Ingrid Weißbach

Sexueller Mißbrauch und Heilung aus dem Selbst - eine Therapieerfahrung nach der Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum


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der Jugendlichen auf der ganzen Welt und brachten dem Westen die All-Einheitserfahrung näher. Dennoch blieben diese Strömungen eher in einem „entgrenzenden Gefühl“ und einer sich selbst verherrlichenden Jugendkultur verhaftet und wirkten somit nicht zukunftsweisend.

      Marie Louise von Franz bemerkt, es gäbe in der Neuzeit verstärkt die archetypische Idee der Vorstellung einer zumindest emotionalen Völkerverständigung und Einswerdung der ganzen Menschheit. Jedoch gäbe es nach ihrer Meinung diese Idee mehr als Massenphänomen in einer regressiven Urform der „archaischen Identität“: „Man sieht dies auch besonders deutlich in der Bewegung der Hippies, bei den sich auflehnenden Studenten, bei den Roten Garden in China und ähnlichen Wellen jugendlicher Revolten: selber besessen vom Archetypus des puer aeternus (dem ewigen Jüngling, Anm. d. Verf.) … huldigen sie der reinen Emotion mit bisweiligen Ansätzen zu einer Gefühlskultur durch Musik, Blumen usw. Sie wollen sich nicht auf vernünftig formulierbare Ziele festlegen lassen, und was sie verbindet, ist nicht so sehr eine Idee als eine mächtige Emotion … nicht ohne die entsprechende Begleiterscheinung einer Inflation und ihrer gefährlichen Folgen … Dem gegenüber gäbe es nur ein Mittel, nämlich die innere Verfestigung des Individuums, durch die es vor der Vermassung geschützt bleiben könnte. Wird aber diese innere Verfestigung des Individuums nicht bewusst vollzogen, so tritt sie spontan ein, in der Form einer unglaublichen asozialen Verhärtung des Massenmenschen gegen seinesgleichen… Die Seele aber, `die nur aus der menschlichen Beziehung lebt`, geht verloren. Denn die Seele ist, wie Jung betont hat, `nie vollständig ohne die Beziehung auf den anderen Menschen. Der unbezogene Mensch hat keine Ganzheit, denn er erreicht diese nur durch die Seele, die ihrerseits nicht sein kann, ohne ihre andere Seite, welche sich stets im Du findet` (57, Zit. Ebenda, Paragraf 454) Darum bedeutet auch Individuation keine egoistische Vereinzelung, sondern im Gegenteil, erst die Voraussetzung echter Bezogenheit und einer tragfähigen sozialen Einstellung.“ (1)

      Und Hermann Hesse sagt dazu: „Je mehr Einzelne da sind, welche dem Welttheater mit Ruhe und Kritik zuschauen, desto geringer ist die Gefahr der großen Massendummheiten, obenan der Kriege.“ (2)

      Inzwischen scheinen die tiefgründigen Ansätze der Selbstfindung aus jener Zeit längst der Vermarktung und damit der Vermassung zum Opfer gefallen zu sein. Das heißt, diese Ansätze haben ihren Ganzheitsanspruch an die Persönlichkeit verloren und werden teilweise nur noch konsumiert wie Drogen. So spricht man heute oft ironischerweise vom „Wellness-Buddhismus“, ein Wort, das im Kern das trifft, was auf den Zustand der Gesellschaft hinweist: Die Verflachung und Konsumierung geistiger und hier sogar spiritueller Werte, die zu keiner tiefgreifenden Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen führen.

      Der heutigen Jugendkultur fehlen meines Erachtens zum größten Teil diese tiefen geistigen und symbolischen Bezüge und die Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit und Hingabe, die es noch in ihren Anfängen bei den 68ern gab.

      Heute bietet die moderne Welt eine Vielfalt an Konsummöglichkeiten von Mode, Musik- und Popart, von Tourismus und Extremsportarten. Ebenso gibt es ein breites Angebot aus der esoterischen Szene, die die schnelle Erleuchtung propagiert, aber den mentalen Kick meint. Dennoch scheint diese Vielfalt den Menschen insgesamt nicht reicher, sondern ärmer gemacht zu haben, da all die verschiedenen Wahlmöglichkeiten seine Aufmerksamkeit beschäftigen, ihm sogar ein spontan empfundenes Glücksgefühl vermitteln, jedoch nicht in die Tiefe führen.

      All diese Ablenkungen hindern den heutigen Menschen eher daran, nach innen zu schauen, um den ruhigen Wachstumsfluss der eigenen Lebensenergie zu spüren und ihm im äußeren Leben Raum zu geben. Das heißt, der heutige Mensch wird in seinem Innern von all den äußeren Angeboten und Verführungen nicht mehr erreicht. Es gibt bei den meisten Menschen keinen kontinuierlich empfundenen Lebensstrom mehr, der von der Horizontalen zur Vertikalen weist, oder, wie es die Buddhisten sagen, vom Wurzelchakra zum Kronenchakra, und von da aus wieder zurück zum Wurzelchakra, so, wie es dem Naturkreislauf entspricht, der alles Leben auf diesem Planeten mit der Erde und gleichzeitig mit dem Kosmos verbindet. Heute geht es oft nur um den partiellen Kick, der, in sich selbst verkapselt, einen momentanen Energieschub mit sich bringt, ohne an den mächtigen Energieschub, der von der Wurzel zur Krone reicht, angeschlossen zu sein. Sie ähneln einer Suchtbefriedigung, ohne die dahinterstehende Sehnsucht nach dem ganzen Leben zu stillen.

      Individuation bedeutet nach C. G. Jung jedoch genau das Gegenteil; nämlich die intensive und gelungenere Einbindung des Einzelnen ins große Ganze, einschließlich der Rückbindung an eine das Ich überschreitende Dimension in uns, die C. G. Jung auch als „den Gott in uns selbst“ bezeichnete. So scheint gerade das so ersehnte Ziel der persönlichen Freiheit, das die Jugendlichen in den 70ern zeitweilig zu einer großen homogenen Strömung vereinte, die Menschen von heute mehr und mehr zu vereinzeln und zu einer narzisstischen Ich-Bezogenheit zu verführen.

      Peter Schellenbaum schreibt dazu: „Unsere Zivilisationsgeschichte war ein langer, mühseliger Weg zur Befreiung des Individuums von der ‘verschlingenden Mutter‘ einer Sippe, eines Stammes, eines Volkes, einer Religion oder Ideologie. Von der archaischen Identität mit einem Kollektiv zur Identität des Individuums: Dies war der bisherige Entwicklungsweg des menschlichen Bewusstseins. Heute jedoch empfindet das von der Welt abgeschnittene, isolierte Individuum die Notwendigkeit, den Weg zurückzugehen: aus der Vereinzelung der Bezogenheit, aus der Isolierung zur Lebensbewegung des Eros, und diesen Weg im Gegensatz zur Vorgeschichte der Menschheit bewusst zu gehen. Wir wollen die Welt, auf die wir um unserer Freizeit willen verzichtet haben, in aller Freiheit wieder in unsere Identität aufnehmen. Von da rührt unser Bedürfnis nach dem Übergang von einer verschlossenen zu einer offenen Identität her. Deshalb suchen immer mehr Menschen nach einer Verbindung zu den im Laufe der Zivilisationsgeschichte ausgegrenzten Bereichen des Körpers, der Emotionen und Empfindungen, der Erde und des Kosmos. Das vereinzelte Individuum gleicht einem Fisch, der sich selbst in ein zu kleines Aquarium gesteckt hat. Aus Angst vor freieren Gewässern, in denen er früheren Gefahren erneut ausgesetzt wäre, ist er versucht, im Aquarium zu bleiben.“ (3)

      Weiter sagt Peter Schellenbaum, dass dennoch die derzeitige Vereinzelung und Einsamkeit des Individuums nur eine Übergangssituation auf der Suche nach einem umfassenderen Bewusstsein und damit umfassenderen Entwicklungsmöglichkeiten seiner selbst wären.

      „Das lockende Ziel von einst, nämlich die Freiheit des Einzelnen, entpuppt sich als zwanghafte Isolation. Solange die Individuen noch gemeinsam ‘kollektiv durchblutet‘ waren, konnten sie ihre Unabhängigkeit ersehnen. Nun ist das Leben des Menschheitskollektivs im narzisstischen Einzelnen abgestorben. Im Individuum herrschen Totenstille und bedrückende Leere wie in einem Haus, das früher eine große Familie beherbergt hat und jetzt nur noch von einer Witwe bewohnt wird.“ (4)

      Darüber hinaus existieren meiner Meinung nach heute in der westlichen Gesellschaft kaum Vorstellungen darüber, wohin die Selbstverwirklichung eigentlich in aller Konsequenz führt. Doch das genau ist auch der von Schellenbaum untersuchte Zustand. Weshalb der Einzelne gefragt ist, seine eigenen Impulse wahrzunehmen und diese an die Welt auszusenden, um mit eben dieser Welt offen in Beziehung zu treten. Deshalb kann in diesem Zusammenhang nicht oft genug auf das bereits eingangs erwähnte Zitat von C. G. Jung hingewiesen werden, den Individuationsprozess nicht mit der Ich-Werdung zu verwechseln. Denn sonst, so warnt C. G. Jung, würde der Individuationsprozess zum Egozentrismus und Autoerotismus verkommen, jedoch schließe die Individuation die Welt nicht aus, sondern ein. Selbstfindung meint also die Integration bisher unbewusst gebliebener seelischer Anteile innerhalb des persönlichen Entwicklungspotentials, einschließlich der Gegenpole und der Rückbindung an das Heilige in uns. Diese Tiefe innerhalb der Begriffe Selbstfindung oder Individuation gilt es meiner Meinung nach heute verstärkt zu betonen, da wir sonst bei der Ich-Werdung stehen bleiben und uns nicht die Mühe machen, diesen Prozess wirklich anzustreben. Selbstfindung ist ein ganzheitlicher, mitunter schmerzlicher Prozess, der mit vielen Reifeschritten verbunden ist, die das Seelische, Körperliche und Geistige gleichsam erfassen.

      So finden wir in der Gegenwart oft den Ich-Menschen, der kurzzeitige Lustbefriedigung mit tatsächlicher Lust am Leben verwechselt, und demgegenüber den Esoteriker, der, beseelt vom All-Einheitsbewusstsein, fälschlicherweise annimmt, dies wäre ein Zustand, der ihn dauerhaft von allen innerpsychischen Konflikten „erlösen“ könnte, ohne zu bedenken, dass das All-Einheits- oder kosmische Bewusstsein