Ingrid Weißbach

Sexueller Mißbrauch und Heilung aus dem Selbst - eine Therapieerfahrung nach der Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum


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Schellenbaum: „Tiefgreifende Veränderungen der Persönlichkeit geschehen nur in der Hingabe an einen Menschen oder ein Werk. In der ungeteilten Hingabe werden Sie selbst zu einem einheitlichen Menschen. Die Erfahrung der Ganzheit ist immer eine dynamische Erfahrung der Bewegung. Sich ganz einer Tätigkeit hinzugeben, sei diese geistig oder körperlich, heißt, zu einer einzigen strömenden Bewegung zu werden.“ (5)

      Gerade das aber bedeutet, sich selbst und die Welt als Ganzes zu erfahren, was für uns moderne, westliche Menschen eine der größten innerlichen Herausforderungen zu sein scheint – wir können analysieren, reflektieren, rationalisieren und organisieren, aber es gelingt uns viel weniger, uns an ein Du und an die Welt zu verlieren. Zwar haben wir inzwischen verschiedene fernöstliche Meditationstechniken erlernt und viele Menschen beschreiten verschiedene Wege zur Bewusstseinserweiterung. Doch werden diese Techniken mehr pragmatisch und partiell genutzt, als würden wir unser Auto auftanken, um wieder für eine Weile mit ihm fahren zu können, anstatt unsere eigene Lebensenergie in Fahrt zu bringen, um uns aus uns selbst heraus zu bewegen und mit der Welt in Beziehung zu setzen.

      Meines Erachtens haben wir eine tief verwurzelte Angst vor der ganzheitlichen Hingabe an ein Du und an die Welt. Wir haben Angst, uns in Liebe zu verströmen, weil sich damit unsere mühsam erworbene Ich-Identität zumindest zeitweilig auflöst und wir den Zustand der Leere aushalten müssen, dem einer Erweiterung unseres Ichs vorausgeht. Da uns aber der Zeitgeist unserer zutiefst rationalen Welt diese Ich-Identität als größtmögliches Ziel vorgaukelt und von uns in hohem Maße Pragmatismus und Selbstbeherrschung verlangt, haben wir die tiefe Angst, in der Hingabe und mit dem Verlieren des Ichs, alles zu verlieren. So, wie sich der Jüngling Narziss aus der griechischen Mythologie in Unkenntnis seiner selbst in sein eigenes Spiegelbild verliebte und sich daran verlor. Damit aber entsagte er dem Ruf der Welt nach Hingabe und des Sichverströmens, woran er schließlich zugrunde ging. Wir haben meines Erachtens Angst, dass in einer tiefen Berührung mit einem Du und mit der Welt all unsere Sehnsüchte nach Liebe, Erotik, spielerischem Sein, Hingabe und göttlicher Erfahrung aufbrechen, uns überschwemmen und uns dafür untauglich machen, im Jetzt zu „funktionieren“. Deshalb wagen wir nicht, unsere Sehnsüchte zu formulieren, geschweige denn, sie auszuleben. Peter Schellenbaum erklärt dieses Paradoxon so:

      „Die widersprüchliche Bemühung, sich um des Lebens willen aus dem Leben herauszuhalten, war der unbewusste Mythos des Bürgertums in Wien um die Jahrhundertwende. Erst in der Abenddämmerung seiner Entkräftung kann ein schicksalhafter Mythos durchschaut und durchbrochen werden. Der Mythos einer distanzierten Autonomie hat heute ausgespielt. Seine Energiebesetzung ist einer Zeit zunehmenden Leidens an der Einsamkeit und Vereinzelung zurückgegangen. Die mittlerweile ’atomisierte Gesellschaft’ sucht einen neuen Mythos.“ (6)

      Was aber ist es, was wir nicht zu gewinnen wagen und dennoch sehnlichst erhoffen? Oder anders gefragt: Was genau ist es, was wir in der Hingabe befürchten? Ist es nicht die gleichzeitige Angst davor, entweder sozusagen „auszufließen“ und die eigenen Konturen zu verlieren, oder aber vom anderen „überschwemmt“ zu werden, das heißt, das eigene Ich in der Gegenwart des anderen nicht mehr zu spüren? Das aber ist nichts anderes als das Verlieren der Gefühlsaufmerksamkeit zum leib-seelischen Organismus und somit zum Selbst.

      „Die Fähigkeit, allein, das heißt bei sich zu sein, während jemand anderer anwesend ist, sogar in einer intimen Beziehung, führt Sie zu der beglückenden Erfahrung, dass die Liebe manchmal ihr Versprechen einhalten kann. Die Vernichtungsangst, die manche Menschen gerade in der ihnen wichtigsten Beziehung quält, stammt aus der Unfähigkeit zur gleichzeitigen Bezogenheit auf sich selbst und das Du.“ (7)

      Das wiederum setzt voraus, dass der Mensch ein eigenes Selbst entwickelt. Doch der Begriff der Selbstfindung hat in der jetzigen westlichen Welt meines Erachtens einen eher abwertenden Charakter angenommen. Selbstfindung oder Individuation versteht sich im Mainstream derzeit im Sinne des oben beschriebenen autonomen Ich-Menschen, der sich in narzisstischer Weise mit seinen Eigenheiten von der Welt abgesondert hat und nun unter seiner Vereinsamung leidet, da es ihm immer weniger gelingt, die Verbindung zum großen Ganzen herzustellen. Diese Abwertung ist umso bedauerlicher, da die Zeit gerade jetzt nach visionären Persönlichkeiten verlangt; nach selbstbestimmten und ganzheitsbezogenen Persönlichkeiten, die der Gesellschaft richtungsweisende Impulse geben können. Einer Gesellschaft, deren Werte durch das Versagen der Religionen, durch Globalisierung, Rationalisierung und Wirtschaftskrisen stark ins Wanken geraten sind und dem Einzelnen keinen Halt mehr geben können. So sind heute immer mehr Menschen der Wohlstandsgesellschaft auf der Suche nach dem persönlichen Lebenssinn.

      Es scheint also nicht nur aus tiefenpsychologischer Hinsicht, sondern auch aus gesellschaftlicher Sicht notwendig zu sein, den Begriff der Selbstfindung oder Individuation zunächst in seiner Gesamtheit zu betrachten, denn nach C. G. Jung schließt Individuation den Menschen nicht von der Gesellschaft aus, sondern führt ihn mitten in die Gesellschaft hinein.

      2. Zum Begriff Selbstfindung oder Individuation

      C. G. Jung definiert den Begriff „Selbst“ folgendermaßen: „Das Selbst ist nicht nur der Mittelpunkt, sondern auch jener Umfang, der Bewusstsein und Unbewusstes einschließt; es ist das Zentrum dieser Totalität, wie das Ich das Bewusstseinszentrum ist.“ (1)

      Oder auch: „Wenn man annimmt, das Gott den Seelengrund berühre und bewirke oder gar dieser sei, so sind die Archetypen sozusagen die Organe (Werkzeuge) Gottes. Das Selbst ‘funktioniert‘ wie das Christusbild. Das ist der theologische ‘Christus in nobis‘. So haben nicht nur ich, sondern schon die Alten gedacht, zurück bis Paulus.“ (2)

      Anthony Stevens sagt in seiner Biografie über C. G. Jung: „Seit Aristoteles haben sich Philosophen für das principium individuationis interessiert, aber nur wenige Entwicklungspsychologen haben sich im 20. Jahrhundert mit diesem Phänomen beschäftigt, das sie dann als ‘Selbstverwirklichung‘ oder ‘Selbstrealisierung‘ bezeichneten. Jungs Konzept ging darüber hinaus; er betrachtete Individuation als ein biologisches Prinzip, das in allen lebenden Organismen auftritt und nicht nur auf den Menschen beschränkt ist. Jung meinte weiter, die Individuation sei ein Ausdruck dieses mehr oder weniger komplexen biologischen Prozesses, durch welchen jedes Lebewesen zu dem wird, was es von Beginn an zu werden bestimmt war.“ (3)

      Und weiter dort: „Das Selbst ist sowohl Architekt als auch Bauherr der dynamischen Struktur, auf der unsere psychische Existenz Zeit unseres Lebens ruht. Obgleich es offensichtlich biologische Ziele verfolgt, strebt das Selbst auch nach der Erfüllung in den spirituellen Dimensionen von Kunst und Religion oder im Innenleben der Seele. Daher ist es möglich, das Selbst als tiefes Mysterium, eine geheime Kraftquelle oder die Manifestation des inneren Gottes zu erleben. In zahlreichen Kulturen wurde es mit dem Göttlichen identifiziert und findet Ausdruck in solchen Symbolen wie dem Mandala.“ (4)

      Diese schöpferische Instanz in uns schafft die Einheit und Rückbindung an alles Lebendige und Zyklische, wie wir es aus einem Urzustand des Menschlichen kennen oder erahnen, beziehungsweise in unserem kollektiven Unbewussten gespeichert haben. Diesen strukturellen Urzustand bezeichnet C. G. Jung als Archetyp des Selbst, der das Numinose einschließt. Das lateinische Wort Numen, im Plural Numina, bezeichnet in der römischen Religion „Wink, Geheiß, Wille, göttlicher Wille“, das Wirken einer Gottheit. Der Theologe Rudolf Otto hingegen benutzte den Begriff zur Bezeichnung der Anwesenheit eines „gestaltlos Göttlichen“. In der älteren römischen Religion bezeichnet Numen mehr das Wirken und den Willen einer Gottheit als diese selbst. Dieses Numen konnte Naturerscheinungen wie einem Fluss, einem Baum oder einem Stein innewohnen. Das Numinose stellt in unserem Leben nun ein unendliches Potential dar, dem wir uns annähern, aber es niemals erreichen können. In der Tiefenpsychologie wurde der Begriff durch C. G. Jung in die analytische Psychologie eingeführt, da nach Jung die Archetypen dem Bewusstsein als numinos erscheinen.

      Der Begriff religiös trifft zwar im Kern genau dasselbe, nämlich Rückbindung (religare = rückbinden) an das Göttliche in uns, doch wird der Begriff religiös oft im weltanschaulich-philosophischen und weniger im unmittelbar seelisch-erfahrbaren Zusammenhang verwendet. Dadurch wird er im tiefenpsychologischen Zusammenhang zu ungenau assoziiert, weshalb der Begriff des Numinosen hier treffender