Paul Barsch

Paul Barsch erzählt


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Buch hütete sie als ihr teuerstes Gut. Es war ihr so heilig wie der Kuss, den sie beim Abschied vom Dichter empfangen hatte.

      Sehnsüchtig wartete sie auf den versprochenen Besuch. Herr Hoffman von Fallersleben aber kam nicht mehr nach Waltdorf zu seinen Freunden, den Grafen von Reichenbach, und nie mehr hat sie ihn gesehen. Die Liebe für ihn blieb ihr eine verklärende Leuchte durchs Leben.

      Von mir, ihrem Ältesten, erfuhr die Mutter, dass sich ihr Freund zu jener Zeit in Waltdorf als Flüchtling aufhielt, nachdem er wegen seiner „Unpolitischen Lieder“ des Amtes als Professor in Breslau enthoben worden war und zur Rechenschaft gezogen werden sollte. Ich sagte ihr, wie sehr auch ich ihn liebe und wie das große deutsche Vaterland ihm für alle Zeiten ergeben sei. Das machte sie von Herzen fröhlich.

      Ihr zum Gedenken schrieb ich die Geschichte nieder, die sie mir und meinen Geschwistern anvertraute. Sie tat es dem Wortlaut nach in einer Weise, die ich nicht wiederzugeben vermag, auch sprach sie in dörflicher Mundart. Aber der Inhalt ihrer Erzählung lebt unveränderlich in meinem Gedächtnis.

      Der Krieg an der Sandgrube

      Wie weit mein Wissen von Völkerstreut und Heldentum bis zum Sommer 1866, dem siebenten Jahre meines Lebens, gediehen war, weiß ich nicht. Es mag wohl schon recht umfänglich gewesen sein, denn es nährte sich gierig von kriegerischen Bildern eines Buches, das im Topfschrank hinter den guten Tassen versteckt lag, und das ich oft, scharfem Verbot zuwider, hervorholte. Vertraut auch war mir das Lied vom tapferen Lagienka, denn das sang unser Gesell, der Johann Schie, jeden Tag an der Hobelbank. Mehr noch beschäftigte sich mein Denken über militärische Dinge mit dem großen Bilde, das bei Klars im Tanzsaale hing und auf dem eine Schlacht zu sehen war.

      Als ich wieder einmal mit Klars Kindern in den Tanzsaal eindrang, nahm es mich so gefangen, dass ich es immerzu anschauen musste. Staunend sah ich ein Gewimmel von Soldaten, Pferden, Kanonen, Flinten, Fahnen und Pulverrauch. Kugeln flogen in der Luft, ein Haus brannte, viele Soldaten lagen tot, und eine Kanone war zerbrochen. Frau Klar kam herein, bespaßte sich mit mir und lachte. Richtig verstand ich sie erst, als sie anfing, von dem Bilde zu sprechen. Ich erstarrte bei hungrigem Lauschen und Genießen. Der Soldat auf dem weißen Pferde war der General und hieß Blücher. Die Soldaten hinter ihm waren die Preußen, die Soldaten vor ihm die Franzosen. Er zeugt den Preußen mit dem Säbel, wohin die schießen und mit den Spießen an den Flinten stechen sollten. Die Preußen waren tapfer, und darum gewannen sie. Frau Klar sagte, Blücher sei ein Held. Wo der hinkomme, müssten die Franzosen purzeln. Die anderen alle zusammen seien nicht so tapfer wie er, und er habe deshalb die meisten Orden. Gar zu gerne hätte ich erforscht, wie die Franzosen purzelten, gar zu gerne auch die Orden bewundert, Frau Klar aber ging, und wir mussten mit ihr gehen. Sie verschloss den Saal, und da war ich sehr traurig.

      Vom Blücher kam ich nicht mehr los. Im Dämmerdunkel meines Weltbetrachtens war er mit seinem Schimmel eine strahlend klare Lichterscheinung. Ich malte nur noch ihn auf die Schiefertafel, in der Schule, daheim im Stübel, im Schuppen und im Schutz der Stachelbeersträucher, malte, bis er so schön war wie auf Klars Bilde. Doch ich konnte dabei nicht froh werden. Mir war eingefallen, dass ihn, der ganz voran ritt, leicht eine Kugel treffen könne. Der Gedanke, dass er dann bei den toten Preußen auf der Erde liegen würde, ließ sich nicht ertragen. Wenn ich allein war, flennte ich laut.

      Der Sattler kam in unsere Werkstatt gerannt und schrie: „‘s wird Krieg! Ei Neisse drinne machen se schunt mobil.“ Mich berührte diese Botschaft kaum, und stumpf auch blieb ich bei den anderen Neuigkeiten, die der Sattler brachte. Für mich ergab sich daraus, dass die Österreicher ein Land erobern wollten. Vor den Österreichern bangte mir nicht. Sie wohnten am Rander des Himmels, bei der Bischofskoppe, weit, weit von uns. Vetter Natz war einer. Der blieb jedes Mal, wenn er der Mutter den echten Jerusalemer Balsam brachte, bei uns über Nacht, und uns Kindern gab er Pfefferkuchen. Vetter Natz hatte mir’s gezeigt, wo die Österreicher wohnten, und von ihm wusste ich auch, dass sie gute Leute waren.

      Immerfort kam Besuch – Blasig, der alte Neugebauer, Milde, Stuschke, Hilbig und Frau Klar. Nur vom Kriege redeten sie mit dem Vater. Ich ging hinaus, kletterte im Garten auf den Zaun und blickte zur Bischofskoppe hin, nach Pulverrauch spähend. In unergründlicher Ferne suchten meine Augen den Krieg, und als ich ihn bald darauf in nächste Nähe sah, erkannte ich ihn nicht.

      Durch Lorenzens Klee an unserem Zaun ritten zwei Soldaten. Nahe bei mir hielten sie. Flink lief ich durch die Gartentür auf den Fußsteig. Sie drehten mir den Rücken zu. Während meines staunenden Hinstarrens erwog ich die Frage, was Lorenz tun und sagen würde, wenn er sähe, dass ihm die Pferde den Klee zertrampelten. Ich war einmal hineingelatsch, weil ich einen blauen Schmetterling fangen wollt. Das hatte Loren gesehen, und ich kriegte Backpfeifen. Die Soldaten waren stärker als ich. Er hätte nur kommen und versuchen sollen, die zu backpfeifen!

      Einer mochte wohl der Anführer sein. Dicker als der andere war er. In den Händen hielt er ein großes Papier, und das faltete er über dem Halse des Pferdes auseinander. Sogleich erkannte ich, dass es eine Landkarte war. In Vaters Soldatenbuche gab’s auch Landkarten. Mir schien es jedoch, als sei jene viel schöner. Sie zog mich so heftig an, dass ich nicht widerstehen konnte. Ich wartete in der verbotenen Wildnis. Beinahe hätte mich das Pferd mir den Hufen geschlagen. Es hupfte fortwährend wegen der vielen Bremsen. Mit dem Pferde zappelte die Landkarte, so dass ich die Striche und die Punkte nicht ordentlich sehen konnte. Mein Blick verfing sich in einem Blumenstreif in Görlichs Weizen. Der war rot und blau und gelb du viel schöner als die Farben in meinem Tuschkasten. So nahe dabei war ich nie gewesen.

      Schon wieder Soldaten auf Pferden! Droben auf dem Berge hinter dem Weizen bei der Sandgrube. Drei – vier – fünf. Sie konnten nicht weiter, die Grube war zu tief. Sie schossen auf uns mit Pistolen. Jeder einmal. Dann schwenkte sie um und waren weg. Die beiden Soldaten im Klee erschraken vor dem Schießen und sausten davon. Wie der Wind ging‘s über den Zaun weg durch den Garten, über den anderen Zaun, über die Gasse, schrägüber durch die Hofenrüben zum Dominium. Der Anführer sprang mit seinem Pferde hoch hinweg über den Staketenzaun in den Schlosspark, der andere ritt an den Zäunen entlang und bog dann um die Ecke. Das alles sah ich ganz deutlich, und ich wunderte mich, dass sie sich so ängstigten, da ihnen die anderen ja gar nicht mehr nachkamen. Ein Stück unseres Zaunes hatten sie umgeritten, die Latten lagen bei den Gurken. Ich blieb im Klee und wartete auf die fünf Reiter. Ein brennendes Verlangen, sie noch einmal zu sehen, noch einmal das Schießen zu hören, hielt mich so in Bann, dass ich nicht auf das Rufen der Mutter achtete. Sie kam gesprungen, gam mir eins auf den Kopf und riss mich fort.

      „Stieht mer bei, ihr verzehn Nuthalfer!“ schrie sie. „Dir war ich reihalfen! Leeft der tälsche Drähniegel mitten nei ei Krieg! ‚s a Gootswunder, dass dich de Östereicher nich hon mausetut geschussen!“

      In der Werkstatt verklagte sie mich beim Vater. Der nahm den Zollstock und wollt mich wichsen. Aber er verhieß mich nur. Ich durfte nicht mehr zur Haustür hinaus, solange der Krieg dauerte und die Österreicher da waren. Er drohte, mir alle Knochen entzweizuschlagen, wenn ich nicht gehorchte.

      „Siehste naus, do biste weg!“ belehrte mich die Mutter. „Eim Krige wird nich gefackelt. De Östereicher schießen dir glei a Looch ei a Bauch.“

      Offenbarungen überwältigten mich. Aus taumelnden Gedanken löste sich die Erkenntnis, dass ich in einer Schlacht gewesen war. Sie hatte mich nicht befriedigt. Je länger ich über sie nachdachte, desto mehr enttäuschte sie mich. Die in Klars Tanzsaale war hübscher. Warum wollten mir die Österreicher ein Loch in den Bauch schießen? Hatten sie aufgehört, gute Leute zu sein? Hielten sie schon wieder drüben an der Sandgrube? Oder warteten sie im Klee, bis ich zur Haustür hinauskommen würde? Ach, wenn ich sie doch sehen könnte! Johann Schie sagte, sie seien von Zuckmantel herübergekommen. Nach Zuckmantel ging manchmal die Prosession.

      Ich stahl mich durch den Hausgang in den Stall. Dort stand ich auf dem Melkschemel am offenen Fenster, dicht bei der Kuh. Ihr Maul berührte mich, und ich spürte die Hörner im Rücken. Da bog ich mich weit hinaus und klammerte mich ans Fensterholz. Der Blick umfasste die Bilder bis zur Kirche hin. Von der Sandgrube sah ich nur ein Stückchen. Ob die Österreicher unser