Ingrid Weißbach

Sexueller Mißbrauch und Heilung aus dem Selbst - eine Therapieerfahrung nach der Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum


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und die der anderen erfassen und das Leben danach gestalten will – macht für viele junge Menschen den Einsatz ‘nach außen‘ in einer immer sinnentleerteren Welt erst möglich und anziehend. Die Welt, wie sie in ökologischer Gefährdung, Kultur- und Wertezerfall, Diktat von Wirtschaft und Konsum in Erscheinung tritt, kann aus sich heraus die Begabtesten und Nachdenklichsten nicht mehr zu Anpassungsleistungen motivieren. Ich meine nicht junge Menschen, die sich bereits so glatt in die Gesellschaft einpassen, dass sie zu Rädchen in einem seelenlosen Getriebe werden; ihre Flucht vor dem wissenden, zu Selbstwahrnehmung und -verantwortlichkeit rufenden Keim ist bereits vollständig. Zumindest scheint es so; bei näherem Zusehen und Hinspüren bin ich nämlich noch niemandem begegnet, der gegen die heilsamen Beunruhigungen aus dem lebensstrotzenden und weltoffenen Kind in seinem eigenen Inneren ganz gefeit war. Den anderen jedoch, in denen die Ahnung eines anderen Lebens nie aufgehört hat, vernehmbar zu rumoren, fehlt die Lust, die Welt in ihrer jetzigen Gestalt zu verewigen. Sie brauchen den inneren Bezugspunkt, das Ergriffensein im existenziellen Moment der Empfängnis, um anpacken zu können.

      In unserer Zeit wird deutlich, dass jedes Vergessen des noch unversehrten Kerns, des Kindes in uns, das wir unter dem Gesichtspunkt der Alloffenheit und Allmöglichkeit betrachten, eine Flucht mit unheilvollen Wirkungen bedeutet. Die Grundeigenschaft des Sich-selbst-Empfangens, die im Ursprung jedes Menschen rein da war, ist die einzige, die eine Welt bloß blinden Funktionierens zu sich selbst erhellen kann. Eine im Zeichen des Kindes wirklich erwachsene Welt tut not.“ (2)

      5. Individuation heute

      Unsere Zeit, in der sich enorme gesellschaftliche, wirtschaftliche und globale Veränderungen vollziehen und viele menschliche Werte hinterfragt werden, braucht also gerade jetzt individuell gereifte Persönlichkeiten, die sich, sowohl offen nach innen wie nach außen, den Fragen der Zeit stellen und mutige Lösungen anzubieten haben. Jetzt, da die Zeit der großen Massenführer und Massenideologien vorbei zu sein scheint und sich viele bewährte gesellschaftliche Systeme und Institutionen überholt haben, ist neues integratives Denken und Handeln gefragt. Und zwar das Denken und Handeln vieler Einzelner, die einander im neuen Zeitgeist erkennen.

      Peter Schellenbaum sagt dazu: „Die großartigen eschatologischen Entwürfe der Menschheitsgeschichte in den Religionen und Ideologien haben ausgedient. Einige Menschen hängen ihnen nur noch aus bloßer Gewohnheit nach. Es gibt immer weniger ideologisch motiviertes Interesse an Gewerkschaften und Verbänden aller Art. Doch auf eine neue, direkte, von inhaltlichen Botschaften unbelastete Weise beginnen viele Menschen einander Signale zuzusenden. Es geht dabei, wie gesagt, nicht mehr um ‘gute Botschaften‘ und rettende Theorien, sondern zunächst bloß um Standortbestimmungen: ‘Hier bin ich – dort bist du‘. Was verbindet dich und mich im Raum zwischen uns beiden? Zunächst kein gemeinsames Credo und keine gemeinsamen Pläne und Aufgaben. Der Zwischenraum ist leer. Er ist bloße Beziehung. Diese rührt uns an und lässt eine leise Schwingung zwischen uns entstehen. Wir stehen wieder am Anfang der Schöpfung von Namensgebung.“ (1)

      So sind gerade jetzt visionäre Persönlichkeiten gefragt, die in entscheidenden Momenten den Mut aufbringen, durch individuellen Einsatz neue Weichen im Weltgefüge zu stellen.

      Dazu gehörte beispielsweise die Nachricht vom September 2013 aus dem Weißen Haus in Washington: General Martin E. Dempsey, General der US Army und Soldat des Landes mit dem derzeit höchsten Rang, zwang Barack Obama am Vorabend des Befehls zum Kriegseinsatz der USA in Syrien, den Angriff abzublasen. Diese Nachricht ging um die Welt und das Internet zitierte seine Worte, dass Barack Obama immer tiefer sinken würde, wenn er den Angriff nicht absagt. Die Nachricht erstaunte insofern, dass sie ein anscheinend normales, selbstverständliches menschliches Handeln vermittelte, um einen Krieg zu verhindern. Und zugleich machte diese Nachricht bewusst, wie wenig normal und wie wenig selbstverständlich es war, dass all die anderen Befehle zum Kriegseinsatz von all den anderen Generälen zuvor befolgt worden waren.

      Noch in der Kindheit hatte sich uns, den Nachkriegsgenerationen, oft im Stillen die simple Frage gestellt: Warum haben die das denn alle mitgemacht? Warum sind all die Männer bei jedem Befehl blindlings in den Kriegs gezogen? Und wenn wir es dann doch wagten, unsere Eltern zu fragen, bekamen wir die Antwort: „Ja, wir mussten doch, sonst hätte man uns vors Kriegsgericht gestellt und erschossen!“ Wir wagten nicht weiter zu fragen, was denn passiert wäre, wenn ganz am Anfang, noch bevor es den ersten Kriegsbefehl gab, viele einzelne Generäle gegeben hätte, die sich gegen den Krieg gestellt hätten. Natürlich kann man im Nachhinein nur spekulieren und natürlich gab es damals andere Zwänge und den jahrzehntelang geübten Gehorsam. Und doch stellt sich diese Frage bei jedem Krieg neu: Warum machen all die Soldaten und Generäle eigentlich die oft unsinnigen Kriege immer wieder mit? Und nicht zufällig erinnern wir uns dann der berühmten Gedichtzeile des einst fälschlicherweise Bertolt Brecht zugesprochenen, tatsächlich aber 1936 aus der Feder des amerikanischen Lyrikers Carl Sandburg stammenden Gedichtes: „Stell dir vor, es ist Krieg und niemand geht hin.“

      Doch gerade die Umsetzung dieser in der berühmten Gedichtzeile so einleuchtend und sinnfällig dargestellten Handlungsweise, scheint für uns Einzelne noch immer den allergrößten Mut zur Individuation abzuverlangen. Mut, der damit anfängt, sich aus sich selbst heraus und in Verbindung mit dem großen Ganzen unserer Welt eine Meinung darüber zu bilden, was richtig und was falsch ist, und was in dieser Welt dem Wachstum und was der Zerstörung dient. Es bedeutet umso mehr Mut, je mehr der Mensch in kollektiven Machtstrukturen, mächtigen Lobbys, Geheimorganisationen und wirtschaftlichen Interessengemeinschaften verhaftet ist, denn gerade dort ist bei den Untergebenen Individuation am wenigsten gefragt. Wer aber als Mitglied einer solchen Schicht den Gehorsam aus subjektiv notwendiger Erkenntnis heraus verweigert, hin zu mehr Demokratie und Menschlichkeit, hat den Schritt der Individuation zuvor vollziehen müssen.

      Dies zeigt in jüngster Zeit die Handlung des sogenannten „Whistleblowers“. Edward Snowden konnte als Mitarbeiter im Geheimdienst der USA die Tragweite der geheim gehaltenen Informationen über die weltweite Überwachung nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren und gab sie an die Welt weiter, entgegen seiner beruflichen Mission. Hier übernimmt ein junger Mann Verantwortung für das große Ganze mit einem existenziellen Schritt, der ihn und sein Leben gefährdet, jedoch insgesamt mehr Integrität zulässt. Das wiederum setzt voraus, dass sich Edward Snowden so selbstverständlich als Teil des Ganzen mit der Welt verbunden erlebt, dass er lieber seine privater Freiheit aufs Spiel setzt, als durch sein Schweigen den Verlust dieses Ganzheitsgefühls in Kauf zu nehmen.

      Diesen wesentlichen Schritt der Individuation aber hat derjenige, der bei der Ich-Findung stehen gebliebene ist, noch nicht vollzogen. Diesen Schritt, dem Sozium zu entwachsen und sich auf höherer, reiferer Stufe mit der Welt zu verbinden. Im Unterschied dazu hat der Mensch, dessen Individuation gelungen ist, seine Subjektivität zu einem großen Teil integriert und nimmt die Herausforderungen seines Wachstumsprozesses an. Auch wenn ihn dieser Prozess zeitweilig einsam macht und ihn auf sich selbst zurückwirft, fühlt er sich nicht abgetrennt von der Welt, sondern auch in diesen Momenten als Teil des gesamten Universums. Deshalb ist ein solcher Mensch – gleichsam wach nach innen und nach außen – für jedes Team, für jede Gesellschaft eine Bereicherung.

      Doch warum hat der tiefenpsychologische Begriff der Selbstverwirklichung längst nicht wieder die gesellschaftliche Bedeutung erlangt, der ihm wegen seiner Dringlichkeit gebühren sollte, die er bereits Anfang des vergangenen Jahrhunderts durch die Definition C. G. Jungs besaß? Was bewirkt diesen wesentlichen Schritt von der Ich-Findung zur Selbstverwirklichung und wie vollzieht er sich in der Seele des Einzelnen?

      Welcher Reifeprozess ist es, den der Eigenbrötler, der Sonderling, der Autonome, der Freak, der Einsame nicht vollziehen kann, um sich zu integrieren?

      Worin besteht dieser Schritt, der von der engstirnigen und ängstlichen Umkreisung des Ichs zur weiten, zyklischen Weltbewegung gelangt?

      Diese Frage soll unter anderem Thema dieses Buches sein, das sich anhand des Begriffes des „Existenziellen Moments der Empfängnis“ mit der psychotherapeutischen Arbeitsweise von Peter Schellenbaum beschäftigt. Einer Arbeitsweise, die sich, wie bereits eingangs erwähnt, nicht nur als Therapie im Sinne des Heilens von psychischen Störungen versteht, sondern vor allem als Prozess und