Ingrid Weißbach

Sexueller Mißbrauch und Heilung aus dem Selbst - eine Therapieerfahrung nach der Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum


Скачать книгу

beider Bewusstseinsformen gelangen wir zur Individuation.

      C. G. Jung nennt das sich einseitige Verlieren an den Bewusstseinszustand der All-Einheit die Verschmelzung mit dem Archetypus der Großen Mutter, der nicht zur Individuation führt, sondern zum Verhaftetbleiben im Unbewussten.

      Auch hier warnt Peter Schellenbaum: „Manche Menschen, etwa solche, die einen schweren Schicksalsschlag erlitten haben, gelangen mit oder ohne fremde Hilfe direkt in die befreiende Urerfahrung von Leben und Tod, ohne den Stufenweg in die Tiefe ihrer Lebensgeschichte gegangen zu sein. Doch dann müssen auch sie, keine Stufe überspringend, die vielen Tarnungen der Todesangst auf ihrem Lebensweg kennen lernen. Menschen, die diesen geduldigen, aktiven Weg nach oben für überflüssig halten, leben mit ihrer „passiven Urerfahrung wie ein Drogensüchtiger in einer halluzinatorischen Welt der Zeitlosigkeit. Weil sie die Mühe scheuen, im Rückblick auf ihren vergangenen Weg ihre zerstörerischen Lebensmuster zu durchschauen, können sie auch im Jetzt zum Akkord der Welt keinen eigenen Ton beitragen. Sie meinen, in einem ‘kosmischen Bewusstsein‘ mitzuschwingen, und sind doch nur Blätter, die der Wind anrührt, keine Instrumente mit eigener Klangfarbe.“ (5)

      Das heißt, so lange wir leben, leben wir im gesamten Spektrum unseres Bewusstseins und unserer Bewusstseinszustände, die einander zyklisch abwechseln, ergänzen und nur im Miteinander das gesamte Leben darstellen. Das wiederum heißt, wir haben die Bewusstseinszustände, die wir im Laufe unserer menschlichen Entwicklung ausgrenzten, weil sie durch eine, zunächst als höhere Entwicklung betrachtete, Bewusstseinsentwicklung abgelöst wurde, wieder zu integrieren haben, um ganz zu werden. So war die Entwicklung des linearen Bewusstseins, das dem wissenschaftlich-technischen Zeitalter entspricht, und die Menschheitsgeschichte vom Niederen zum Höheren dokumentiert, zunächst eine Höherentwicklung im Vergleich zum magischen, zyklischen Denken des Mittelalters.

      Nun aber, da dieses rationale, lineare Denken den Menschen von seinen Wurzeln abzuschneiden scheint, indem es sich verselbstständigt wie das Wachstum von Krebszellen, ist es notwendig, jenes zyklische Denken wieder zu integrieren, um das Wachstum im Sinne des Naturkreislaufs schöpferisch und nicht zerstörerisch zu gestalten. Dieses integrative Bewusstsein aber ist das Gegenteil des von Marie Louise von Franz kritisierten modernen Massenphänomens der Idee der emotionalen Einswerdung der ganzen Menschheit als einer regressiven Urform der „archaischen Identität“.

      Jean Gebser weist nach, dass für unsere moderne westliche Welt die Integration der Bewusstseinszustände notwendig ist.

      4. Integratives Bewusstsein

      Jean Gebser, 1905 in Posen geboren und 1973 in Wabern, bei Bern gestorben, war Philosoph und Schriftsteller. Er galt als einer der ersten kulturwissenschaftlich orientierten Bewusstseinsforscher und war der Meinung, dass sich vier Bewusstseinsstrukturen im europäischen Menschen nachweisen lassen: die archaische, die magische, die mythische und die mentale.

      In unserer Zeit ereigne sich seiner Meinung nach der Durchbruch der integralen Bewusstseinsstufe, deren Aufgabe die Überwindung des mentalen Denkens wäre, also des Verhaftetseins in Raum und Zeit innerhalb linearer Denkstrukturen, die durch die Wahrnehmung zeitfreier ganzheitlicher Bewusstseinsqualitäten ersetzt würde.

      Das aber hieße nichts anderes, als dass sich das Bewusstsein und die Entwicklung der Menschheit nicht einfach nur linear vom Niederen zum Höheren entwickele, sondern auch zyklisch in sich selbst verlaufe, also ein Blühen und Sterben und Wiederaufblühen desselben Urbildes darstelle. Wobei nicht zu sagen wäre, welche der beiden Prozesse den Vorrang besäße. Es wäre lediglich zu beobachten, dass in der westlichen Welt eher die extravertierte Weltsicht einer linearen Entwicklung vorherrsche, während dem östlichen Menschen mehr die zyklische Weltsicht entspräche.

      Der Durchbruch der integralen Bewusstseinsstufe hingegen bedeutet nach Meinung Jean Gebsers, dass sich in verschiedenen Zeiten verschiedene Qualitäten des Bewusstseins auf die Zeit bezogen ausschließlich herausgebildet hätten. Diese Ausschließlichkeit aber hätte die jeweils andere, voraus gegangene Qualität zurückgedrängt. Die jetzige Zeit aber setze diesen Zyklus nicht fort, in dem sie eine wiederum neue Bewusstseinsqualität hervorbringe, sondern sie verlange eine Integration aller bisher entwickelten Bewusstseinsqualitäten von uns.

      Dieser Gedankengang erscheint auch im Hinblick auf den Quaternitätsbegriff C. G. Jungs folgerichtig, der sich als Ganzheitsbegriff sowohl im Symbol des im Quadrat eingeschriebenen Kreises zeigt, als auch in den vier von ihm entwickelten Bewusstseinsfunktionen: Denken, Fühlen, Wahrnehmung und Intuition.

      Auch die Maslowsche Bedürfnispyramide, die der amerikanische Psychologe Abraham Maslow, geboren 1908 in Brooklyn, New York City, entwickelte und die er kurz vor seinem Tod 1970 um die entscheidende Qualität der Transzendenz erweiterte, lässt erkennen, wie wichtig die Integration aller Bewusstseinsqualitäten ist. Dabei gebührt der obersten Stufe, die der Suche nach der das eigene Sein überschreitenden Qualität entspricht, also der Suche nach dem Heiligen in uns selbst, dem Transpersonalen, der oberste Rang.

      Aus Jean Gebsers Denkansatz des integrativen Bewusstseins entwickelte der amerikanische Psychologe, Philosoph, Mystiker und Autor zahlreicher Bücher, Ken Wilber, geboren 1949 in Oklahoma, die Integrale Theorie. Die Grundlage dieser Theorie ist es, alle Fachrichtungen des Bewusstseins und der Erkenntnis wie Religion, Naturwissenschaft, Philosophie, Psychologie, Sozialwissenschaften usw. in einen wissenschaftlich begründeten Zusammenhang zu stellen.

      Ken Wilber entwickelte die Vorstellung, dass alles nur in Ganzheiten existiert und alle Teile dieser Ganzheiten wiederum Teile anderer Ganzheiten sind, die selbst auch aus Ganzheiten bestehen. Diese nennt er Holons. So kann sich seines Erachtens der nach Entwicklung strebende Mensch als einzigartige Ganzheit innerhalb der unendlichen Vielfalt der geistig-kosmischen Emanationen erkennen. Jeder Mensch habe deshalb das Recht auf ein glückliches, erfülltes Leben, sofern er das Streben danach mit der Hingabe an die Vielfalt der Emanationen verbände, sowie mit der Hinwendung zum geistig-kosmischen Urgrund, der Eros und Weisheit bedeute. Dieses Streben des Einzelnen diene dem kollektiven Ziel, das Ken Wilber als Transpersonales Gemeinwohl bezeichnet.

      Es erfolgt nach Ken Wilbers Ansicht in stufenweiser Transformation, in der die Widersprüche von Holons überwunden und zu neuen Holons integriert würden, wie es seiner Meinung nach Hermann Hesse in seinem berühmten Gedicht „Stufen“ beschreibt.

      Aus dieser Integralen Theorie leiteten sich nach Ken Wilbers Ansicht viele neue integrale Praktiken für alle Lebensbereiche ab, insbesondere für Politik, Wissenschaft, Religion, Kunst, Ökologie, Recht, Ethik und Spiritualität.

      Sein Denken wurde unter anderem beeinflusst vom deutschen Idealismus, vom Hinduismus, vom Buddhismus von Platon, Meister Eckhart, Jean Gebser, Teilhard de Chardin, Jürgen Habermas und Jiddu Krishnamurti, um nur einige zu nennen. Voraussetzung für das integrale Bewusstsein ist auch für Ken Wilber die Selbstfindung, die sich nach seiner Meinung nur durch einen mühsamen Weg erreichen lässt. In seinem Buch „Wege zum Selbst“, sagt Ken Wilber: „Leiden zwingt uns in einem besonderen Sinne lebendig zu werden – sorgfältig zu schauen, tief zu empfinden, mit uns selber und mit der Welt auf eine Weise in Berührung zu kommen, die wir bisher vermieden haben.“ (1)

      Damit ist Ken Wilber richtungsweisend für modernes Denken und Sinnfindung des Einzelnen, denn gerade heute scheint es, als suche der gegenwärtige Mensch fast verzweifelt das Verbindende hinter all dem Einzelnen, Abgespaltenen, Perfektionistischen, Vielfältigen. Er sucht das Tragende, das ihn mit sich selbst und der Menschheit Verwurzelnde, das Heilige, das ihn im Innern heil macht und nicht von der äußeren begrenzten Realität kommt, sondern als innerpsychische Qualität erlebt werden kann. Eine Qualität, die weit über das eigene Leben und die jetzige Zeit hinausreicht, und sowohl das Eine mit dem Anderen verbindet, als auch voneinander unterscheidet. Der heutige Mensch sucht die Ergriffenheit im existenziellen Moment der Empfängnis seiner selbst. Er sucht das, was ihn im tiefsten Selbst mit der Welt verbindet und ergreift, erst dann kann er dem Ruf folgen, in dieser Welt aktiv zu werden.

      Dazu sagt Peter Schellenbaum: „In der therapeutischen Arbeit mit vielen jüngeren Menschen habe ich jedoch festgestellt, dass sich in den letzten Jahrzehnten auch in dieser Hinsicht eine Wandlung vollzogen hat: