Andreas Eichenseher

Goethestraße 8b


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Ein asphaltierter Bereich für Fahrzeuge und Fußgänger und einige Gebäude mit grünen Gärten an den Rändern. In diesem Fall säumen genau 74 Wohn- und Mietshäuser die mit breiten Bürgersteigen ausgestattete, aus dem vorigen Jahrtausend stammende, Goethestraße. Eine junge Frau mit Kinderwagen schiebt sich an zwei grauen, im Kanon hustenden Rentnern vorbei. Und auf der anderen Straßenseite geht Ulrich. „Eins. Zwei. Drei. Vier.“

      Er beeilt sich nicht und doch scheint er inmitten seiner geistigen Abwesenheit und dem apathischen Blick nach Hause laufen zu wollen. Wohnhaft ist Ulrich in der Goethestraße 8b, einem Mietshaus mittelgroßer Ausdehnung. Und es liegt keine 50 Meter mehr von ihm entfernt. Er geht mit großen Schritten, sehr komisch anzusehen, doch kümmern ihn nicht die Leute, die ihn so abfällig beachten. Nein, er braucht und will sie gar nicht sehen. Die Finger kühl in seinen Hosentaschen und der Kopf erschrocken zuckend als er vom Bürgersteig in das Grundstück einbiegend von einem harschen Grummeln aus seiner Trance gerissen wird.

      „Harr... Nein!“

      Ulrich runzelt seine Stirn. Eine der Papiertonnen des Hauses liegt gekippt am Boden und jemand wühlt suchend im Zellstoffabfall der Goethestraße 8b.

      „Natürlich! Natürlich nicht!“ Wieder hallt die Stimme seines cholerischen Mietnachbarn aus der Papiertonne. Diesmal geht Ulrich näher heran und beugt sich gleichzeitig nach unten. Der Professor aus dem Erdgeschoss kniet auf zerrissenen Kartons und bunten Werbeblättern. Viele kleine Zettel und Zeitungen liegen auf dem Bürgersteig und werden vom Wind verweht. Von Herrn Habemann sind nur die Beine zu sehen.

      „Wer liest denn solche Klatsch-Blätter“, schreit er, ohne von seinem Zuhörer zu wissen und wirft blind eine Zeitschrift aus der Papiertonne aufs Pflaster, nur anderthalb Meter von Ulrich entfernt. „Das ist neu“, denkt er sich. „Und doch nicht unerwartet.“ Lautlos geht er vorüber und steuert auf das Haus zu.

      „Der... Der... Der Notizblock!“ Hinter ihm schimpft noch der Professor und schlägt von innen gegen die grüne Tonne.

      „Weg! So ein Dreck!“

      Ulrich sperrt schon die Haustüre des alten Gebäudes auf. Es sieht von außen gar nicht so aus, doch das Haus in der Goethestraße 8b ist wirklich alt und niemand, der dort wohnt, hat je fühlen können wie alt es wirklich ist. Nicht einmal der Hausmeister Rainer.

      „Ulrich!“

      „Hallo.“ Ulrich erschrickt, als des Hausmeisters freundlich gemeinte Begrüßung laut zu ihm schallt.

      „Ich hab ganz vergessen. Kriegst einen neuen Nachbarn.“

      „Ja? Wen? Wann? “

      „Glaub heute schon.“

      „Aber nicht wieder so ein Ostfale mit notorisch ralligem Terrier?“

      „Doch“, meint der Hausmeister trocken.

      „Oh mein... Oh verdammt. Nein, das war ein Witz, oder?“

      Rainer grinst schief und verkriecht sich mit seiner runden Wampe wieder in der kleinen Werkstatt. Ulrich zuckt kurz mit dem Kopf, dann marschiert er über die kalten Marmorstufen. Seine Wohnung liegt im zweiten Stock und genau dort sollte gegenüber seines Appartements ein neuer Mieter einziehen. Umzugsgeräusche sind noch keine zu hören. Der größte Lärm dringt derweilen aus dem ersten Stock.

      „...den ganzen Tag“, hört Ulrich dumpf. Es ist Erich, der in der Wohnung mit seiner Tochter streitet.

      „Der Radio läuft sogar wenn du in der Schule bist!“

      Ulrich passiert die Eingangstüre, daneben das Klingelschild mit `Erich Einweg`.

      „Dann dreh doch du ihn ab“, entgegnet Promesia. In ihrer Stimme wohnen Rebellion und Kritik an ihrem männlichen Elternteil, der sich an legitimen Ausweichmanövern bedient.

      „Ach! Und neben dem Radio lagen Kondome! Die Kondome! Du bist 14!“ Mehr kann Ulrich nicht mehr hören, will er aber auch nicht. Beinahe hätte er in all dem Trubel vergessen, was ihm eben beim Nachhauseweg eingefallen ist!

      Er hatte bewusst einen Umweg genommen, um mal etwas anderes zu sehen und seinen Gedanken dort freien Lauf gelassen. Er kam an einem Fußballplatz vorbei, an großen Werbeflächen und an zahlreichen Ampeln. Und siehe da.

      Es wirkte.

      „Eins. Zwei. Drei. Vier.“ Ulrich zählt sich im Geiste wieder die Anzahl der Ideen auf, die er vorhin beim Gehen hatte. Er weiß sie noch. Er hat sie nicht vergessen. Schnell läuft er nach oben, nimmt immer gleich zwei Stufen auf einmal und rammt seinen Schlüssel fest ins Schloss. Umdrehen. Ulrich reißt die helle Türe auf, lässt seine Schuhe an den Füßen und rennt zum Computer, der noch im Standby ist.

      „Moment...“, sagt er sich. Die Wohnungstüre steht noch ein wenig offen, er läuft zurück, schließt sie sanft und öffnet anschließend das Schreibprogramm, um seine Gedanken nun endlich zu sichern und die Angst des Vergessens selbst einfach vergessen zu dürfen.

      „Mein Sohn“, schreibt Ulrich. „Willst du wirklich rebellieren, so lauf nicht über Rot. Nein, mein Kind, halte vor Grün.“

      Und er schreibt weiter.

      „Bei Grün kann man es tun,

      denn sie halten opportun.

      Denn im Gehege der Regel scheint auch der Geselle ganz helle.“

      Die selbst ausgedachten Aphorismen kleben noch in seinen grauen Zellen und lösen sich Einer nach dem Anderen während er rhythmisch auf die Tastatur klopft.

      „Erziehung erfolgt durch Gesellschaft.

      Und Gesellschaft wird geformt vom Kollektiv, von Religionen und geführt von Staaten.

      Grün, gehen. Rot, stehen. Wer sich im vorgegebenen Takt bewegt, wir sehr schnell weit kommen. Wer ihn nicht einhält wird entweder ständig ausgebremst oder beseitigt.

      Der Rassismus wird ausgelebt von uns allen.

      Jeder fiebert bei einem beliebigen Sportereignis, in dem die Nationen untereinander konkurrieren, immer für die Athleten seines Landes und/oder Mutterlandes. Wir reduzieren die Sportler demzufolge also nur auf ihre Nationalität, ohne einen weiteren Eindruck von ihnen zu erhalten. (Hinweis für Überarbeitung: Nicht zu sehr verallgemeinern. Aber Kern stimmt)“

      „Puh.“ Ulrich atmet tief durch und klickt auf `Speichern`. Er hat die Gedanken, die beim Gehen entstanden sind, gesichert.

      „Fürs ganze Werk vielleicht nicht relevant, aber... Ach, egal.“ Er faltet die Hände auf dem Bauch und lehnt sich zurück. „Es wird niemanden jucken“, sagt Ulrich zu sich selbst, grinst und kratzt sich am Hinterkopf.

      „Ich habe mein Schuhwerk noch nicht abgelegt...“ Ein jeder Schritt fällt leicht, als er zur Ablage geht. Da dringt eine tiefe, angestrengte Männerstimme durchs Türholz. Ein gewisser osteuropäischer Akzent ist nicht zu verkennen und bewegt Ulrich dazu, neugierig ins Treppenhaus zu spähen.

      „Oh nein“, denkt er sich, als er seinem vermeintlich neuen Nachbar in die Augen sieht.

      Der grimmige Blick eines Bullen vor der Schlachtung, die wirre Frisur eines Bernhardiners vor der Reinigung und die lückenhaften Zahnreihen eines Neunjährigen. Ulrich muss ihn auch gar nicht riechen, um zu wissen, dass er nach Fett und Schweiß stinkt. Und einen verrückten Köter hat er, so wie er aussieht, mit Sicherheit auch.

      „Hallo. Ich bin Ulrich“, presst er höflich und laut hervor.

      „Ach ja?“ Etwas verstört von des Mannes herablassender Antwort ringt Ulrich nach Worten der Fassung, da drückt sich eine zweite Ausgabe dieses Typus Mensch über die Stufen. Er schleppt einen Karton und steht seinem Freund bezüglich der Mimik in nichts nach.

      „Hallo“, versucht es Ulrich erneut. Diesmal erhält er eine freundlichere Antwort.

      „Hallo. Sie wollen helfen?“

      „Na ja“, meint Ulrich zögerlich, aber entschließt