Paul Barsch

Paul Barsch erzählt


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durfte sie mit ihren Angehörigen aus der Kirche heimgehen und bis zur Zeit des Fütterns und Melkens bei ihnen sein. Am Kaffeetisch lenkte sie das Gespräch auf Lieder aus ihrer Kindheit, ließ sich durch das verständnislose Gespött ihrer Geschwister nicht beirren und erreichte durch Beharrlichkeit, dass die Mutter sich auf allerhand Singsang besann, der Vater einhalf und die andern sich wetteifernd beteiligten. Reimklänge, Versgebilde, die sie längst vergessen hatte, lebte auf, und in verschwiegener Seele häufte sie Schatz auf Schatz für die Sammlung des Jägers, der Jagd auf Volkslieder machte.

      Abends regnete es, und sie flehte zum Himmel, dass er den Montag auch verregnen lasse. Dann bleiben die Rinder im Stall, und der Dichter würde nicht kommen. Beim ersten Blick durch Fenster in der Montagsfrühe jubelte sie hell; „Es treescht – es gießt mit Kannen. Der Herrgott sei gelobt!“

      Der Regen hörte tagelang nicht auf, dem Bauern und der Bäuerin zum Graus, der Magd zur Herzerquickung. Freitags erst wurde Minna wieder geheißen, die Kühe zur Weide zu treiben. Kurze Zeit nur blieb sie fort, und bei der Heimkehr in den Hof heulte sie und flennte. Der alte närrische Mann hatte sie überfallen. Um ein Haar, und er hätte sie erwischt. Sie fieberte vor Schreck am ganzen Leibe. Die Magd stritt für den beschuldigten Fremdling, aber die Bäuerin schrie, sie solle sich in den Boden hineinschämen, dem Kerl das Wort zu reden. Jetzt sähe man ja, dass er junge Weibsbilder suchte, die sich mit ihm im Grase herumwischen, wie es eine gewisse Person getan habe. Ließ sich das ertragen? Anna hielt sich, als sie im Stall das Vieh anketten wollte, mit beiden Händen an der Krippe fest. Im Kopfe tobten grässliche Gedanken, doch alle Wut zerfloss in Ohnmacht. Endlich ging ihr in finsterer Verzweiflung ein schwacher Lichtschein auf. Er leuchtete heller, gab tröstlichen Frieden und verhalf ihr zu einem Entschluss.

      Sonntags drauf sagte sie zur Frau, dass sie Nachmittag einen Sprung zu ihrer Muhme tun wolle, die krank sei. Der Frau mochte das schlimme Wort leid geworden sein, denn sie hatte sich bald darauf recht versöhnlich benommen. Jetzt lobte sie das Vorhaben der Magd, und sie versprach, ihr ein Stückchen Butter für die Muhme mitzugeben.

      Zur Butter gesellte sich ein Stück Speck, und später erbettelte sich Anna von ihrer Mutter ein Brot. Schon vor Beginn des Nachmittagsgottesdienstes lief sie mit ihrer Last zum Dorfe hinaus, auf Waltdorf zu, dem Wohnorte der Muhme. Suchend durchschweiften ihre Blicke das Gelände. Fernab vom Wege schmiegte sich die verlorene Wiesenheimat an den bebuschten Graben. Der Dichter war nirgends zu schauen, und ihre Sonntagslust mischte sich unversehens ein schneidend wehes Gefühl des Verstoßenseins.

      Die Muhme war zu Hause. Sie empfing den Besuch mit staunender Freude. Durch die Grüße und die Geschenke der Bäuerin fühle sie sich besonders hoch geehrt.

      Die alte Frau hatte viel zu erzählen. Der Zuhörerin aber war es nicht um Geschichten zu tun. Bei schicklicher Gelegenheit fragte sie, ob hier wohl einer wisse, wer der altmodisch gekleidete Herr sei, der sich in Waltdorf aufhalte und oft auf Feldwegen spaziere. Jawohl, den kannte die Muhme. Doch nur vom Sehen.

      Mit verhaltener Stimme und näher zu Anna heranrückend sagte sie, dass er von den Leuten für einen Demokrater gehalten werde. Das müsse er wohl sein, denn er stecke drüben auf dem Schlosse bei den zwei Grafen, und die gehörten ja auch zu der Sorte, der nicht zu trauen sei. Graf Eduard und er führen jeden Sonnabend nach Neisse. Auf heim zu hätten sie immer Offiziere bei sich, und mit den Offizieren treiben sie dann Verschwörungen oder ähnliche gottlose Sachen. Es werde halt so allerhand gemunkelt.

      Anna wollte nichts weiter hören. Ihr war es, als verfinstere sich der Tag bei hellem Sonnenschein. Gottlose Sachen traute sie dem Dichter nicht zu, und dass er bei Grafen und Offizieren im Schloss steckte, war gewiss keine Sünde. Aber sie schloss aus den Worten der Muhme, dass er viel vornehmer sei, als sie es sich in ihrer Unwissenheit vorgestellt hatte. Geradezu ungeheuerlich kam ihr der Abstand zwischen ihm und ihr vor und als frevelhaft verwarf sie den Gedanken, ihm die neuen Lieder hinzutragen. Ihr fiel ein, wie schlecht sie bei seinem letzten Besuch auf der Wiese gewesen war, und was sie angestellt hatte, damit er fortgehen sollte.

      Nein, sie durfte nicht mehr vor ihn hintreten! Aber er musste die Lieder haben. Sie waren ihm von ihr versprochen worden, und er brauchte sie. In vier Nächten hatte sie ihre sämtlichen blauen Briefbogen vollgeschrieben und sie dann mit ihrem hübschesten grünen Haarband zu einem Päckchen vereinigt. Vielleicht ließ sich irgendein Schulkind erbitten, die Blätter für den dichter ins Schloss zu tragen.

      Die Muhme richtete den Vespertisch her, und Anna beurlaubte sich auf ein Viertelstündchen zu einem Gange durchs Dorf. Vorsichtig näherte sie sich dem Schlosse, durchbebt von Furcht und heißblütiger Sorge, bedrückt vom Gefühl ihrer Niedrigkeit. Scheu wie eine Diebin lugte sie in den Gutshof. Hinten bei den Scheunen standen einige sonntägliche gekleidete Mägde. Rasch entschlossen zog sie ihr Kummerpäckchen unter der Jacke hervor und schritt auf die Mägde zu. Ihnen wollte sie den Schatz anvertrauen!

      Da – o himmlische Barmherzigkeit! – trat er aus der Haustür. Sie prallte vor ihm zurück. Entrinnen konnte sie nicht. Der Gruß blieb ihr im Munde stecken. Wir zu Abwehr steckte sie ihm das Päckchen entgegen. Er betrachtete sie und fragte nachdenklich: „Ist das nicht meine Märchenfee?“

      Im Augenblick darauf aber rief er: „Du mein Tausendkind, sie mir willkommen!“ und schon griff er nach den Liedern und nach ihr.

      Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Ins Schloss gelangte sie, und in eine wunderschöne Stube. Dort saß sie an einem Tische, der mit Büchern und Papieren beladen war, und der Dichter saß bei ihr, las was sie geschrieben, und konnte sich vor Freude gar nicht bändigen. In alle Tönen pries er ihre Klugheit, bedankte sich zehnmal und öfter, auch dafür, dass sie ihn besucht habe, nahm dann eines der Bücher vom Tisch und ließ sich ihren Namen nennen.

      „Was hör ich? Anna Hoffmann heißt du? Da sind wir ja Namensvettern und müssen erst recht zusammenhalten.“

      In das Buch schrieb er, streute Sand auf die Schrift und gab es ihr. Das sei er ihr schuldig, auf das Abkommen hin, das er mit ihr getroffen habe. Gedichte für Gedichte.

      „Lies, mein Kind, ob‘s richtig ist!“

      Sie las ihren Namen und las ferner, dass sie seine jüngste, schönste und verständigste Mitarbeiterin sei. Den Schluss mit der Unterschrift erfasste sie nicht. Ihr flimmerte es vor den Augen. Dass ihr das Buch gehören solle, begriff sie, und ihr entrang sich ein inbrünstiges „Dankeschön!“

      Nun fort! . . . Er wollte sie zurückhalten. So ein lieber Gast müsse doch bewirtet werden. Graf Eduard würd zürnen, wenn sie nicht auch bei ihm vorspräche. Vergeblich bat er. Sie stob hinaus wie ein verflogener Vogel. Draußen erst, auf der Treppe, verabschiedete sie sich.

      Der Dichter war ernst geworden. Es sei ein Scheiden auf lange Zeit. In wenigen Tagen gehe sein Aufenthalt in dem stillen Waltdorf zu ende. Weit in die Ferne führe seine Weg, zu neuer Arbeit und zu neuen Pflichten. Er habe seinen Gastgebern versprochen, im nächsten Jahre wiederzukommen, und er werde dann auch sie zu finden wissen. Die Freundschaft bleibe bestehen.

      Er küsste sie auf den Mund, und sie entwand sich ihm. Auf der Straße schlüpfte sie in ein Seitengässchen, aus Besorgnis, dass er ihr nachfolge. Zuerst war’s ihr, als sei sie glücklich einer Gefangenschaft entronnen, dann, als erwache sie aus einem unermesslich schönen Traum. Es war kein Traum, es war himmlische Wirklichkeit. Trug sie doch das Buch des Dichters in der Hand. Lauter Lieder. Gedichte für Gedichte. Die von ihm hineingeschriebenen Zeilen beschaute sie andächtig.

      „Hoffmann von Fallersleben“ lautete die Unterschrift. Soviel Ehre, soviel Glück! Gar nicht zu ertragen!

      Behutsam hüllte sie das Buch in ein Tüchel und verbarg es in ihren Kleidern. Der Dichter war im Schlosse geblieben, und ungefährdet gelangte sie ins Stübchen der Muhme.

      Schwer fiel es ihr, die Zunge zu bezähmen und das große Erlebnis zu verschweigen. Sie nahm sich vor, auch in Mogwitz den Mund zu halten, und sie ist diesem Vorsatze treu geblieben. Wer auch hätte sie verstanden, wer hätte nicht gespottet! Manchmal, wenn in plauderfroher Gesellschaft das Gespräch auf den alten närrischen Mann kam und si dabei allerhand Neckereien auszustehen hatte, war sie nahe daran, zornflammend zu verkünden, wer und was er sei, und wie sie sich alle schämen