Urs Rauscher

Die Zweitreisenden


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Geistesblitz getroffen, raunte Benjamin: „Nick und Mike.“

      Nach ihrer Rückkehr hatten sie sich nicht mehr mit Nick und Mike in Verbindung gesetzt. Es war nicht ganz klar, ob die Zwei es ihnen übel nehmen würden. Noch weniger war klar, ob sie ihnen wegen der Zeitmaschine Glauben schenken, oder ob sie ihnen dann helfen würden. Nur eins war sicher: Die Beiden steckten knietief in krummen Geschäften. Wenn sie jemand nicht verraten würde, waren sie es. Außerdem konnten sich die beiden Freunde ohnehin an niemand anderen wenden.

      Nick wohnte nicht weit von hier, in einem etwas schäbigeren Teil von Kreuzberg. In einer Viertelstunde wären sie zu Fuß dort. Aber es war nie gut, bei ihm ohne Ankündigung aufzukreuzen. Ständig hatte er komische Typen bei sich, die nicht dort gesehen werden wollten. Vor allem nicht in den Zuständen, in die sie Nick versetzte. Außerdem konnte es sein, dass sich zu jeder beliebigen Uhrzeit eine halbnackte Frau bei ihrem Dealerfreund herumtrieb, deren Namen der Gastgeber nicht kannte, weil sie zufällig vom Vorabend übrig geblieben war, während sich alle sonstigen Konsumprodukte in Luft aufgelöst hatten.

      Benjamin hatte Nicks Nummer in seinem neuen Smartphone gespeichert. Er musste in den sauren Apfel beißen und den vernachlässigten Freund wieder für sie gewinnen.

      Nach dem fünften Klingelton nahm Nick ab. Benjamin meldete sich mit seinem Namen. Nick war verstimmt. Als Benjamin behauptete, sie seien länger im Urlaub gewesen, erwiderte Nick nur, sie bräuchten ihn nicht anzulügen. Wo sie in Wirklichkeit gewesen waren, wollte er jedoch nicht wissen. Als Martin sich zum Mikrofon herunterbeugte und Nick fragte, ob sie kommen könnten, und zwar jetzt, stimmte er etwas missmutig zu. Die beiden Freunde waren erleichtert und bestellten ein Taxi.

      In Nicks Wohnung roch es nach Schimmel, Feuchtigkeit, Urinstein, Grasweihrauch und Haschischmyrrhe. Außerdem hatte er sein Schlafzimmer nicht gelüftet, die Türe zum Flur jedoch offen gelassen. Die beiden Freunde konnten nicht glauben, dass sie sich wieder auf dieses Niveau herunter ließen. Es erinnerte sie an Zeiten, in denen sie Pro Evolution Soccer noch auf einem 50-Zoll-Bildschirm hatten spielen müssen und Koks und Nutten noch ein unerreichbarer Traum für sie war.

      Nick ging und sprach sehr langsam. Außerdem hatte er nur eine Unterhose an. Er schien allein zu sein. Als sie das Wohnzimmer betraten, räumte er Pizzaschachteln und Chipstüten vom Sofa auf den Boden. Er bat ihnen das zugekrümelte, bieraromatische Polster an.

      Mit einigem Widerwillen setzten sie sich hin.

      Mit winzigen Äuglein sah er sie an. Er rang sich ein Lächeln ab. „Da seid ihr ja, Jungs.“

      „Da sind wir.“ Martin nickte.

      „Ja, wir sind’s“, sagte Benjamin und holte das Tütchen mit dem Koks heraus.

      „Was hast du da?“, fragte Nick, schrecklich stoned.

      Benjamin wischte Müll vom Wohnzimmertischchen und legte eine Line. „Etwas, das du jetzt brauchst.“

      Nick hob den Kopf. „Ach, wirklich?“ Er grinste debil. „Dann mal her damit.“

      „Damit du den Kopf freibekommst“, erklärte Martin wie eine Krankenschwester.

      Es kam ihnen so vor, als wäre Nick noch dünner und ausgemergelter als früher schon. Obwohl dieser Mensch unendlich viel Junkfood aß, schien er vom Essen eher ab- als zuzunehmen.

      Martin stand auf und machte den Röhrenfernseher aus. Obwohl Nick über Geld wie ein Bauer über Heu verfügte, war er selten klar genug, dieses in etwas Sinnvolles wie eine neue Wohnung oder einen neuen Fernseher zu investieren. Er lagerte es irgendwo in seiner Wohnung und gab den Großteil davon für Haschisch und eine sündhaft teure Superheldenfiguren-Sammlung aus. Außerdem sammelte er wertvolle Briefmarken, hatte aber keine Ahnung von der Materie. Viele der Marken fuhren irgendwo in seiner Wohnung rum. Einmal im Jahr wurden sie dann beim Frühjahrsputz aufgesaugt und entsorgt. Nick hatte überhaupt immer nur dann den Durchblick, wenn er noch nicht zu bekifft war, um sich noch eine Line zu legen. Er mochte kein Koks, aber manchmal kam er so wenig ohne damit aus wie ein Rentner ohne Tabletten.

      Sein schmales Gesicht, die dünne Nase und die tief liegenden Augen machten ihn mit Untergewicht noch gespenstischer, als er ohnehin schon auf andere Menschen wirkte. Der Ziegenbart und die zum Zopf gebundenen Haare unterstrichen noch seinen Junkie-Look. Aber sein Aussehen täuschte: Er war nie krank, außer einmal, als er wegen einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus gelandet war. Außerdem war er der einzige Mensch, den die beiden Freunde kannten, der seine Augenfarbe verändern konnte. Bei Schwarzlicht leuchteten sie sogar weiß. Dieses Gadget war es wohl auch, was ihm neben seinem Drogenfundus manchmal Sex mit einer Frau bescherte.

      Nachdem er sich das Zeug reingeschnieft hatte, sah er sie mit leuchtenden Wangen und Monsterpupillen an. „Was gibt’s meine reisenden Freunde? Was führt euch hierher? Seid ihr mal wieder unterversorgt?“

      Benjamin wollte nicht zugeben, dass sie nun einen vornehmeren Dealer frequentierten, deshalb kam er gleich zur Sache: „Wir brauchen deine Hilfe.“

      Nick spitzte den Mund. „Wollt ihr endlich selber anbauen?“

      „Nein“, sagte Martin erheitert.

      „Es geht um was ganz anderes“, sagte Benjamin.

      Nick wurde hellhörig. „Wie, was Anderes?“

      „Wir müssen verreisen“, sagte Martin.

      „Schon wieder?“

      „Woandershin verreisen“, erklärte Benjamin.

      „Wannandershin“, präzisierte Martin.

      Nick schien jetzt sehr verwirrt. „Wannanders…was?“

      „Zeitreise“, rückte Benjamin mit der Wahrheit heraus.

      „Zeitreise?“, wunderte sich Nick. „Also doch Drogen!“

      „Nein“, widersprach Benjamin. „Mit einer Maschine. Ganz nüchtern.“

      „Nüchtern? Ihr seid doch voll drauf!“, rief Nick aus und sah sie abwechselnd an. „Ihr redet totalen Scheiß!“

      „Nein“, entgegnete Martin ernst. „Wir haben es schon einmal gemacht. Deswegen waren wir weg. Wir waren in einer anderen Zeit.“

      „Ach, ja?“ Unübersehbar fühlte sich Nick auf den Arm genommen. „Wann denn?“

      „Mittelalter“, meinte Benjamin trocken.

      Nick griff in eine fast leere Chipstüte und stopfte sich den feucht gewordenen Kartoffelsnack in den Mund. „Wo denn?“, fragte er mit vollem Mund.

      „Persien“, sagte Martin.

      „Das Land gibt’s doch gar nicht, Leute! Ihr müsst schon glaubhaft bleiben!“ Er spülte mit einem Schluck Cola ohne Kohlensäure nach.

      „Iran“, äußerte sich Martin verständlicher.

      „Iran? So, so. Und wie soll ich euch damit helfen?“

      „Du musst die Maschine bedienen.“ Benjamin furzte. „Ohne dich kommen wir nämlich nicht mehr zurück.“

      „Ach so, ja? Ich bin also der Fachmann? Weiß ich etwa, wie das Teil funktioniert?“ Nick lachte meckernd los.

      Die Freunde sahen sich an. Sogleich grinsten sie amüsiert.

      Sie erklärten ihrem Freund, dass eines seiner illegal heruntergeladenen Smartphone-OS sich hervorragend für die Steuerung der Maschine eigne, was ihn verblüffte. Wahrscheinlich gingen auch andere Versionen desselben Betriebssystems, räumten sie ein. Sie erzählten ihm, wie sie die Maschinen in Gang gebracht hatten.

      „Also, ich hab mal was über Rückführungen in andere Leben gelesen, ziemlich abgefahrener Scheiß, das. Aber ne Zeitmaschine? Das ist wirklich verrückt!“

      Rückführungen. Warum wusste Nick davon? Sie verschwiegen Nick die Geschichte, die sie vom verrückten Professor aufgetischt bekommen hatten. Ohnehin hatten sie die Details nicht mehr im Kopf. Schon damals hatten sie kaum etwas