Gerd Ruttka

Nachtdienste


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Er hat sich schon fast ganz erhoben, als die verkohlten Wandbretter nachgeben. Er kippt in den dahinterliegenden schmalen Raum, fällt auf etwas.

      "Verflixt", flucht er, "ausgerechnet so etwas muss passieren, ausgerechnet heute und bei mir." Zwei Feuerwehrleute, die dazu getreten sind, starren in den Hohlraum.

      "Du lieber Himmel", der eine greift sich an den Kopf. Der Andere hilft dem Sachverständigen beim Aufstehen. Kaum dass er steht, wendet er sich an den Heimleiter."Da ist ein sehr schmaler Verschlag, mit einer gekokelten Matratze einem Tisch und einem Stuhl, auf der einen Seite liegt auf dem Boden eine völlig verkohlte Leiche."

      *

      Die Kriminalpolizei war gekommen. Die Beamten hatten versucht Spuren zu sichern, soweit dies nach dem Brand möglich war. Wie immer dauerte es fast 3 Wochen, bis die DNA der Leiche analysiert war. Es war eindeutig, die verbrannte Person war diejenige deren Haare in einer Bürste im Schrank von Rita Retsch gefunden wurden.

      *

      Der Geschäftsführer hatte kurzfristig eine Betriebsversammlung angesetzt, um dem Personal die Fakten bekanntzugeben. Zwar war diese Betriebsversammlung nur für das Wohnheim und die dort tätigen Betreuer gedacht, aber auch aus den anderen Abteilungen waren Kollegen und Kolleginnen zur dieser Versammlung gekommen.

      "Die verkohlte Leiche aus dem Dachgeschoss ist ohne Zweifel, die Person, die den Schrank in der Gruppe 3 als Rita Retsch belegt hatte."Er machte eine Kunstpause "Allerdings", erklärte er sodann den Mitarbeitern, "haben wir ein großes und echtes Problem. Ihre Kollegin Rita Retsch ist namentlich nicht existent.

      Was heißen soll, dass es den Namen Rita Retsch so nicht gibt. Die sogenannte Schwester mit der sie zusammengelebt hatte ist auch verschwunden. Auch diese gibt es namentlich nicht. Alle Papiere, die wir gefunden haben sind echte Papiere mit falschen Daten. Die gesamte Vita der beiden Frauen ist erfunden, aber durch Computer-Manipulationen als richtig und real belegt. Wir stehen vor einem Rätsel.

      Deshalb benötigen wir ihre Hilfe. Bitte teilen sie uns alles mit, was Ihnen einmal sonderbar vorgekommen oder aufgefallen ist. Was hat Rita Retsch Ihnen erzählt, was bei Ihnen anders gemacht wurde, was hat sie getragen, was gar nicht ins Bild passte. Eben jede Besonderheit, alles Ungewöhnliche was Ihnen einfällt." Er schwieg.

      Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wohnheimes starrten ihn an, verständnislos, verblüfft. Dann sahen sie einander an, mit fragenden Blicken, die doch nur wieder den Fragen in den Blicken des Kollegen begegneten.

      "Das gibt's doch nicht", stieß Carina Müller, die Hauswirtschafterin, hervor. "Du hast recht, sowas gibt's doch nur im Fernsehen." Kaum hatte Kirsten Meiheimer- mit zwei Eiern, wie sie immer ihren Namen beschrieb - dies ausgesprochen, als im Saal eine Woge von Stimmen einen undurchdringlichen Lärmpegel aufstaute, der nur langsam abebbte "....denkt denn an so etwas?" hörte man zuletzt die Teamchefin von Team 3.

      Steezer ergriff wieder das Wort. "Wir haben für jeden von Ihnen immer Zeit, sie brauchen uns nur anrufen und ein Beamter ist für sie da, oder er kommt zu Ihnen, oder sie können zu uns kommen. Mehr können wir momentan nicht sagen." Er legte eine Pause ein. "Zuletzt erneut die dringende Bitte. Wenden Sie sich an uns, wenn Ihnen etwas einfällt, das im Zusammenhang mit Rita Retsch steht und ungewöhnlich war- bitte, melden sie sich bei uns, wir haben immer ein offenes Ohr für sie. Wir sind in diesem Fall an allem interessiert, und sei es nur, dass sie eine Stricknadel anders gehalten hat, als sie das kennen." er machte eine Pause "Ich danke Ihnen für ihr Kommen."

      Steezer ging zum Geschäftsführer, sie sprachen ein paar Worte mit einander, dann schien er sich zu verabschieden, ging weg, eine ratlose Gruppe von Mitarbeitern hinterlassend, die zu verblüfft waren, um erneut zu diskutieren.

      "Also, liebe Leute, das muss ich erst einmal verdauen. Ich denke, wir machen für heute am besten Schluss." beendete der Geschäftsführer die Versammlung. Die Mitarbeiter standen auf, aber nur um sich überall im Haus und Garten erneut in kleinen Grüppchen zusammenzutun, damit sie die Informationen erneut diskutieren konnten."Ausgerechnet Rita!" "Die war doch so freundlich zu jedem." "Also, wenn ich von jemandem angenommen hätte, dass der völlig offen ist, dann wäre es Rita gewesen." "Wer hätte das gedacht, dass Rita eine Lügnerin ist." "Sie wäre die letzte gewesen, von der ich so etwas angenommen hätte." "Wer weiß was sie sonst noch gelogen hat." "Wisst ihr noch damals, als die 200€ in der Kasse gefehlt haben- ob sie das auch war?"

      So wurde diskutiert, spekuliert, vermutet, aber jedes Wort war nur ein Ausdruck des hilflosen Unverständnisses gepaart mit, hier wenig dort mehr, Enttäuschung über die Tatsache, dass alle von Rita Retsch, die all die Jahre so systematisch und freundlich gewesen war, so extrem hinters Licht geführt worden waren.

      ***Tagebücher

      An diesem Abend saß Hanna Schneider wie jeden Abend an ihrem Tagebuch. Wie jeden Abend schrieb sie die Ereignisse des Tages auf, egal ob an der Arbeitsstelle, zu Hause, beim Einkauf, oder wo sonst auch immer, am Abend legte sie es in Ihrem Tagebuch ab.

      "Ob ich der Polizei erzähle, dass ich jeden Abend in ein Tagebuch schreibe. Dass ich seit Jahren alle Dienste mit allen Besonderheiten und Vorkommnissen aufgeführt habe. Da kommen ja meine geheimsten Gedanken an den Tag."

      Drei Tage lang überlegte sie, dann rief sie Steezer an.

      "Tagebücher?" fragte er nur", Für jeden Tag Einträge? Seit Jahren?..... Wo wohnen Sie? Gut, in einer halben Stunde bin ich bei Ihnen."

      Eilig füllte sie die Kaffeemaschine auf, schaltete sie an. Sie richtete einen Teller mit Gebäck an, deckte den Esstisch für 2 Personen.

      Als Steezer klingelte hatte sie gerade etwas anderes angezogen, und ihre Haare hinten mit einem Gummi zusammengezogen.

      Sie bot ihm einen Kaffee an, den er dankend annahm. "Geben sie mir doch bitte 'mal ihr neuestes Tagebuch, damit ich vorher sehen kann, in welchem Masse die Eintragungen dem realen Ablauf entsprechen."

      Er las, griff während des Lesens automatisch in den Keksteller.

      "Gut, und verständlich geschrieben, " urteilte er, "wenn sie arbeitslos werden, melden sie sich bei uns- wir brauchen jemanden der unsere Berichte so einfach und klar formuliert."

      Er besah sich den Stapel Tagebücher, die Hanna vor ihn hingelegt hatte. "Da werden die Kollegen sich aber freuen. Wie viel sind denn das?" fragte er. "Pro Jahr 3 Kladden, mit 200 Seiten. 12 Jahre lang. Plus 2 von diesem Jahr. Ich hoffe, sie bringen etwas. Wird mein Chef von dem Inhalt erfahren?" fragte Hanna besorgt.

      "Nein, nein " beruhigte Stelzer sie, "nur was fallrelevant ist wird von uns kopiert- außerdem unterliegt sowieso alles der Schweigepflicht." "Das ist gut, " Hanna war erleichtert.

      Wieder vergingen ein paar Tage, ohne dass man irgendetwas Neues gehört hätte.

      Der Dachstuhl war schon erneuert, die Bewohner hatten wieder ihre gewohnte Umgebung, die Tage in der Wohnanlage hatten wieder ihren gewohnten Ablauf. Einzig die Feuertreppen waren jetzt mit Kameras ausgestattet, die jeden zeigten, der die Treppen betrat und die Außentüren waren generell mit Alarmanlagen versehen, die vom Nachtdienst abgeschaltet werden mussten, wenn der erste Kollege zum Frühdienst kam. In der ersten Zeit hatte es gelegentlich Fehlalarm gegeben, aber alles in allem hatte man sich schnell an die neuen Gegebenheiten gewöhnt. Nur selten dachte man noch an die Ereignisse. Kein Mensch sprach mehr über die sonderbaren Geschehnisse. Allenfalls sprach man über den Brand, aber auch diese Gespräche hielten sich in Grenzen. Es gab einfach andere, wesentlichere Probleme zu bewältigen.

      Eines Tages rief Steezer bei Hanna an. Er fragte sie, wann sie einmal frei hätte. Er würde dann vorbeikommen, mit einem Kollegen. Dieser war einer der Kollegen, der ihre Tagebücher gesichtet hatten.

      "Wir haben überall herumgefragt, in allen Dienststellen, wer mithelfen wolle die Tagebücher zu lesen. Der Junge hat vorher in unserem Team mitgearbeitet. Er ist so gut, dass er von uns aus ins LKA versetzt wurde. Er hätte gerne mit ihnen über den Inhalt eines der Tagebücher geplaudert, die er gelesen hat", formulierte Steezer die Bitte.

      Hanna war sofort bereit, ein Gespräch mit