Paul Barsch

Paul Barsch erzählt


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Vater ging in den Hof. Hastig zog ich den Kopf zurück und suchte mit den Füßen den Melkschemel. Er fiel um, und ich purzelte hinab und lag unter der Kuh. Ehe sie mich treten konnte, war ich schon weggekrochen. Der Vater pfiff mir. Er mochte denken, ich sei wieder in den Krieg gelaufen. Hurtig sprang ich hinaus.

      Im Schuppen wurden die Bretter gestapelt, die der Brettmann gebracht hatte. Die Mutter half dem Vater, und ich musste die Querhölzer legen. Sie freuten sich, dass die Österreicher danebengeschossen hatten und dass ich noch lebte. Mich aber freute das gar nicht. Ich erboste mich, weil es keinen Krieg mehr gab. Wären die Österreicher nicht fortgeritten, so hätte mich der Vater nicht in den Hof und in den Schuppen gehen lassen.

      Auf einmal schrie von seinem Garten her der Sattler. Ich verstand nur, dass die Preußen da seien. Vater und Mutter ließen ein Brett fallen, das sie schon hochgehoben hatten, und liefen auf die Gassen hinaus. Ich mit. Hinten bei der Brauerei waren viele Menschen, und immer neue rennten herzu. Auch der Vater und der Sattler und mit ihnen Steiner und Blasig und viele Weiber und Kinder. Mich hielt die Mutter fest, so sehr ich auch bat und zerrte. Flinten und Helme funkelten. Die Preußen! Eine Schlacht! Für mich gab’s kein Halten mehr.

      „Du bleibst doo!“ gebot die Mutte. „Dich lo ich nimme vum Bändel. Nei giehste!“

      Hinein ging ich zwar, schlüpfte jedoch, einer trotzhaften Eingebung folgend, bei den Stachelbeeren durch die Latten und flüchtete an den Zäunen dahin, gehetzt von der Angst, zu spät zu kommen. Ich kam zurecht. Preußen. Lauter Preußen, kein einziger Österreicher. Aber sie machten keinen Krieg. Neben den Leuten standen sie und wischten sich den Schweiß aus den Gesichtern. Viele tranken aus Bierkusen. Jeder Preuße trug auf dem Rücken einen Tornister und eine ganz dicke Rolle. Mich zog es zu ihnen hin, doch ich musste weit weg bleiben, weil ich mich vor dem Vater fürchtete. Der stand ganz vorn mit den Männern. Ich war bei den Weibern und verkroch mich hinter den Röcken. Klar Josef kam getrabt. Er erzählte den Weibern, sein Vater fahr den Rittmeister nach Neisse zum Doktor. Der Der Rittmeister sei beim Springen über den Parkzaun kopfüber vom Pferde gestürzt und habe sich was gebrochen. Zuerst hätten die Österreicher von der Sandgrube auf ihn geschossen, und da sei ihm nichts passiert. Ich horchte betroffen.

      Einer der Preußen brüllte plötzlich. Die anderen sollten sich in die Reihe stellen und still sein. Er hielt eine Rede über die Schlacht, die ich gesehen hatte. Beim Hinhören vergingen mir die Sinne. Fort lief ich und wusste nicht, wohin. Im Oberdorfe wollte mich Frau Hundeck auffangen. Ich entsprang über den Kirchhof und sauste weiter, immer weiter. Nur ein einziges Gefühl beherrschte mich, und das schrie: Gelogen, gelogen!

      Auf unserem Boden im Stroh fand ich mich wieder. Ich presste das Gesicht zwischen die Schütten und heulte. So war’s ja nicht gewesen, wie es der Preuße bei der Brauerei den anderen Preußen gesagt hatte! Der Herr Rittmeister war nicht wie Blücher auf die Österreicher losgestürmt, und er und sein Bursche hatten nicht gekämpft wie die Löwen. Die Welt in mir war zertrümmert, und ich empfand, dass mich nichts mehr freuen könne, die Österreicher nicht, die Blumen nicht und der Tuschkasten auch nicht. Durch ein finsteres Gewoge leuchtete beständig die Reitergestalt aus dem Tanzsaale: Blücher auf dem Schimmel. Mein besseres Wissen sträubte sich gegen die Behauptung, dass auch der Herr Rittmeister ein Held sei. Mir war’s, als sei dem Blücher dadurch ein Unrecht ohnegleichen geschehen. Der hätte sich nicht vor den Österreichern gefürchtet – der hätte den Säbel geschwungen und den Krieg gewonnen. Etwa hatte der Preuße bei der Brauerei von vergossenem Blute gesagt. Ich wusste, was das heißen sollte, und ich heulte noch stärker. Nicht in der Schlacht hatte der Herr Rittmeister das Blut vergossen, nur, weil er über den Parkzaun gesprungen war. Er hätte ja um die Scheunen weiterreiten können, wie der Bursche. Die zwei hatten nicht einen großen Haufen Österreicher in die Flucht geschlagen, Von selber waren die Österreicher fortgeritten. Gewiss aus Angst. Ich verachtete sie. Tapfer nur war der Blücher, und tapfer war ich. Wegen mir hätte die Österreicher immerfort schießen können, ich wäre nicht ausgerückt. Warum hatte das der Preuße bei der Brauerei den anderen Preußen nicht gesagt? Ich flennte, dass mich der Bock stieß.

      Aus Weh und Zorn schreckte mich der Ruf des Vaters. Mit einem Ruck riss ich mich empor, wischte mir die Augen und flog zur Treppe hinab, schlimmster Ahnungen voll.

      Sie Eltern stapelten Bretter.

      „Dalli, dalli! Gefaulenzt werd nicht.“

      Sie lachten, prügelten mich nicht und waren auch nicht böse. Da wich das Grausen, und mir war’s, als müsste ich flattern wie die Schmetterlinge. Beim Legen der Querhölzer ging es so fix, dass mich die Mutter lobte. Wie gut, dass ich noch lebte!

      Die Glaskrächze

      Wenn in weihnachtlichen Tagen meine Erinnerung wandern geht und forschen fragen will, wie alle die Weihnachtsabende meines Lebens aussahen, dann drängt sich jedes Mal der von 1870 fürwitzig vor und lässt die andern nicht zu Worte kommen. Er lächelt mich mit tränenfeuchten und glückverklärten Augen traulich an, beginnt mit seinem „Weißt du noch, im Schnee, mit der Glaskrächze und den Goldleisten?“ … Und dann erzählt er zudringlich, auch wenn ich keine Lust habe, ihm zuzuhören.

      Von einem zehnjährigen Bübchen berichtet er. Die Mutter schnallte dem Kleinen schwächlichen Kerlchen ein Holzgestell auf den Rücken, das fast so groß wie das Gatter an der Haustür war, und der Vater erteilte ihm Befehle und Unterweisungen. Das geschah in der Behausung eines oberschlesischen Dorftischlers. In dieser Behausung sah es recht wunderlich, ungastlich und ärmlich aus. Eine geräumige, sehr niedrige Stube mit vier kleinen Fenstern, nassen, von Rauch und Ruß geschwärzten Wänden und gekrümmten Deckenbalken, die ganz so aussahen, als könnten sie ihre Last nicht länger tragen, und als würden sie eines Tages mit den Deckenbrettern und dem Estrich nieder stürzen. Der Fußboden war früher gedielt gewesen. Jetzt zeigte er nur noch dürftige Überbleibsel der Dielung, und so wohnte die Familie auf dem nackten Erdreich. Zwei Hobelbänke nahmen zwei Wände für sich in Anspruch. An der dritten Wand standen die Betten, an der letzten der Ofen mit den Küchengerätschaften, den hölzernen Wasserkannen, den Gefäßen für das Viehfutter. Der Tisch, ein Schrank und ein paar zerbrochene Stühle mussten mit bescheidenen Winkeln fürlieb nehmen. Das war die Heimat des Bübchens.

      Ein reicher Bauer hatte als Weihnachtsgabe von einem Zeitungshändler aus der Stadt, der ihm die Romanhefte lieferte, zwei Prämienbilder erhalten, die ihm so wohl gefielen, dass er sie einrahmen lassen und seiner Frau auf den Weihnachtstisch legen wollte. Auf dem einen war die Königin Isabella von Spanien, auf dem anderen das Gefecht bei Nachod zu schauen. Am frühen Morgen des Tages, der den Heilligen Abend bringt, erschien der reiche Bauer beim Tischlermeister und verlangte mit der Bestimmtheit eines hochvermögenden Herrn, der keinen Widerspruch duldet, dass die Bilder bis Abend fertig eingerahmt seien. Er rühmte ihr Schönheit und ihren hohen Kunstwert und verlangte ganz absonderlich schöne Goldrahmen.

      Der Tischlermeister wagte nicht, den Auftrag abzulehnen, obwohl er weder Glas noch Goldleisten im Hause hatte und die Stadt einige Meilen entfernt war. Er betrachtete es als eine ehrenvolle Auszeichnung, dass gerade ihm und keinem der beiden andern Tischler des Ortes die kostbaren Bilder anvertraut wurden.

      Die Mutter hatte keine Zeit, in die Stadt zu gehen, und so fiel dem Bübchen die Aufgabe zu. In der achten Morgenstunde wanderte er mit seiner Krächze bei dichtem Schneegestöber zum Dorfe hinaus in den eisigen Wintermorgen.

      Ihren merkwürdigen Namen hatte die hölzerne Glastrage vielleicht dem Umstande zu verdanken, dass sie durch ihre Schwere den Träger zum Ächzen und Krächzen zwang. Für das Bübchen aber war sie nicht allein viel zu schwer, auch viel zu umfangreich. Wenn es sich ein wenig überrücks beugte, so berührte der Untersatz den Erdboden, während ihm die Rückenwand hoch über den Kopf empor reichte. Für die Breite des Dinges war der Rücken des Knaben viel zu schmal, und es konnte nur durch die Gewalt der Ellbogen und der Hände vor schlimmen Schwankungen gehütet werden.

      Der Weg nach der Stadt war weit, unendlich weit, und die Luft blies den Knirps so scharf an, dass ihm Ohren, Finger und Nase vor Kälte abspringen wollten. Doch er verzagte nicht und klagte nicht. Unterwegs gab es viel zu schauen: Krähen auf den Feldern, eine Windmühle, Soldaten die