Angelika Merkel

Vermächtnis der Sünder Trilogie


Скачать книгу

zu kommen schien. Es setzte sich aus Pergamentbögen unterschiedlichster Größen zusammen und verlieh dem Ganzen eine wilde Unregelmäßigkeit. Sie hatte es bereits in Händen gehalten – das Zauberbuch der alten Hexe Thiamet. Eines dieser Seiten des Folianten lugte heraus. Es schien sich vorwitzig nach außen zu drängen. Mit zitternder Hand zog Celena an dem Blatt. Es entpuppte sich als ein loses einzelnes Pergament. Mit Tinte geschrieben, stand dort: Die Götter benötigen uns. Was jedoch fordern wir von ihnen? Und unter diesem war mit nur einem Buchstaben unterzeichnet – M wie Morena.

       * * *

      »Jetzt! Spring!«, donnerte die tiefe Bassstimme. Mit klopfenden Herzen fuhr Lutek aus seinem Schlaf empor. Der Traum! Er war wieder erschienen. Diesmal hatte er alles deutlicher vernommen und er war nicht gefallen. Er war tatsächlich gesprungen. Das Echo des sonoren Basses klang in seinem Bewusstsein nach. Diese Vision – sie klang nicht bedrohlich. Es war ihm, als ob es ihn antrieb. Zu was? Und wohin? Es beunruhigte ihn. Er blickte zu der Frau neben sich, welche sich murmelnd hin und her rollte. Offenbar konnte sich auch seine Gefährtin nicht in einen ruhigen Schlaf ergeben. Vielleicht hatten ihre Träume ihn angesteckt. Ergeben beobachtete er sie. Er wollte sie nicht wecken. Doch als ob sie seine Gedanken gespürt hatte, blinzelten ihre Augen. Die Lider, deren geschwungenen Wimpern die Seele wie Gitterstäbe verschlossen, öffneten sich zögernd. Schließlich aber sahen die klaren, blauen Augen Lutek an. »Stimmt etwas nicht! Ist alles in Ordnung?«, wollte die dunkelhaarige Frau an seiner Seite wissen. »Sicher! Ja!« Die Frage verwirrte ihn. Spiegelte sich sein Traum in seinen Augen wider? Erblickte Celena seine Unsicherheit in seinem Gesicht? Sofort versuchte er, diese zu verbannen. Vergeblich. Sie bohrte nach. »Dein Gesicht sagt mir etwas anderes. Schlecht geträumt?« Er schüttelte sein rothaariges Haupt. »Ich? Nein, nicht schlecht! Und du?« versuchte er vom Thema abzulenken. »Wie man es nimmt und darunter verstehen mag«, orakelte Celena. »Dich beunruhigt was?«, flüsterte sie weiter. Anstatt darauf zu antworten, schälte sich Lutek aus der Decke heraus, entstieg dem Lager und präsentierte seinen durchtrainierten, schlanken und von Muskeln perfektioniert geformten Körper. Narben auf seinem Rücken schimmerten im Licht und erinnerten Celena schmerzhaft an die begangenen Untaten an Lutek. Er hatte nie über die Details darüber mit ihr gesprochen. Stets hatte er abgeblockt, wenn sie versuchte, darüber zu reden. Sie wollte lediglich mehr erfahren, um die Verantwortlichen dieser schrecklichen Tat zur Strecke zu bringen. Er ließ es nicht zu. »Es ist nichts! Ich …« »War es wieder dieser Traum?« Lutek wirbelte zu ihr herum. In seinen Augen glänzte Melancholie und die erweiterten Pupillen zeugten von Furcht. Er fürchtete nicht den Traum. Viel eher fürchtete er das, was er tun musste. Celenas forschender Blick blieb auf ihn haften. Stumm nickte er. Sein Brustkorb hob sich, als er die Luft tief in sich hinein sog. »Ich habe ihn seit unserer ersten Begegnung damals in Giret nicht mehr geträumt. Bis heute. Er ist deutlicher geworden. Ich habe das Gefühl, das er mir etwas sagen möchte.« »Der göttliche Schöpfer?« »Du hast nie wirklich daran geglaubt, richtig?« Dieses nachdenkliche Grübeln, das Stirnrunzeln, welches Celena kleine Furchen ins braun gebrannte Gesicht trieb, hatte er in der Vergangenheit öfter gesehen. Meist dann, wenn sie glaubte, unbeobachtet zu sein. »Die Schöpferhäuser sagen, er sei von uns gegangen und käme erst wieder …«, sprach sie nach einer Weile des Schweigens. »… wenn wir glauben und die Melodie des Lichts aus allen vier Ecken der Welt erklingen wird«, vollendete Lutek. »Ich weiß. Doch ich kann … ich kann …« »Was, Lutek? Was kannst du?« »Ich höre ihn! Ich kann deutlich seine Stimme vernehmen.« In der Stirn Celenas gruben sich erneut Furchen. Unverhofft schwang sie die Decke zur Seite, entstieg ebenso unverhüllt der Schlafstatt und trat zu ihrem Geliebten. Unergründlich blickten ihre Augen Lutek an, dann nahm sie ihn in ihre Arme. »Ich glaube! Erst durch dich fing ich an zu glauben«, hörte er das verlockende Wispern Celenas an seinem Ohr. Er spürte ihre warme, weiche Haut auf der seinen. Er spürte das Heben und Senken ihrer Brust bei jedem Atemzug, während sie sich an ihm schmiegte. Lutek ergab sich dem Frieden im Herzen und gemeinsam sanken sie zurück auf das Lager.

       * * *

      Sanft strich Celena über den muskulösen Schenkel neben sich. Ihr Blick suchte im Gesicht des Geliebten nach Antworten, während in ihr die letzten Augenblicke ihrer zärtlichen Umarmungen der Wonne nachhallten.

       »Ich muss dich verlassen!«

       Die hauchenden Worte Celenas ertönten wie ein Schrei in seinen Ohren. Er blinzelte sie an.

       »Es ist unausweichlich!«

       Er hatte es befürchtet. Tief in seinem Inneren hatte er es gewusst, das es eines Tages soweit kommen musste.

       »Ich weiß!«

       »Du … du bist nicht erstaunt, nicht traurig?«

       »Ich weiß, dass du nach Antworten suchst.«

       Sie presste die Lippen aufeinander. »Ja«, flüsterte sie.

       Lutek betrachtete die Holzdecke über sich. Sein Herz klopfte, aber auch er musste etwas gestehen. Er drehte seinen Kopf zur Seite, stemmte sich auf und blickte in das Gesicht Celenas.

       »Es gibt da etwas, was du nicht weißt. Ich will nicht, dass dies zwischen uns steht«, gab er zu. »Auch ich suche nach Antworten.«

       »Was ist es?«

       Celena sah ihn mit nassglänzenden Augen an.

       »Es ist … nein, ich kann es nicht.« Lutek stockte.

       Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Seine Stimme versagte. Nein, es ging nicht. Das wäre ein Fehler!

       »Dann … finde deine Antworten und ich suche die Meinigen«, meinte sie tieftraurig.

       Das Gefühl, welches in ihr in diesem Augenblick aufbrodelte, war überwältigend. Unsichtbar bäumte sich ihre Seele auf.

       Celena suchte krampfhaft nach der inneren Stärke. Jene Stärke, die sie in all der Zeit als San-Hüterin der "Anderen" nur in einem gefunden hatte. Hier und jetzt galt alles oder nichts.

       »Ich finde dich, Lutek. Egal wo du bist. Das verspreche ich. Ich komme zurück zu dir!«

       Ein Lächeln stahl sich in sein Gesicht.

       »Du bist süß. Aber du sagtest einmal selbst: Alles ändert sich.«

       Celena nickte. Ihre Worte klangen zaghaft, widerspenstig und trotzig zugleich.

       »Das sagte ich einmal. Doch ich hatte mich geirrt. Zumindest in dieser Sache. Und ich weiß, ich glaube an dich. Genau das habe ich durch dich gelernt. Ich habe nicht vor, das zu vergessen. Wir werden uns wiedersehen und nichts wird uns dann jemals trennen können. Glaube kann nicht irren. Es hat nichts mit Logik zu tun. Kannst du dich erinnern?«

       Leise und halb erstickt entrang sich ein Lachen aus Luteks Kehle.

       »Es stimmt – du bist schrecklich romantisch.«

       »Versprich es mir.«

       »Versprechen können gebrochen werden!«

       »Versprich es vor dem göttlichen Schöpfer.«

       Schrecken flackerte für einen winzigen Moment in Luteks Augen auf. Unsicherheit und Zweifel dieses Versprechen nicht einhalten zu können, breitete sich in ihm aus. Dann aber drängten Zuversicht und Gewissheit die Ängste zurück, als er an den ersten Tag seiner Begegnung mit Celena zurückdachte. Er war sich damals, wie heute sicher, das der Schöpfergott ihn in dieses Land gesendet hatte, um Celena zu finden. Er hatte daran geglaubt, so wie jetzt auch.

       Celena strich ihm in diesem Augenblick durch sein fuchsrotes Haar. »Der Glaube ist das, was wir haben«, hauchte sie ihm zu.

       »Glauben an uns! Oder waren all die Worte über die große Liebe nur leeres, nichtssagendes Getratsche? Lutek, ich glaube an dich und frag mich nicht warum. Ich fühle es!«

       Zartes Lächeln zauberte sich auf die Lippen des Rotschopfs.

       »Dann soll es so sein! Versprochen!«

       Mit einem sanften aber wahrhaft innigen Kuss besiegelten sie ihr Versprechen zueinander. Denn alles, was sie hatten, so träumerisch und naiv es in manchen Augen sein mochte, war Glaube. Nicht an den Schöpfer und nicht an die Götter.