Ellen Sommer

Ich träum von dir...


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ergangen. Man möchte ja nicht den Freund der Enkelin in deren Bett erwischen – ob angezogen oder nicht. Ich war froh, dass ich wenigstens meine Sachen angehabt hatte und nicht direkt in ihrem Bett gewesen bin, sondern nur davor, sonst wäre es doppelt peinlich gewesen. Bei dem Abgang durchs Fenster hatte ich mir die Hände an einer der Dachpfannen aufgeschürft und es hatte ein paar Tage gedauert, bis es beim Händewaschen nicht mehr gebrannt hatte. Davon war jetzt zum Glück nichts mehr zu sehen. War schon peinlich genug gewesen, beim Handball mit zwei Bandagen um die Handflächen aufkreuzen zu müssen. Ich war mir bis heute nicht sicher, ob Holger mir meine Entschuldigung abgekauft hatte oder ob er doch ahnte, dass was anderes dahintersteckte, als ich ihm gesagt hatte. Lille lächelte mich von der Seite immer wieder lieb an und ich wäre am liebsten mit ihr rausgegangen. Sie mühte sich ganz schön ab mit dem Linolschnittmesser und man sah genau, dass sie diese Kunsttechnik nicht mochte. Immer wieder schlich Herr Späth um unseren Tisch herum und suchte nach Fehlern. Zum Glück schnitze Lille so langsam, dass nicht viel schiefging und die erste Platte trotzdem schon fast fertig war. „Ich habe die ganze Zeit Schiss, dass ich mir das doofe Messer in die linke Hand ramme und den Finger abschneide“, raunte sie mir zu, als Herr Späth außer Hörweite war. „Na, so schnell geht der Finger nicht ab“, flüsterte ich zurück. „Ich habe einmal meinen Daumenballen erwischt: Es hat Wochen gedauert, bis der wieder zugeheilt war. Das will ich nicht noch mal erleben“, teilte sie mir mit. Ich musste grinsen. Manchmal übertrieb Lille es maßlos. Aber ich fand genau das süß an ihr. Wie eigentlich alles andere auch. Nach Kunst hatte sie Mädchensport und ich brachte sie noch bis zu den Umkleiden. „Ich warte dann nach der Schule an der Treppe auf dich. Ich habe den zweiten Helm immer noch.“ Das fand sie gut. Und ich freute mich irgendwie schon auf heute Nachmittag.

      Lille

      Chris und ich stiegen von seinem Motorrad. Er hatte die Suzi extra etwas weiter die Straße runter geparkt, damit Oma nicht mitbekam, dass ich bei ihm mitgefahren war. Ich gab ihm den Zweithelm und drehte mich zu Omas Haus um. Es war nicht so ganz klar, ob sie ihn reinlassen würde, immerhin waren die Zusammentreffen der beiden bisher nicht besonders prickelnd verlaufen. Chris sagte nichts, als ich meinen Schlüssel aus der Jackentasche zog und die Haustür aufschloss: „Hallo Oma, ich bin wieder da!“, rief ich. Keine Reaktion. Komisch, es roch auch nicht nach Mittagessen. War sie ausgerechnet heute nicht da, wo Chris dabei war? Sie war doch sonst immer da, wenn ich mittags aus der Schule kam. Wir gingen in die Küche. Dort sah alles noch so aus wie heute Morgen. Nur der Frühstückstisch war abgedeckt. „Seltsam“, murmelte ich und suchte nach einer Nachricht auf dem Küchentresen. Wenn sie weggefahren wäre, hätte sie mir doch einen Zettel hinterlassen. „Sie scheint nicht da zu sein“, stellte Chris fest und zog mich kurz an sich, um mir einen Kuss zu geben. Für einen Moment lenkte er mich damit ab, aber irgendwie hatte ich eine komische Vorahnung. „Chris, ich habe so ein mulmiges Gefühl…“, flüsterte ich. Ich weiß nicht, warum mir plötzlich die Stimme wegblieb. Ich zog ihn ins Wohnzimmer, auch dort war sie nicht. Als nächstes schaute ich in ihrem Schlafzimmer nach. Chris blieb derweil im Flur stehen. Dort hing auch noch ihre Jacke. „Vielleicht ist sie im Garten?“ Wir gingen durch die Hintertür raus. „Oma?“ – es kam keine Antwort. „Ihr wird doch nichts passiert sein?“ Chris zuckte mit den Schultern und legte seinen Arm um mich: „Hat sie ein Büro, oder so?“ Ja, hatte sie, aber sie hatte mir beim Einzug strengstens verboten, hineinzugehen, wenn sie nicht da war. Tja, jetzt war sie offensichtlich nicht zu Hause oder sie war genau dort und hatte uns nicht gehört. „Ja, dort können wir noch nach ihr suchen.“ Wir gingen wieder rein. Auf der Kommode im Flur sah ich jetzt ihr Handy, es war mir vorhin gar nicht aufgefallen. Anrufen fiel also auch flach. Ich ging mit ihm den Flur runter. Gleich neben der Küche war Omas Arbeitszimmer und ich klopfte vorsichtig an. Keine Antwort. Ich drückte die Klinke herunter und war froh, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Wir traten leise in den Raum und schauten uns um. Er schien leer zu sein. Durchs Fenster kam wenig Licht rein, die Vorhänge waren fast zugezogen. Ich ging durch das Zimmer und zog erst einmal die Vorhänge komplett auf. Jetzt war es schon mal deutlich heller. „Oma?“, rief ich fragend. Auch jetzt kam keine Antwort. Ich ging um das Sofa herum, weil ich dachte, sie schläft vielleicht und hört uns nicht. Doch auch auf dem Sofa lag sie nicht – mein Blick fiel zum Webstuhl in der Nische und dort, vor dem Webstuhl lag Oma auf dem Boden, das Schiffchen noch in der Hand. Ich keuchte erschrocken auf. Chris und ich kamen gleichzeitig bei ihr an und stießen fast zusammen, als wir auf die Knie gingen und nach ihrem Puls fühlen wollten. Dabei berührte ich das Schiffchen. Ein plötzlicher Lichtflash ließ mich zurücktaumeln und auf einmal flackerten Bilder vor meinen Augen auf, ruckartig, wie bei alten schwarz-weiß Filmen aber in grellbunten Farben. Ich schloss die Augen und ließ das Schiffchen fallen. Trotzdem hörte die Bilderflut nicht auf. Da waren Bilder von Oma, mir, meiner Mutter und ganz vielen unbekannten Frauen, die webten und alles Mögliche machten. Und zwischendrin flackerten immer wieder Bilder von Chris auf. Chris, wie er lachte, wie er ernst schaute und wie er mit Motorradkluft auf dem Boden lag. Daneben seine komplett zerstörte Suzi. Ich war entsetzt – wie konnte ich Bilder von Chris Motorradunfall sehen, der vor meinem Einzug bei Oma gewesen war? Ich schrie auf, hoffte, dass die Bilder aufhörten, aber es ging weiter. Ich sah MICH, blass, kalt und mit Verband um den Kopf in einem Krankenhausbett. Die Augen geschlossen, verschiedene Maschinen und Schläuche um mich rum und in meinem Gesicht. Ich schrie noch einmal auf und dann merkte ich, wie plötzlich alles ganz schwarz um mich herum wurde…

      Chris

      Jetzt hatte ich ein RIESENPROBLEM! Lilles Oma lag bewusstlos vor dem Teppich, an dem sie gewebt hatte, Lille hielt sich erschrocken die Hände vors Gesicht und schrie aus Leibeskräften. Mir brach der Schweiß aus. Was tun und in welcher Reihenfolge? Als erstes tastete ich nach Omas Puls, stellte fest, dass er zwar schwach, aber regelmäßig war und damit hatte sich für mich erübrigt, zu schauen, ob sie atmete. Ich drehte sie in die stabile Seitenlage und hoffte, dass sie durchhielt, bis der Krankenwagen kam. Als nächstes rannte ich in den Flur und schloss die Tür zum Arbeitszimmer. Mit der im Hintergrund hysterisch kreischenden Lille hätte mich in der Rettungszentrale sonst niemand gehört. Gut, der Krankenwagen war also angeleiert. Sicherheitshalber machte ich auch die Haustür auf und ging zurück ins Arbeitszimmer, um mich um Lille zu kümmern. Diese schrie derweil nicht mehr, sondern lag in sich zusammengesackt neben Oma. Na bravo, jetzt war sie auch noch ohnmächtig geworden! Ich hob sie hoch und legte sie aufs Sofa. Ich strich ihre Haare aus dem Gesicht und ging nach nebenan in die Küche, um ein Geschirrhandtuch nass zu machen. Dieses legte ich auf ihre Stirn und streichelte ihre Wangen. „Lille, wach auf, alles wird gut!“, wiederholte ich gebetsmühlenartig und hoffte, dass tatsächlich alles gut würde. So ein Pech, dass Oma ausgerechnet heute schlappmachte, wo ich sie endlich zu meinem Unfall und dem Mädchen im Koma befragen wollte. Ich hätte am liebsten geschrien vor Wut. Noch viel lieber hätte ich jetzt gerne etwas kurz und klein geschlagen. Stattdessen saß ich neben Lille, versuchte sie zu wecken und wartete wieder auf einen Krankenwagen. Diesmal kamen sie deutlich schneller als neulich bei meiner Tante. Es war zum Glück nicht das gleiche Team und ich atmete erst einmal erleichtert auf, als sie mich zu der Situation hier befragten. „Lille und ich kamen nach der Schule hier an und haben ihre Oma vor dem Webstuhl bewusstlos aufgefunden“, erklärte ich einigermaßen schlicht und gefasst. „Dann hat Lille einen hysterischen Anfall bekommen und ist selber aus den Latschen gekippt.“ OK, das war jetzt nicht besonders sachlich, aber wer konnte mir das verübeln? Meine Freundin lag hier ohnmächtig auf der Couch und ich machte mir langsam richtig Sorgen. Die Sanitäter kümmerten sich als Erstes um Oma, die ja schon länger dalag und baten mich, Lille zur Seite zu rollen, sodass sie auch in einer stabilen Seitenlage lag, bis sie sich auch um sie kümmern konnten. Oma war schnell auf eine Liege verfrachtet – sie war ja relativ klein und zierlich. Bei Lille wurde der Blutdruck gemessen und sie verzog schmerzvoll ihr Gesicht. Ich war heilfroh, dass sie reagierte und ihre Augen aufschlug und mich ansah. „Chris“, flüsterte sie. Ich nahm ihre Hand und drückte sie. „Ich bin da, Lille.“ „Was machen wir mit Oma?“, fragte sie als nächstes. Der Sanitäter drängte sich zwischen uns. „Hallo Lille, ihre Oma nehmen wir mit ins Krankenhaus und lassen sie dort durchchecken. Ich bin aber sicher, dass es nichts Ernstes ist, das EKG ist nämlich völlig in Ordnung. Also ein Herzinfarkt scheidet schon einmal aus, aber sicher ist sicher.“ Lille nickte und versuchte, sich aufzusetzen. Dabei schien es ihr aber schwindelig zu werden und sie ließ sich wieder aufs Sofa fallen. „Chris, könntest du mir bitte