Urs Rauscher

Die Zweitreisenden


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hätten. Er machte eine herausgeforderte Miene und lächelte. „Also, was genau soll ich machen?“

      Ihr Plan sah vor, mit schwerem Gerät in das Kellergeschoss der Arbeitsagentur einzubrechen, am besten noch in dieser Nacht. Dann müssten sie die Maschine irgendwie in Gang setzen, sofern sie überhaupt noch da war. Anschließend würde es an die Verschickung gehen, die Nick mit seinem Handy auszulösen hätte, während sie schon in der Raumkapsel Platz genommen hätten. Er müsste sie nicht wieder zurückholen, sie würden einfach ihr Leben an einem Punkt vor drei Wochen wieder aufnehmen. Nick müsste nur den Auslöser drücken und dann die Maschine so sabotieren, dass sie unverwendbar würde. Dann müsste er die Mauer hinter sich zumauern. Endgültig hatten sie sich noch nicht entschieden. Sie würden in die jüngste Vergangenheit fliegen, um dort zu verhindern, dass herauskam, dass die Arbeitsagentur Arbeitssuchende verschwinden ließ. So würden sie ihren Reichtum behalten können. Aber das sagten sie Nick nicht. Der wollte auch etwas Anderes von ihnen wissen: „Und ihr wisst genau, was für eine Nummer ihr für ein bestimmtes Datum eingeben müsst?“

      Er hatte sie eiskalt erwischt. Kleinlaut mussten sie verneinen.

      Aber dann fiel Benjamin ein, dass er beim Vertragsschluss mit der Agentur sein altes Handy wiedererhalten hatte. Im Anrufverlauf würde sich die Nummer wiederfinden, die er damals versehentlich eingegeben hatte und deren einer Teil Nicks Handynummer war.

      „Alles schön und gut“, fand Nick schon den nächsten Einwand. „Aber könnt ihr die Ziffernfolge einem genauen Datum zuweisen?“

      Abermals verneinten sie. Der nächste Rückschlag.

      „Ich weiß vielleicht jemanden, der uns dabei helfen könnte. Vorausgesetzt, ihr wisst noch, wann und wo genau ihr damals gelandet seid.“

      Sie sagten, dass sie es ungefähr wüssten. Im Juni 1272 bei Yazd. Längen- und Breitengrad müssten ja herauszubekommen sein. Dann fragten sie, wer ihnen denn helfen könne.

      Nick kratzte sich am Kopf. „Den kennt ihr auch.“

      Begriffsstutzig zuckte Benjamin mit den Achseln. Unverständig schürzte Martin die Lippen.

      „Na?“ Nick gefiel sich in der Rolle des Strippenziehers. „Wen kennen wir gemeinsam?“

      Martin kam eine Ahnung. „Mike?“

      Benjamin stupste ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.

      „Genau!“ Nick zeigte auf Martin. „Mike!“, rief er aus.

      Martin holte ein überraschtes Siegergrinsen hervor.

      „Warum der?“, zeigte sich Benjamin äußerst baff.

      Nick schwang jetzt seine Beine auf den Sessel und ging in die Hocke. „Ihr wisst es vielleicht nicht: Mike ist ein Mathematik-Genie.“

      „Wir meinen denselben Mike?“, hakte Benjamin nochmals nach.

      Mike war der andere ihrer Zulieferer gewesen. Äußerlich war er so ziemlich das genaue Gegenteil von Nick: Seine Haare waren stoppelkurz, er trug eine Brille. Er war groß und dick, wenn nicht gar fett. Er aß denselben Fraß wie Nick, nur unter anderen genetischen Voraussetzungen. Ständig nuckelte er an einer Cola-Flasche, wenn er nicht gerade eine Zigarette mit den Zähnen malträtierte. Er hatte eine große Schwäche für Billard und ältere Frauen. Leider bekam er nie beides gleichzeitig. Zu Hause hatte er zwar einen Billardtisch, dieser diente ihm aber zumeist als Ablage für irgendwelche Unterlagen. Mike schrieb nämlich noch an seiner Habilitation in Experimenteller Logik. Selbstverständlich, ohne an der Universtität zu lehren. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich wie Nick mit dem Weiterverkauf mittlerer Mengen von Gras und Haschisch. Offiziell wohnte er in einer WG, sein Mitbewohner zahlte zwar die Miete, ließ sich jedoch kaum blicken, weil er einen ganz anderen Lebenswandel hatte als Mike. Wie Nick hatten sie ihn auf dem Campus kennengelernt. Aber im Gegensatz zu Nick hatte Mike noch Ambitionen. Als Wissenschaftler wollte er hoch hinaus. Nur machten ihm die Drogen seit Jahren einen Strich durch die Rechnung. Man traute ihm also nicht mehr viel zu.

      Nick rief Mike an und dieser stimmte dem Vorschlag zu, in Kürze in der Wohnung vorbeizukommen. In der Zwischenzeit sollten die beiden Freunde nach Hause fahren und das alte Handy von Benjamin holen.

      So geschah es. Eine Stunde später saßen die vier Jungs in Nicks zugemülltem und stinkenden Wohnzimmer. Martin und Benjamin nippten an sehr schalem Bier, das Nick angeblich gerade erst geöffnet hatte. Mike sog an seiner Cola. Er schien sich zu freuen, die beiden Freunde wieder zu sehen. Zwar hielt er die Story von den Zeitreisen für ausgemachten Unsinn, der nur Philosophen und Historikern kommen konnte, aber er war gerne bereit, sich mit dem kleinen Zahlenrätsel zu befassen.

      Auf einem Blatt Papier schrieb Benjamin die Nummer nieder, auf der er nie jemanden erreicht hatte. Martin schrieb das ungefähre Datum daneben. Dann reichten sie Mike das Blatt. Der ließ sich noch einen Taschenrechner und einen Atlas geben, dann fing er an, über seiner Aufgabe zu brüten.

      „Den hätten wir damals auch gebrauchen können“, flüsterte Martin Benjamin zu.

      „Wart’s erstmal ab“, flüsterte Benjamin zurück.

      Es dauerte länger als erwartet. Die Zeit dazwischen vertrieben sie sich mit der Bong von Nick. Mike hatte sich absolute Ruhe ausgebeten und irgendwie konnten sie wirklich die Lautstärke ihres Kapriolen schlagenden Gekichers in Grenzen halten.

      Nach über eine Stunde stand Mike so ruckartig auf, dass die drei anderen hochschreckten. „Jungs, ich glaub, ich hab’s.“

      Schon hatte er all ihre Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, die sie eilig mit ein paar Lines herstellten. Er erklärte ihnen alles, erläuterte die Formel, nach der die Nummer generiert wurde, aber sie verstanden kaum etwas davon. Das war ihnen egal. Benjamin bat Mike, die Formel aufzuschreiben, so dass sie sie immer anwenden könnten. Mike gab sich skeptisch, rückte dann aber mit der Zahlenkonstruktion heraus. Es gab viele X, Y und Zs darin, aber kaum eine Potenz oder eine Wurzel. Sie dankten und lobten ihn. Aus Bequemlichkeit baten sie ihn, die Ziffernfolge für den Alexanderplatz vor drei Wochen auszurechnen. Mike belächelte sie milde und rechnete. Kurze Zeit später waren sie im Besitz der goldenen Zahl. Nicht ohne Hintersinn fragten sie Mike, ob er nicht auch mitkommen wolle. Er zeigte sich einverstanden. Sie rieben sich die Hände. Ein Handlanger mehr.

      „Jungs“, bemerkte Mike beim Rausgehen. „Wisst ihr eigentlich, wie scheiße ihr in dem Aufzug ausseht?“

      Martin befühlte sich die Haare. An der Seite waren sie kürzer als bei Benjamin. Fast abrasiert. Das lag daran, dass er Locken hatte.

      Nick blickte auf die beiden Freunde, ihre weiße Kluft und die mit Wachs in Form gebrachten Sidecuts. „Hey. Is mir noch gar nicht aufgefallen, Mike. Das sieht wirklich kaputt aus.“

      Mike musterte sie nochmals belustigt. „Wo habt ihr die Sachen aufgetrieben?“

      „Im Urlaub“, vermutete Nick.

      Mike horchte auf. „Ihr wart im Urlaub?“

      Die beiden Freunde schwiegen. Benjamin, weil er ihren Reichtum noch immer verheimlichen wollte, Martin, weil er angefressen war.

      Benjamin hatte ein Taxi gerufen. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung fuhren sie an einem Baumarkt vorbei. Dort besorgten sie sich schweres Gerät: Vorschlaghammer, Schlagbohrer, Handkreissäge, Schaufel, Stromgenerator, Baustellenlampe. Außerdem drei Taschenlampen.

      Der Taxifahrer, der vor dem Markt gewartet hatte, war sprachlos, als er die vier vollbepackt in seinem Auto sitzen hatte. Benjamin drückte ihm ungesehen von den Anderen einen Hunderter in die Hand, und so sah er über die ungewöhnlichen Umstände hinweg.

      „Wo genau fahren wir eigentlich hin?“, wollte Nick wissen.

      „In unsere Wohnung“, gab Benjamin zurück.

      „Steht dort die Maschine?“

      Martin verspürte eine diebische Vorfreude. „Nicht ganz.“

      Als sie dann in ihrer alten Straße anhielten, liefen Nick und Mike sogleich auf die andere Straßenseite. Martin musste