Ingrid Weißbach

Sexueller Mißbrauch und Heilung aus dem Selbst - eine Therapieerfahrung nach der Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum


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in denen ich hingegeben und erfüllt vom Dasein, die einfache Freude darüber empfand, dass ich am Leben war und mir die Welt wie ein Wunder erschien. Das Trauma aber hing in dieser Welt wie ein bleiernes Gewicht, das mich nach unten zog, wenn das Glück an meine Tür klopfte, und vor allem dann, wenn es um Liebe ging. Doch gerade Liebe und Hingabe waren die beiden Fähigkeiten, die ich am schmerzlichsten vermisste.

      Weil aber nach dem Energieerhaltungssatz Energie in einem abgeschlossenen System weder aus dem Nichts entsteht noch ins Nichts verschwindet und sich nur wandelt, bleibt auch die angestaute psychische Energie in uns erhalten und ermöglicht durch die Wandlung letztlich die Heilung. Wie aber verschaffen wir uns Zugang zu den verborgenen Kräften des Unbewussten? Und wie gelingt es uns, die angestaute Energie wieder fließen zu lassen, um die verdrängten Gefühle wahrzunehmen und zu verarbeiten?

      All diese Fragen und die Beschäftigung mit Hermann Hesse, C. G. Jung und dem Buddhismus, hatten mich bereits in die richtige Richtung geführt, denn ich bin inzwischen von der Existenz einer Lebenskraft überzeugt, die jedem von uns unserer Bestimmung näher kommen lässt, sofern wie sie zulassen. Jedes Lebewesen trägt von Anfang an sein eigenes Entwicklungsgesetz in sich, das sich sowohl in ihm selbst vollzieht als auch im gesamten Kosmos zu finden ist. Diesem Gesetz im Einklang mit der Welt zu folgen, bedeutete Glück – das wusste ich inzwischen.

      Dennoch lebte ich viele Jahre mit dem Defizit der Bindungsangst und mit einem Gemisch aus Wut, Trotz und Verschlossenheit. Und obwohl ich immer wieder versuchte, mir die Unverhältnismäßigkeit meiner Gefühle zu erklären, weiß ich heute, es ist unmöglich, ein Trauma ohne fremde Hilfe zu überwinden – eben weil man die mit dem Trauma verbundenen Gefühle verdrängt hat und dafür keine Selbstwahrnehmung besitzt. Dadurch bleiben diese Gefühle auf dieser unteren Entwicklungsstufe in uns verkapselt und führen ein uns unbewusstes Eigenleben, das unsere Entwicklung beeinträchtigt.

      Diese Beeinträchtigung wollte ich aber nicht mehr hinnehmen und so sah ich mich erneut nach einer Therapie um.

      1. Die erotische Spur – das Ziel der Psychoenergetik

      Ich fand zu Peter Schellenbaum, der in der Schweiz in Orselina bis 2014 sein Institut für Psychoenergetik leitete. Zwar hatte ich erst ein einziges Buch von ihm gelesen und das auch noch vor etlichen Jahren, jedoch zog mich gerade dieser Titel wieder an: „Die Wunde der Ungeliebten“.

      Ja, das traf auf mich zu. Die Wunde der Ungeliebten, verbunden mit der Scham, sie thematisieren und damit heilen zu können – das war mein Problem. Zudem war es das Wort „Liebe“, das mich anzog – ein Wort, dass ich noch nie zuvor bei einem Therapeuten gehört hatte, denn bisher war es nur um „Überwinden“, „Ertragen“, und „Vergessen“ gegangen.

      Dass aber dem Leiden des nicht richtig geliebt worden seins auch das Leiden des nicht richtig lieben Könnens folgte, hätte ich nicht gewagt, zu formulieren und so war ich hier richtig. Die endlich angesprochene offene Wunde der seelischen Verletzung wird bei Peter Schellenbaum als Quelle für Depressionen, innere Lähmung und Leid bis ins erwachsene Alter hinein benannt. Jedoch bleibt er nicht beim „bedauernswerten Einzelschicksal“ stehen. Vielmehr geht Peter Schellenbaum einen Schritt weiter und stellt den Zusammenhang zwischen dem individuellen Ungeliebt-Sein und dem "Mangel an Geborgenheit in der Welt" her. Denn so gesehen, wird der Mensch niemals genug geliebt. Er kann nicht zurückkehren ins Paradies der Unschuld und Symbiose. Es bleibt immer ein Rest an Ungestillt-Seins und Alleinseins in der Welt, was ihn dazu veranlasst, die Bindung mit eben dieser Welt zu suchen. Damit geht es um die dem Menschen eigene existenzielle Erfahrung des „In die Welt geworfen Seins“ oder des Ungeliebt-Seins als verletzbares, unvollkommenes und vergängliches Wesen.

      Dieser Bezug erweist sich bei Peter Schellenbaum therapeutisch als äußerst fruchtbar und belebend. Das individuelle Schicksal kann so nämlich mit den Gesetzen des Kosmos und der Evolution verbunden werden, und der Einzelne kann sich dadurch mit sich selbst versöhnen.

      Das heißt, auch wenn ich die Vergangenheit nicht ändern kann, und auch wenn ich mit Defiziten lebe, so bin ich doch angeschlossen an das große Ganze des Menschseins, der Natur und des Kosmos, deren stete Eigenschaft es ist, sich zu wandeln, sich zu entwickeln und miteinander in Beziehung zu sein.

      Peter Schellenbaum sagt dazu: "Die Geschichte der meisten Ungeliebten ist eine Geschichte der Überanpassung. Für sie geht es darum, eine neue Einstellung zu den Ausgestoßenen, den Parias, den Unberührbaren zu bekommen. Den inneren Unberührbaren und Ausgesonderten zu berühren, Kontakt mit ihm aufzunehmen und den vor Welt und Lebensfreude überbordenden Krishna aus ihm zu befreien, dahin strebt die unbewusste Sehnsucht der aus Mangel an Liebe überangepassten Menschen." (1)

      Es gilt also, den angestauten Lebensfluss wieder zu befreien. Ein Lebensfluss, der nach Peter Schellenbaums Meinung in seiner reinsten Form Liebe zu sich selbst und zur Welt ist. Dahin ging meine Sehnsucht, das wollte ich wiedererlernen, denn es war mir verloren gegangen und dennoch auf irgendeine Weise vertraut.

      Dabei hatte ich nicht die geringste Vorstellung, wie das geschehen sollte. Ja, ich hatte zu Beginn der Therapie noch nicht einmal dieses klare Ziel vor Augen. Jedoch hatte ich zum ersten Mal die feste Absicht, mich zunächst selbst heilen zu wollen, bevor ich mich wieder in eine neue Partnerschaft stürzte, die wieder in dieselbe Sackgasse führte.

      Natürlich ging ich nicht von Anfang an mit diesen Erwägungen in die Therapie – vielmehr wurde ich von einem unbewussten Ahnen getrieben, alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben und hier etwas zu finden, von dem ich wusste, es tut mir gut. So hatte ich das große Glück, in Peter Schellenbaum den Therapeuten zu finden, der imstande war, meine Liebe auszuhalten, die Hingabe zu erwidern und dennoch die nötige Distanz zu wahren, damit die therapeutische Beziehung als Leitbild für eine reale Beziehung in mir entstehen konnte.

      Jetzt, da ich diesen Satz aufschreibe, bin ich erstaunt, wie einfach das zu erfassen ist, was mich viele Therapiestunden und starke innere Kämpfe gekostet hat. Zu Beginn aber sprang ich ins Therapiegeschehen mit dem Mut eines verzweifelten Kindes, das, ohne schwimmen zu können, von einer brennenden Brücke springt und darauf hofft, über Wasser zu bleiben. So ungefähr erscheint mir meine Situation zu Therapiebeginn jetzt, obwohl sie mir damals längst nicht so dramatisch vorkam. Doch ohne diese existenzielle Not – so viel weiß ich inzwischen – beginnt niemand eine ernsthafte Psychotherapie.

      Die Therapie und Ausbildung bei Peter Schellenbaum begann mit dem Erlernen der von ihm geprägten Methode der Psychoenergetik, die sowohl von der leiblichen Dimension des psychischen Ausdrucks ausgeht als auch von der Existenz einer unstrukturierten Entwicklungsenergie, die vom Beginn seiner Zeugung an im Menschen existiert und im positiven Fall auf die erotische Spur führen kann. Damit erweiterte Peter Schellenbaum die Tiefenpsychologie in revolutionärer Weise. Vor allem die Arbeit mit der unstrukturierten Entwicklungsenergie, die über das menschliche Ich hinaus in Beziehung zur Welt und zur allgemeinen Entwicklungsenergie gesetzt wird, kann hierbei nicht genug hervorgehoben werden. Denn genau dieser Ansatz ist vergleichbar mit der Entdeckung der Relativitätstheorie, die das Bezugssystem von Raum und Zeit erweitert und in größere Zusammenhänge stellt. Nicht anders die Psychoenergetik – sie führt aus dem engen Ichverhaftetsein hinaus in die Beziehung zum Du und zur Welt.

      Mit der erotischen Spur wiederum meint Peter Schellenbaum die Entwicklung zur Ganzheit, die sich aus dem unendlichen Potential eines Menschen ergibt und die sich lebenslänglich fortsetzen kann. So lässt sich die traumatische Energie mit Hilfe der Psychoenergetik in die erotische Energie, als Wachstumsenergie verwandeln – ein Weg durch Liebe. Dabei ist mit Liebe im therapeutischen Sinne hier die aktive und ganzheitliche Bezogenheit des Therapeuten zum Klienten gemeint, wobei die körperliche Bezogenheit eine große Rolle spielt, denn die Psychoenergetik arbeitet vor allem mit Energiesignalen. Diese Energiesignale zeigen sich vor allem durch den Leib, der hier als beseelter Körper verstanden wird. Schildern wir nämlich ein mit psychischer Energie geladenes Ereignis, so ist auch unser Körper an dieser Beseeltheit beteiligt.

      Das kennen wir alle: Sobald uns etwas bewegt, bewegt sich unser Körper mit. Niemand kann beispielsweise mit stoischer Gelassenheit von einem Moment überbordender Begeisterung erzählen: Wir rutschen auf dem Stuhl hin und her, bewegen Arme und