Ingrid Weißbach

Sexueller Mißbrauch und Heilung aus dem Selbst - eine Therapieerfahrung nach der Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum


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traumatischer Ereignisse – jedoch gerät in diesen Fällen unsere Energie ins Stocken, was sich auch körperlich bemerkbar macht: Unsere Mimik wird sparsamer, die Stimme leiser oder brüchiger, die Schultern stehen anders, unsere Hände machen andere Bewegungen und vieles andere mehr, was es aufmerksam zu erspüren gilt.

      Hier setzt die Psychoenergetik an, denn genau hier, im allerkleinsten und spontan geäußerten leiblichen Energiesignal, erkennen wir als Erstes, wo sich etwas in uns wandeln will. Dieser alles entscheidende Augenblick wird in der Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum der „existenzielle Moment der Empfängnis“ genannt. Ein Moment, in dem wir unsere Entwicklungsenergie aus uns selbst heraus empfangen, in einem winzigen Energiesignal, das, wie ein Embryo, noch eingebettet und begleitet sein will, ehe es zu einem neuen Entwicklungsschritt heranreift. So versteht sich die Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum nicht nur als Therapie im Sinne des Heilens von psychischen Störungen, sondern vor allem als Weg zur Individuation und als Prozess zum sinnlichen Erwachen und Erleben seiner selbst in Verbindung zur Welt.

      Von einem der wichtigsten Prozesse, die ich innerhalb meiner Heilung durchlebte, soll in diesem Buch die Rede sein. Zunächst stelle ich einige wichtige Elemente dieser Therapiemethode vor, beleuchte danach die Begriffe Individuation und „Existenzieller Moment der Empfängnis“ und zeige letztlich anhand eines eigenen Fallbeispiels in Form einer Traumanalyse diese Methode auf.

      Dabei werden von mir viele Querbezüge sowohl zum tiefenpsychologischen Individuationsbegriff nach C. G. Jung als auch allgemein menschliche Erfahrungen mit einbezogen.

      Bei den Personen Frau X und Herr Y im Fallbeispiel handelt es sich nicht um reale Personen. Jedoch trugen sich die realen Ereignisse mit Personen zu, die sich in ähnlicher Konstellation zu mir, der Träumerin, befanden. Dennoch sind die Vorgänge, um die es hier geht, weitestgehend authentisch.

      II. Zur Arbeit von Peter Schellenbaum

      Peter Schellenbaum erweiterte den tiefenpsychologischen Ansatz von C. G. Jung um die Dimension des Leiblichen und den Begriff der vorstrukturierten Energieerfahrung. Daraus entwickelte er die Psychoenergetik oder die Leib-Psychotherapie nach Schellenbaum (im Folgenden kurz Psychoenergetik genannt). Diese Methode ist eng an die leib-seelische Erfahrung geknüpft. Sie führt aus dem engen Ichverhaftetsein früherer tiefenpsychologischer Ansätze hinaus und versteht sich nicht nur im psychotherapeutischen Sinne des Heilens, sondern vor allem als Prozess und Weg zum sinnlichen Erwachen und Erleben seiner selbst in Verbindung zum Du und zur Welt. So stellt die Psychoenergetik kein festes Lehrgebäude dar, das anhand theoretischer Erkenntnisse und Strukturen erfassbar und nur auf bestimmte psychische Störungen anwendbar ist. Vielmehr handelt es sich um eine tiefenpsychologische Methode, die blockierte menschliche Lebensenergie wieder zum Fließen bringt und dabei auch das Transzendente für den einzelnen Menschen sinnlich erfahrbar machen kann. Innerhalb der Psychoenergetik ist das Thema des existenziellen Momentes der Empfängnis ein besonderes und zentrales Geschehen.

      Peter Schellenbaum sagt dazu. „ … der existenzielle Moment der Empfängnis, dem das Kind näher als der Erwachsene ist, (bezieht sich) auf größere Weckbarkeit im Lebenspotential, auf Verfügbarkeit für Entwicklungssignale aus der eigenen Anlage. … Als innere Führungsinstanz des Erwachsenen bedeutet das Kind daher dessen Selbst.“ (1)

      Es handelt sich also um den Moment des reinen Geschehenlassens und des Empfangens neuer Keime aus dem eigenen Entwicklungspotential, so, wie es gesunde Kinder täglich spielerisch erleben. In diesem Moment zeugen und empfangen wir uns gleichzeitig selbst – und zwar aus der Stille und der Leere heraus in größtmöglicher Offenheit gegenüber unserem Unbewussten.

      Wir empfangen den Keim eines neuen Schrittes unserer Individuation wie bei einer Geburt, und das nicht nur in einem einzigen, einmaligen Prozess, wie Peter Schellenbaum betont, sondern immer wieder aufs Neue. „Nicht nur in psychotherapeutischer Begleitung, sondern auch ohne sie ist unser Leben, sofern wir es aus dem existenziellen Moment der Empfängnis gestalten, eine lebenslängliche Geburt.“ (2)

      Denn genau das, was sich bei der realen Empfängnis in uns vollzieht, vollzieht sich auch im Psychischen. Wie bei der Verschmelzung einer Ei- und einer Samenzelle, bei der es zur Empfängnis eines Kindes kommt, wird in der Seele ein Wachstumskeimling empfangen, bei dem zuvor zwei Qualitäten miteinander verschmolzen sind. Doch es handelt es sich dabei nicht um die Verschmelzung zweier Zellen, sondern um die Verschmelzung zweier psychischer Energiequalitäten zu einem winzigen Ganzen. Ein Ganzes, das bereits die gesamte Information eines kommenden Entwicklungsschrittes enthält.

      Was aber verschmilzt dort mit wem, und welcher Art ist das Zusammenspiel von Klient und Therapeut in diesem kreativen Prozess?

      1. Zur Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum

      Die Methode der Psychoenergetik besitzt, wie bereits erwähnt, sowohl psychotherapeutischen als auch lebenspraktischen Wert, der in unserer modernen Industriegesellschaft mehr denn je gefragt ist, denn laut Statistik erfahren die psychischen Krankheiten in den modernen Industrieländern derzeit einen erheblichen Aufwärtstrend. Es scheint also nicht nur eine Sinnkrise auf allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und institutionellen Ebenen zu geben, sondern vor allem auch in der Psyche des modernen Menschen. Eine Krise, die dem Menschen nicht mehr zu erlauben scheint, seine psychische Energie in vollem Umfang zu erfahren. Deshalb fühlen sich viele Menschen sinnentleert, worauf die Psychoenergetik zu antworten weiß. Was aber können wir uns unter der Methodik der Psychoenergetik vorstellen und was unterscheidet sie von anderen Methoden?

      Peter Schellenbaum versteht darunter vor allem die psychologische Erschließung einer wertfreien und an keine festen Muster gebundene Lebensenergie, die zuallererst leiblich erfahren wird. Diese Lebensenergie kann entweder auf der erotischen Spur frei fließen und zur Entwicklungsenergie werden, oder sie kann auf der traumatischen Spur blockiert sein und damit nur auf Umwegen der Entfaltung dienen.

      „Die Psychoenergetik richtet ihre Aufmerksamkeit gleichzeitig auf die ‚winzige Bewegung’ des Körpers und die verbale Äußerung. Würde sie das eine oder andere aus dem Auge verlieren, wäre das Gespür für die derzeitige Energiebewegung oder -stockung verloren … Die Grundfrage lautet also immer: Befinde ich mich in einer ganzheitlichen Lebensbewegung oder stocke ich?“ (1)

      Mit dem Leib ist dabei stets der beseelte und geistig reflektierte Körperausdruck gemeint, im Gegensatz zum nur physischen und reflexhaften Körper. Die erotische Spur hingegen meint die Öffnung hin zum Ganzheitsbewusstsein. Peter Schellenbaum erläutert den Begriff Eros im Zusammenhang mit seiner Arbeitsweise wie folgt:

      „Die Wege zu diesem (Ganzheitsbewusstsein, Anm. I. W.) sind Erfahrungswege des Eros. Das Wort Eros hat bereits bei Platon die Bedeutung der Ganzwerdung durch die Sprengung der Ich-Grenzen in der Hingabe. Dabei bleibe ich bei diesem Wort, obwohl es in jüngerer Zeit oft ganz anders, nämlich in der Verengung auf bloße Sexualtechniken, gebraucht wird.“ (2)

      Mit dem Begriff der Psychoenergetik als zentralem Begriff, arbeitet Peter Schellenbaum insofern, als dass die unmittelbare Erfahrung der Lebensenergie zu seinem Grundanliegen gehört. Durch die Auseinandersetzung mit dem Werk des Jesuiten, Paläontologen und Naturphilosophen Teilhard de Chardin zu diesem Energiebegriff angeregt, schreibt er: „Teilhard befreite sich schreibend von der dogmatischen Enge einer angelernten und ‘aufgezwungenen Theologie‘ und stellte als einziges Wahrheitskriterium das Potential an seelischer Belebung auf.“ (3)

      Und weiter: „Durch meine Beschäftigung mit Teilhards Energetik stieß ich auf C. G. Jungs Schrift: ‘Über die psychische Energetik und das Wesen der Träume‘. Auch in diesem Buch beeindruckte mich der Bezug auf menschliche Energiebewegungen jenseits aller trennenden Wertungen.“ (4)

      Das heißt, die Lebensenergie wird in diesem psychotherapeutischen Prozess nicht durch die analytische Distanz neutralisiert, sondern durch Hingabe ersetzt, was das Geschehen wesentlich lebendiger macht und das Fließen der Energie erst ermöglicht. Diese Hingabe soll im erweiterten Sinne Hingabe an das Leben und an alle zukünftigen Bindungen lehren, denn die Verbindung von Analytiker und Klient besteht somit in einer realen, sich jeden Moment neu konkretisierenden