Andreas Eichenseher

Goethestraße 8b


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ich das. Hieronymus, der Starke, Mutige, den Göttern geweihte.“

      „Ja, das ist auffällig, finden Sie auch?“ Er wirkt tatsächlich noch kräftiger als zuletzt, trägt er doch ein graues Muscle-Shirt. Wahrscheinlich kommt er gerade vom Fitness-Studio.

      „Das ist lediglich ihre Namensbedeutung.“

      „Ja, ja sicherlich. Als ob ich das nicht wüsste“, sagt er grinsend und versucht Maria zur selben Emotion zu geleiten. Erfolglos.

      „Also ich meine...“

      „OK. Ich bin so weit!“ Ulrich trabt aus seiner Wohnung, ein jeder Schritt so leicht wie Federn, da sieht er Maria mit Hieronymus, spürt kalten Wind, Gegenwind.

      „Was meinten Sie?“, fragt Maria ihr muskulöses Gegenüber und der Wind wird warm, wird sanft.

      „Ach egal“, wirft der selbsternannte Hero in den Raum und hebt die Hand, ohne einen deutlich erkennbaren Abnehmer für seine Verabschiedung zu haben.

      „Auf Wiedersehen.“

      „Das war... Seltsam“, meint Ulrich leise zu Maria, als Hieronymus gegangen war.

      „Ja“, antwortet sie lakonisch und greift nach dem geflochtenen Korb, der in ihrem Flur wartet. „Dieser Hero, wie er sich nennt, ist irgendwie ein Unsympath.“

      Endlich, endlich. Mehr möchte Ulrich gar nicht hören.

      „Sehr richtig, also auf geht’s“, prescht er voran, geht langsam los, führt Maria glücklich an.

      „Danke vielmals, dass du mich begleitest. Oh entschuldige. Darf ich überhaupt `Du` sagen?“, fragt Maria.

      „Selbstverständlich. Ach, nichts zu danken, ich kauf ja auch gleich ein. Und... Und ich begleite dich natürlich gern, also nicht nur weil ich auch selbst einkaufen möchte.“

      „Schön.“

      Schritt für Schritt. Beide schreiten nebeneinander nach unten. Ulrich hat die Hände in den Taschen seiner dunklen Hose, denkt nach worüber er mit Maria sprechen könnte, da taucht Bernd vor ihnen auf. Lang, etwa einen Meter Neunzig groß, steht er auf einmal vor ihnen und wackelt mit dem Unterkiefer. Bernd lächelt Maria ganz kurz, aber gespielt an und versucht sich daraufhin an ihr vorbei zu schieben. Er möchte nichts sagen, doch das muss er in diesem Fall auch nicht. Ulrich ergreift die Initiative, versucht sich in Szene zu setzen.

      „Maria. Das ist Bernd. Er wohnt über dir.“

      Bernd dreht sich erschrocken um. Speichel glitzert auf seiner Unterlippe und der starre, beinahe leblose Blick wandert von Ulrich über sein Sakko bis zu Maria und deren freundliches, warmherziges Lächeln.

      „Hallo. Ich bin Maria.“ Sie streckt Bernd ihre Hand entgegen und er schüttelt zögerlich, schüttelt sanft.

      Ganz im Gegensatz zu Hieronymus. Als er eben hörte, wie Ulrich laut Bernds Namen betonte schleuderte er sich von seiner eben aufgesperrten Wohnungstüre ans Treppengeländer und spähte wie ein hungriger Kauz nach unten.

      „Tatsächlich. Da steht er“, presst er leise aus seiner Kehle hervor und rennt in seine Wohnung. Auf dem Küchentisch liegt noch der aufgerissene Karton des Pakets, das er gestern erhielt. Und in dem Karton befindet sich noch das dicke, schwere Buch, über dessen Erwerb er sich so gefreut hatte. Der übliche Geruch dieser Pakete, der Duft des Neuen, liegt noch im Raum.

      Es riecht das Fremdwörterbuch.

      Und Fremdwörter, das sind Hieronymus´ Ansicht nach der Schlüssel zu eben jener Welt, deren neuester Bestandteil ausgerechnet er selbst sein will.

      Wild blättert er durch wahllose Seiten.

      „Ka... Kakophonie. Laute und Geräusche, die in Musik oder Literatur besonders hart, unangenehm oder unästhetisch klingen. Ja!“

      Er blättert durch die ersten Seiten.

      „Animosität. Feindseligkeit.“

      Und auch der Schluss scheint es ihm angetan zu haben.

      „Viril. Virilismus. Männliche Geschlechtsreife.“

      Hieronymus hört Bernd. Er muss schon an seiner Tür sein. Sofort springt er in die Höhe und läuft aus seiner Wohnung. Laute Schritte als Prophezeiung.

      „Ah. Du schon wieder! Wenn ich nur einmal meine vier Wände verlassen könnte, ohne auf die kränklich anmutende Kakophonie dieses Hauses treffen zu müssen.“

      Bernds Hände zittern, sind kalt und aus seinem Gesicht rinnt die Kraft ins Nichts, als Hieronymus Worte über ihn herfallen, so grausam, erbarmungslos über ihn herfallen.

      „Wie eine Wachsfigur über den Kerzen der Animositäten. Deine Fresse zerläuft ja förmlich. Oh, sieh dich nur an, man sollte dich sedieren.“ Hieronymus kennt das Fremdwort von einer Schwester aus dem Seniorenheim. Wäre Bernd diese Tatsache bewusst, er könnte sogar den kindlichen Stolz in Hieronymus Gesicht erkennen.

      „Und falls du noch länger farblos pulsierst: Gib Bescheid wenn du vom Virilismus überfallen wirst“, sagt Hieronymus kichernd.

      „Zwar bin ich eine Jungfrau dieser, doch kein viril verfehlter Spießer!“ Die Worte spien aus Bernd wie Feuerzungen. Ganz plötzlich und die Überraschung meißelt sich nicht nur in Hieronymus Gesicht, in dem just keine Beleidigung mehr wagt geboren zu werden.

      Wieso trotzte ihm nun auch sein verrückter Nachbar?

      Bernd, wo ist Bernd?

      Bernd floh in seine Wohnung, schlug die Türe fest zu, ließ die Rollläden nach unten aufs Fensterbrett schnellen und sitzt nun in dem Lichtkegel seiner Deckenbeleuchtung, mitten auf dem Boden. Der Rücken am harten Holz der Türe angelehnt, den Kopf gesenkt und die Qualen der letzten vierzig Jahre wiederkehrend an ihre Quelle lassend.

      Es ist dieses gedemütigte Dasein, das sich langsam einspielt. Und wenn ein einsamer Mann immer wieder in seiner traurigen Sauce badet, bildet er einen ganz besonderen Geschmack.

      Bernds Geschmack konnte man lesen.

      Er steht auf. Ihm ist etwas in den Sinn gekommen. Wörter kreieren Zeilen, die abstrakt im Bezug zu seiner Gefühlslage stehen können. Können.

      Der Computer ist an. Schon schreibt Bernd, nimmt Fahrt auf und wirft den literarischen Katalysator an.

      „Nebel, dichter Nebel. Man kann gar nichts sehen.

      Jeder Tropfen einsam am lautlosen Vergehen.

      Ach, sie stehen nur im Weg.

      Weg! Fort!

      Bis der Liebe Wärme brät,

      was nervend dort gewesen.

      Und auch der meine Körper, dieser.

      Klebt am Kern, am einsam Spießer.

      Einsamkeit, die nie verblüht.

      Einsamkeit. Weil sie berührt.

      Ist sie meine Farbmutter.“

      Und während aus Bernds gepeinigter Seele immer mehr Wörter in den von dicken Socken umringten Rechner fließen, sind es die augenscheinlich wahren Wassertropfen, die draußen vom Himmel fallen. Sie klopfen laut auf das Dachfenster in seiner Wohnung, teilen sich auf und laufen allesamt hinab in die Kupferrinne. Ein paar bleiben hier und da im Moos hängen, aber die meisten bahnen sich den Weg zum Fallrohr, das direkt im Erdboden verschwindet. Nur ein Tropfen findet schon eher nach draußen.

      Nur Einer.

      An der Verbindungsstelle zweier Kupferrohre ist ein winziges Leck. Der Regentropfen, er rinnt bis dato nur am Rand, krallt sich fest und tritt aus der Leitung. Gefühlvoll sitzt er da, genau auf Höhe des Küchenfensters Erich Einwegs, und beobachtet.

      Tochter Promesia deckt gerade den Tisch. Suppenteller mit altmodischen, blauen Verzierungen und mattes Besteck liegen auf der hellen Tischdecke. Leise Oldies aus dem Radio