Kim Scheider

"Brender ermittelt"


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Grzyek hätte sich am Liebsten an irgendeinen anderen Ort der Welt gewünscht. Nichts war unerträglicher, als das Leid trauernder Eltern, noch dazu, wenn es sich um Eltern handelte, zu denen man eine enge persönliche Bindung hatte.

      Ein uniformierter Beamter habe die Kinder in der Pause aus der Schule abgeholt, hatte Susanne erzählt. Das habe ihr die Sekretärin der Schule erklärt, als sie dort angerufen hatte, weil die Kinder nach Unterrichtsende nicht nach Hause gekommen waren.

      Als sie kurz darauf ihren Mann in der Besprechung bei Hülser angerufen und gefragt hatte, was das sollte, war Herwig sogleich klar gewesen, was das bedeutete. Lorenz hatte die Zeit, die sie noch brauchten, um sich die drohende Gefahr zusammenzureimen, genutzt, um seine Kinder zu entführen.

      Herwig und seine Frau Susanne waren nicht wiederzuerkennen. Mit tränenverhangenen Augen saßen sie Arm in Arm auf der Couch und sahen Grzyek erwartungsvoll an, als habe sie den Ruf, mit einem Fingerschnippen alles wieder gerade richten zu können.

      Als Werter sich telefonisch meldete, war die Kommissarin geradezu dankbar für die Ablenkung.

      “Pass auf, ich habe in der Schule mit der Rektorin gesprochen. Sie ist noch im Haus und wartet auf euch. Torsten wird den Weg dorthin ja kennen. Özkilics habe ich nicht erreicht, beide nicht. Aber laut der Vorzimmerdame beim Sender sind sie auf einer Hochzeit. Die Adresse finde ich noch für euch raus. Ansonsten gibt es noch jemanden, der einen Handschuh bekommen hat. Eine Vivien Meyer, wohl eine Freundin von Anna Lorenz. Bei Haferkorn habe ich es noch nicht versucht, der ist als nächstes dran.”

      Von Freys Päckchen und seinem grausigen Inhalt hatte er schon bei einem früheren Anruf berichtet.

      “Danke”, sagte Grzyek knapp. “Meld dich bitte, sobald du weißt, wo diese Hochzeit ist. Wenn sogar diese Vivien einen hat, dann garantiert auch die Beiden.”

      “Wie geht es Torsten und seiner Frau?”, fragte Werter zaghaft.

      “Den Umständen entsprechend!” Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

      Sie beendete das Gespräch und wendete sich vorsichtig an ihren Vorgesetzten, der trotz seiner kräftigen Gestalt so zerbrechlich und hilflos wirkte, dass es ihr beinahe schon körperliche Schmerzen bereitete, ihn so zu sehen.

      “Ich würde jetzt gerne zur Schule fahren und mit der Rektorin reden. Möchtest du mit?”

      “Ob ich mit möchte?”, brauste Herwig unerwartet heftig auf. “Und ob ich mit möchte! Bin gespannt, was die dazu zu sagen hat, dass meine Kinder unter ihrer Aufsicht einfach weggepflückt werden!”

      Susanne schluchzte neben ihm auf und vergrub ihr Gesicht in einem Kissen.

      Als würde ihm erst jetzt bewusst, dass sie auch noch da war, drehte er sich erschrocken zu ihr um.

      “Soll ich lieber bei dir bleiben?”, fragte er besorgt.

      “Nein, “heulte sie erstickt. “Schnapp dir lieber diese miese Ratte und bring unsere Kinder wieder nach Hause! Ich komm schon klar. Außerdem kommt Nina ja auch gleich.”

      Herwig brauchte keine Minute, dann war er startklar.

      Auf dem kurzen Weg zur Schule versicherte Grzyek sich, dass es ihrer Familie gut ging und deckte sie mit umfangreichen Warnungen ein, während Herwig wie ein Automat funktionierte und den Wagen durch die Straßen lenkte.

      Die aus der Nachmittagsbetreuung der Schule strömenden Kinder erschwerten ihnen das Vorankommen deutlich, so dass sie für das letzte Stück beinahe länger brauchten, als für die gesamte Fahrt zuvor. Hinzu kam, dass Herwig beim Anblick der fröhlichen und glücklichen Kinder beinahe zusammenbrach.

      Als hoffte er darauf, in einem von ihnen eines seiner Kinder zu entdecken, beobachtete er sie und vergaß darüber ganz das Fahren. Erst als Grzyek ihn anstieß und fragte, ob sie lieber übernehmen sollte, kam er wieder in der Realität an.

      „Nein, ist schon in Ordnung“, sagte er mit schwerer Stimme. „Ich schaff das schon!“

      Herwig schüttelte sich, als könne er damit seine Sorgen loswerden und es gelang ihm tatsächlich mit bewundernswerter Selbstbeherrschung die letzten Meter ihres Weges zu fahren und den Wagen zu parken.

      Die Kommissarin fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, ihn mitzunehmen. Nicht nur, dass er eigentlich zu seiner Frau gehörte, dürfte er als Betroffener gar nicht in dem Maße an den Ermittlungen beteiligt sein. Sicher würde es auch nicht mehr lange dauern, bis Hülser dies aufgehen und er Herwig zurückpfeifen würde.

      Scheinbar sah man ihr an, was sie dachte, denn Herwig schüttelte mahnend den Kopf.

      “Vergiss es!”, sagte er. “Ich werde verrückt, wenn ich jetzt zu Hause rumsitze. Ich gehe auf jeden Fall mit rein!”

      Grzyek zögerte einen Augenblick, dann nickte sie. “Gut, von mir aus. Aber bitte, Torsten, auch wenn es dir verständlicherweise schwer fällt, versuch dich zu beherrschen! Noch wissen wir nicht einmal genau was passiert ist, okay?”

      Herwig antwortete nicht, aber sie wusste auch so, dass er im Grunde eine tickende Zeitbombe war.

      Die Rektorin, eine Frau Soest-Klettenberg, kam ihnen schon auf dem Weg zum Rektorat entgegen geeilt.

      “Herr Herwig, es tut mir aufrichtig leid, was da passiert ist”, begrüßte sie ihn mit angemessen zerknirschter Miene und nickte Grzyek kurz zu. “Ich habe eben mit der Lehrerin gesprochen, die ihre Kinder ihrem Kollegen mitgegeben hat. Sie hat mir versichert...”

      “Moment bitte, Frau Soest-Klettenberg”, unterbrach Grzyek sie. “Das waren gar nicht Sie? Ich ging davon aus, dass Sie unsere Zeugin sind?” Was für eine Zeitverschwendung!

      “Nein, das war Frau Gerber, die mit Ihrem Kollegen gesprochen hat“, antwortete die Lehrerin unsicher, als sie Grzyeks Enttäuschung sah. „Aber sie ist noch im Haus. Wir hatten nach Unterrichtsende eine Lehrerkonferenz, deshalb sind wir heute alle noch anwesend.”

      Erleichtert atmeten die Kommissare auf.

      “Dann möchten wir Frau Gerber sofort sprechen!” Die Schärfe in Herwigs Stimme mahnte die Schulleiterin, keine weitere Zeit zu verplempern.

      “Selbstverständlich. Bitte folgen Sie mir, das Lehrerzimmer ist noch ein kleines Stück von hier entfernt.”

      Eilig führte die Schulleiterin sie verschiedene Flure entlang, an leerstehenden Klassenzimmern vorbei. Bunte Frühlingsblumen klebten an den Fenstern der Flure und auch die Wände waren mit zahlreichen Kunstwerken der Kinder dekoriert. Unter anderen Umständen hätte es sich sicher gelohnt, die Bilder und Skulpturen genauer zu betrachten, selbst im Vorbeieilen ließ sich erkennen, was für eine erstaunliche Qualität die Werke der Kinder besaßen.

      Als sie um die nächste Ecke bogen, verschwand alles heimelige und gemütliche und machte Schränken mit nüchternen Arbeitsmaterialien und riesigen Tafeln mit Unterrichtsplänen und Klassenlisten Platz.

      Aus einer Tür zu ihrer Linken traten gerade zwei Lehrerinnen heraus und unterhielten sich miteinander.

      “Ich werde mich dann gleich noch an die Lernstandserhebungen setzen dürfen”, klagte die eine und griff nach ihrer Tasche, die prall gefüllt mit Unterlagen war.

      “Oh, mein Beileid. Da hast du ja noch was vor dir.”

      “Ja”, stöhnte sie. “Und das nach dem Tag...”

      Beide machten Anstalten, davon zu gehen, doch Herwig war schnell bei Ihnen.

      “Wenn ich die Damen zunächst noch einmal zurück ins Lehrerzimmer bitten dürfte”, sagte er und Grzyek spürte, wie sehr er sich zusammenreißen musste. “Hauptkommissar Herwig und meine Kollegin, Kommissarin Grzyek, Kripo Köln”, fügte er hinzu. “Wir haben da ein paar Fragen an Sie und das Kollegium.”

      Gemeinsam mit den Lehrerinnen betraten sie den Raum, in dem überall kleinere Grüppchen zusammen standen und in ihre Gespräche vertieft waren. Erst als Frau Soest-Klettenberg sie alle um Aufmerksamkeit bat und die Polizeibeamten