Ellen Sommer

Ich träum von dir...


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entdeckte. Zuzutrauen wäre ihr, dass sie mich noch nicht einmal ins Haus lassen, geschweige denn ein Gespräch mit mir führen würde. Ich war am Ende der Stunde völlig erledigt. Das war jetzt ganz schlecht. Entsprechend übel fiel meine mündliche Note für heute aus und ich war froh, als die 45 Minuten endlich vorbei waren und ich lossprinten konnte, um nicht bei Miss Ibben in Englisch zu spät zu kommen. Auf Liedersingen im Altenheim am kommenden Wochenende hatte ich definitiv keine Lust. Ich schaffte es sogar, vor Lille und Sara im Klassenzimmer zu sein. Auch wenn ganz tief im Bauch mein schlechtes Gewissen an mir nagte, freute ich mich auf Lille. So ganz verstand ich nicht, woran ich mich erinnerte. Aber jetzt war wieder nicht die Zeit, dass ich mir Gedanken dazu machen konnte und ich versuchte, halbwegs aufmerksam dem Unterricht zu folgen und mir vor Lille nichts anmerken zu lassen. Sie warf mir zwischendurch allerdings immer wieder fragende Blicke zu, sodass ich mir sicher war, dass ich mit meinen schauspielerischen Leistungen heute bestimmt keine Oscarnominierung bekäme. Aber sie sagte nichts und schrieb auch keinen Zettel. Vielleicht hatte ich Glück und konnte sie noch eine Weile hinhalten wegen des „Nachschocks“ durch den Fast-Unfall. Das würde meine heutige Strategie sein, entschied ich und verdrängte mein schlechtes Gewissen noch ein bisschen weiter. Mir war total klar, dass ich irgendwann mit ihr sprechen musste, aber sie wusste ja noch gar nicht, dass ich mich jetzt an den vorangehenden Unfall so glasklar erinnerte, als wäre er heute passiert und sie konnte nicht ahnen, was mich die ganze Zeit so beschäftigte. „Dear Christopher, please let us know, why you are looking so moody today“, riss mich Miss Ibben aus meinen Gedanken. Ich hätte mich innerlich ohrfeigen können, dass ich schon wieder nicht aufgepasst hatte. Also setzte ich mein freundlichstes Lächeln auf und versuchte herauszufinden, worum es diesmal in der Englischstunde ging. Lille tippte netterweise auf den letzten Satz in der Lektüre und ich sah, dass wir heute den Part in Romeo und Julia hatten, in dem er sich umbringt. „Ähm, ich habe nur grad gedacht, dass es ja komplett irre ist, sich einfach umzubringen“, versuchte ich auf gut Glück eine Ausrede für meinen „finsteren Blick“ zu finden. Miss Ibben strahlte mich an, denn offensichtlich hatte sie genau dieses Thema gerade besprochen. Puh, das war knapp… Lille lächelte ganz süß von der Seite und ich riss mich zusammen und passte jetzt richtig auf, was mir aber extrem schwerfiel. In der Pause kamen wir nicht dazu, über irgendwas Persönliches zu sprechen, weil Jack wohl irgendwie mitbekommen hatte, dass ich heute Morgen fast mit dem Schulbus kollidiert wäre und mich dazu genau befragte. Kann man mich nicht einfach mit Lille in Ruhe lassen? Irgendwie nervten mich heute alle und ich wäre am liebsten gleich heimgefahren. Ging aber natürlich nicht. Lille fauchte Jack schließlich an: „Mensch Jack, merkst du nicht, dass es Chris total unangenehm ist, jetzt ständig dran erinnert zu werden, dass er fast wieder einen Unfall hatte? Jetzt reicht´s langsam!“ Ich wusste gar nicht, dass sie so zickig sein konnte. Und dann zog sie mich aus der Pausenhalle und ging mit mir hinter den Pavillon, wo sie mich gleich in ihre Arme nahm und küsste. So sah der Tag doch gleich viel netter aus. Viel zu kurz war unsere Pause und wir rannten die Treppen zu Kunst hoch. Ich hatte irgendwie ein Déjà-vu, als wir wieder Mal zu spät kamen und Herr Späth uns erstaunt anblickte, wie an Lilles erstem Schultag vor 2 Monaten. Diesmal hatte ich spontan keine Ausrede parat und auch Lille musste erst einmal Luft schnappen, nach dem Sprint ins 6. Stockwerk. Schlussendlich brummte uns Herr Späth eine Zusatzhausaufgabe auf, die wir bis Mittwoch fertig stellen sollten. Wir hätten uns vielleicht besser vorab eine Ausrede einfallen lassen sollen. Unsere Portraits hatten wir letzte Woche ja schon abgegeben und jetzt stand Linoldruck auf dem Plan. Wir sollten ein Mehrfarbenbild erstellen. Lille wählte das „blaue Pferd“ von Franz Marc. Ich schwankte zwischen einem Bild von Paul Klee oder Matisse. Vermutlich wäre beides, wegen der vielen kleinen Teile und unterschiedlichen Farben, extrem schwer zu schnitzen. Doch jetzt hatte mich der Ehrgeiz gepackt und ich legte los.

      Lille

      Chris legte sich in Kunst so richtig ins Zeug und ich merkte, dass er jetzt wirklich was brauchte, um seine Hände und den Kopf zu beschäftigen. Ich freute mich schon beim Zusehen, dass sich seine Laune im Laufe der Kunststunde deutlich besserte. Während ich die Umrisse von dem Pferd abpauste, hatte ich Zeit zum Nachdenken. Ich überlegte mir, wie ich seine Laune noch weiter bessern könnte, wenn wir nach der Schule noch Zeit füreinander hätten. Da fiel mir plötzlich ein, dass heute Nachmittag ja schon wieder einer von Omas legendären Einkaufstagen auf dem Plan stand, weil sie Adventsdeko brauchte. Nächste Woche wollte ich mit Chris zum Amykonzert nach Düsseldorf fahren, da würde es nicht gehen. So was Blödes! Wo Chris doch jetzt endlich ein eigenes Zimmer hatte und es gestern so schön bei ihm war. Ob er da auch noch dran dachte? Ich linste zu ihm rüber, aber er war so konzentriert bei seiner Zeichnung, dass er das gar nicht mitbekam. Von mir aus könnte gleich wieder Wochenende sein. Ich musste wohl ziemlich dämlich geguckt haben, denn Sandy kicherte über meinen Gesichtsausdruck und das Nächste, was ich mitbekam, war Herr Späth, der neben meinem Tisch stand und mein Bild anstarrte. „Das ist aber ein einfaches Bild, das sie sich da ausgesucht haben. Das könnte man auch von einem Sechstklässler erwarten“, war sein Kommentar. Ich wurde auf der Stelle rot. Konnte ja nicht jeder so ein Malgenie sein wie Chris. Das fand ich jetzt richtig fies. Chris blickte hoch, strich sich seine schwarzen Haare aus dem Gesicht und starrte ihn kurz mit zusammengekniffenen Augen an und widmete sich wieder seinem Kram während er leise vor sich hinbrummte: „Nee, in der 6. Klasse mussten wir ein schwarz-weiß Bild machen – da wären mehrere Linolbildchen zeitlich gar nicht drin gewesen.“ Herr Späth fiel auf die Schnelle keine Antwort ein und ich war überrascht, wie schnell er heute aufgab – sonst hatte er doch immer das letzte Wort. „Danke“, flüsterte ich Chris zu und erntete nur ein schiefes Lächeln. Er war wirklich hochkonzentriert bei seinem Bild. Wie er die vielen kleinen Kästchen akkurat ausschnitzen wollte, war mir ein Rätsel. Ich hätte mir garantiert schon mindestens zwölf Mal den Finger abgesäbelt mit dem Schnitzmesser. Linolschnitt mochte ich noch nie. Allein der Geruch der Platten machte mir Kopfschmerzen, von diversen Schnitten und Kratzern an den Fingern abgesehen. Was ich wiederum mochte, war es, die Farbe auf die Platte zu rollen, das gab so witzige Schmatzgeräusche. Ich fand es außerdem immer wieder spannend, wie dann am Schluss das gedruckte Bild aussah. Zum Glück war die Doppelstunde heute schneller um, als gedacht und auch der Rest des Schultages zog sich nicht so, wie sonst. Leider musste Chris heute kurzfristig wieder im Restaurant aushelfen und verschwand gleich nach der Biostunde, nachdem er mir einen kurzen Abschiedskuss vor dem Klassenzimmer gab. Ich hoffte, dass es jetzt draußen nicht mehr so glatt war. Nicht, dass ihm doch noch was passierte! Oma wartete daheim schon mit einem Imbiss, damit wir gleich losfahren konnten, um die Adventsdeko zu besorgen. War mir ganz recht, vermutlich würde sie zum Abendessen dann doch wieder reichlich auftischen, aber jetzt schaffte ich den Imbiss schon nur mit Mühe, weil mir etwas schlecht war. Ich machte mir ziemliche Sorgen um Chris und das schlug mir auf den Magen. Wir fuhren zu einem ganz speziellen Bastel- und Dekogeschäft. Ich würde selber nie noch ein zweites Mal dorthin finden, denn es war in einem ziemlich abseits gelegenen Kaff. Oma kannte die Inhaberin seit Jahren. Wir wurden erst einmal mit einem Adventstee und selbst gebackenen Plätzchen empfangen. Hier sah es schon richtig weihnachtlich aus. Frau Holler hatte ihren Bauernhof drinnen und draußen schon auf Weihnachten dekoriert und es fehlte eigentlich nur noch der Schnee. In jedem Zimmer hatte sie andere Farben für die Deko verwendet. Es gab ein rot-weißes, „klassisches“ Weihnachtszimmer mit schwarzem Klavier und einem geschmückten Tannenbaum. Das fand ich dann doch etwas übertrieben – wir hatten gerade Mal Mitte November. Aber Frau Holler hatte sich wirklich überall ausgetobt, von einem weißen Zimmer, über gold-kitschigem Wohnzimmer, silbern dekoriertem Esszimmer und knallbuntem Kinderzimmer mit mehreren neonfarbigen Lichterketten. Mir wurde langsam schlecht vom Umsehen. Es blinkte und leuchtete aus allen Ecken und dazu kam der Zimtgeruch der Weihnachtskerzen. Ich musste ganz schnell hier raus. Eigentlich mochte ich Weihnachten sehr – aber nicht in kitschig und schon gar nicht bei Plusgraden. In Landshut hatten wir ziemlich oft weiße Weihnachten und ich liebte unsere Weihnachtsengelchen auf dem Kamin und die selbstgebastelten Strohsterne. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich dieses Jahr gar nicht mit meinen Eltern in Landshut feiern würde und dass der Weihnachtsbrunch bei Judys Eltern auch ausfiel. Plötzlich hatte ich einen ziemlichen Kloß im Hals und ich nahm meine Jacke vom Ständer und trat vor die Haustür. Zu allem Überfluss fing es jetzt auch noch an zu nieseln - meine Laune sank noch mehr. Jetzt bloß nicht losheulen, dachte ich, als mir spontan doch die Tränen in die Augen schossen. Was war