlangen mit Schlägen vertreiben, Tiger mit Keulen verscheuchen, Vögel mit Farnsträuchern in die Flucht schlagen. Sie würden Feuer legen und so Insekten fernhalten, Fackeln entzünden und damit Fledermäuse verjagen. Sie würden bis zur Spitze des Vulkankegels gelangen und sich eine Übersicht über die Insellandschaft verschaffen, würden dann zurückkehren und am Waldrand mit Steinäxten Bäume schlagen und sich ein Floß bauen, um zur nächstgrößeren Insel oder zum Festland fahren. Dort würden sie ein neues Leben leben und die Hoffnung niemals aufgeben, dass die Maschine noch funktionierte.

      Ihre Selbstmordversuche konnten nun unternommen werden, dachte Martin. Sie würden in den Wald gehen, sich sogleich verirren, in Gestrüpp hängenbleiben, von wilden Tieren bedroht werden. Von Riesenvögeln würden sie schwer verletzt werden, von Insekten zerfressen und von Tigern angebissen, und blutüberströmt und dem Hungertod nah am Verdursten sterben. Sie würden wieder aufwachen, große Schmerzen erdulden, weitertaumeln, weiterkämpfen, Kilometer für Kilometer, Stunde um Stunde. Sie würden in Schlammlöchern nächtigen und Kot von Beuteltieren speisen. Tage- und wochenlang würden sie umherirren, leiden und doch weitermachen, bis sie feststellen mussten, dass die Insel riesig war oder sogar Festland, und die Erde noch nicht von Menschen bevölkert. Sie würden die Hoffnung nicht verlieren, dass der Freitod ihre Rückkehr bewirken könnte.

      Benjamin starrte auf das Wasser. Auch auf Inseln gibt es Fata-Morganas, sagte er sich. Dort sind es eben keine blauen Berge, sondern braune Boote.

      Martin konnte seinen Blick nicht vom Horizont lassen. Auch in der Prähistorie gibt es Fata-Morganas, dachte er. Dort sind sie nicht allein durch Benjamin wahrnehmbar, sondern auch durch mich.

      Das Boot wurde immer größer.

      Fata-Morganas sind seltsam, dachte Benjamin. Nähert man sich ihnen, bleiben sie gleich groß, bleibt man an einer Stelle, werden sie größer.

      Ich verstehe nicht so viel von Fata-Morganas wie Benjamin, dachte Martin. Aber das hier scheint die Fata-Morgana einer Fata-Morgana zu sein.

      Als das Boot ankerte und Männerstimmen wild durcheinander riefen, gaben sie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fata-Morganas zugunsten einer möglicherweise sinnvollen Pragmatik auf.

      Benjamin beugte sich nach vorne und griff nach seiner Unterhose, um sein Gemächt damit zu bedecken.

      Martin bedeckte seins mit seinem Hemd.

      Vier Männer kamen durch das Uferwasser gewatet.

      Zur Flucht war es zu spät. Zumal sich die Männer unter Umständen im Wald einen Tick besser auskannten. Auch musste man wenigstens die Möglichkeit einräumen, dass sich die Typen in diesen Gewässern geschickter bewegten als man selbst. Auch die Bezwingung der Hügel und Felsen war unter Umständen stärker deren Domäne als die ihre. Es sei denn, sie waren ebenfalls Touristen.

      Die Männer kamen näher. Sie hatten mehrfach gefaltete Tücher diagonal um ihre Beine geschlungen, trugen weite, an der Taille mit Kordeln geschnürte Hemden und keine Kopfbedeckungen. Auch Schuhe hatten sie keine an. Ihre Haare waren schwarz und ihre Schnurrbärte ebenso. Ihre Haut war dunkel. Sehr dunkel.

      Die gekonnte Art, mit der sie sich bewegen, lässt nicht auf Touristen schließen, dachte Benjamin.

      Die Art, wie sie angezogen sind, lässt nicht auf eine Zeit schließen, in der es schon Tourismus gibt, dachte Martin.

      Komische Typen, dachten beide.

      Mit entschlossenen Mienen schritten sie geradewegs auf die beiden Freunde zu. Ein älterer Mann mit weißem Haar schien das Kommando zu geben. Als sie sahen, wie unbekleidet die beiden Freunde waren, mischte sich Aufregung in ihren Ernst. Wild sprachen sie durcheinander und ihr Anführer verlor kurz die Kontrolle. Einen Meter vor den beiden Freunden erstarrten sie. Der Anführer befahl ihnen etwas, aber sie verharrten wie das Kaninchen vor der Schlange.

      Daraufhin schritt er selbst zur Tat. Er ging zu Martin, fasste ihn fest am Arm und zog ihn auf die Beine. Er war einen Kopf kleiner als Martin, aber einen Mann stärker.

      Der lediglich hingelegte Lendenschurz fiel herunter.

      Die Männer hielten sich die Hände vor die Augen.

      „Mataré. Men ki gu kan“, sagte der spitznasige Mann zu Martin.

      Martin sah Benjamin fragend an.

      Daraufhin