Andreas Eichenseher

Goethestraße 8b


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und beobachtet Maria lange. Sie grinst, sie lächelt ihn an. Die tiefen Blicke treffen sich, doch Ulrich bricht aus und spricht weiter.

      „Aber“, schließt er an. „Die anderen Hausbewohner sind genau deshalb nicht so gut auf ihn zu sprechen. Er gestaltet seinen Job hier ziemlich locker, man könnte schon fast sagen, er ist faul.“

      „Ein fauler Hausmeister?“

      „Ja, eigentlich ist er kein Hausmeister. Er hat nicht mal einen Schulabschluss, aber das juckt ihn nicht so sehr.“

      „Rainer ist kein Hausmeister?“

      „Ja schon. Doch. Er arbeitet seit ein paar Jahren hier als Hausmeister, aber nur weil er die Vermieterin mal vorm Ertrinken gerettet und sie ihm anschließend die Stelle hier unbefristet angeboten hat.“

      „Oh, ist er so ein guter Schwimmer?“

      „Könnte sein. Na ja, auf jeden Fall sehen fast alle hier im Haus eine ganz klare Verteilung bezüglich der Intelligenz. Und die besagt, dass genau einer überhaupt keine davon besitzt.“

      „Nämlich der Hausmeister.“

      „Korrekt.“

      „Und wie siehst du das, Ulrich?“

      „Na ja, na ja. Ich unterscheide grundsätzlich in Katzen- und Hundeintelligenz. Und Rainer ist eine Katze, die genau weiß wie sie ihre sieben Leben am einfachsten gestalten kann.“

      Man kann Maria ansehen, dass sie über Ulrichs Satz nachdenkt und ihn versteht. Da bedarf es keiner Worte mehr.

      „Rainer genießt es, die Hausbewohner mit Witzen oder Kommentaren zu ärgern, zu nerven. Und es ist ihm egal, dass sie ihn nicht mögen. Die hacken ja so und so auf ihm herum.“

      „Und das lässt er sich wirklich gefallen?“

      „Also... Eigentlich hackt hier doch jeder auf jedem herum. Es ist Krieg.“

      „Oh mein Gott. Was für ein krankes Haus.“

      „Wahrlich. Quasi ein Krankenhaus. Ein Wunder, dass noch niemand ein rotes Kreuz über den Eingang gepinselt hat.“ So plötzliches Lachen. So glänzende Augen. Nun, gleich gegenüber. Und das trotz des wirklich schlechten Witzes!

      „Soll ich sie küssen“, denkt er sich ständig, kämpft mit sich selbst, nicht mit dem Problem. „Doch ist sie so weit weg, doch traue ich mich nicht! Verdammt!“ Seine Knie zittern und er schluckt.

      „Hey“, sagt er dann auf einmal zu Maria und spielt nervös mit seinen Fingern. „Wenn wir nicht gleich, wenn wir nicht gleich beginnen, ist es zu spät.“

      „Wie... Meinst du das?“ Weiß sie? Sieht sie? Oh, wie sich ihre Brust hebt, ja. Atmend, ein und aus jenen Hauch, der das Unausgesprochene so lebendig macht. Und er schwebt vor ihren Köpfen, aber niemand greift danach.

      „Die Lasagne, oder...?“, presst Ulrich schwach hervor.

      „Ja. Ja. Die Lasagne.“

      V

      Ich habe mir erlaubt in dieser Situation einen kleinen Zeitsprung zu vollziehen. Das Schmatzen und Schlucken während dem Lasagne-Essen hat sich als ebenso langweilig erwiesen, wie die ewigen Wartepausen, in denen Ulrich darüber nachdenkt einen ersten Schritt in Richtung Marias schöner Lippen zu wagen. Ich blicke nun zurück auf den weiteren Abend.

      Die Lasagne ist also tot. Das ist sie schon länger. Nach dem Essen und Spülen waren Ulrich und Maria ins Wohnzimmer gegangen und nahmen beide auf der dunkelbraunen, staubigen Couch Platz, die so alt war wie Ulrich selbst.

      Sie redeten nicht besonders viel, saßen die meiste Zeit nur im matten Schein der beigen Kerzen und stellten gelegentlich fest, dass sich ihre Blicke erotisierend trafen. Ja, diese Spannung war beiden anzusehen, aber vor allem Ulrich, der sich als Mann in der führenden Positionen sah und genau wusste, dass er den ersten Schritt tun müsste, fand nicht den Mut dazu. Er saß Maria gegenüber, musterte ihren gestochen scharfen Blick, in dem zu seiner Beruhigung auch ein wenig Nervosität lag und überlegte, was zu tun nun richtig wäre.

      Er wusste genau, wie es funktioniert hätte.

      Ein kurzes, seichtes Lächeln, dann zwei flüchtige Blicke auf ihre Lippen, die wie rot glänzende Luftkissen in der aufregenden Wildwasserbahn ihres schönen Gesichtes schwebten und eine zarte Berührung seiner rechten Hand an ihrer Schulter, die er langsam zu sich hergezogen hätte. Gleichzeitig eine leichte Neigung seines Kopfes, der sich auf den Ihren zubewegen müsste und der Rest würde sich dann sozusagen von selbst ergeben haben.

      Natürlich. Wer weiß das nicht? In jedem zweiten Film gibt es genau so eine Szene, aber für die Anwendung braucht es eben mehr als nur die Theorie.

      Als sich diese Gedanken zum dritten Mal den Weg durch Ulrichs neuronale Bahnen kämpften, kam ihm eine Idee. Es juckte, zuckte unter seiner Haut, musste sofort raus!

      Sein Kopf drehte sich geschwind und er suchte eine Uhr im dunklen Dickicht seines spartanischen Wohnzimmers.

      „Wie spät ist es“, fragte er Maria schnell.

      „Ähm... Ich glaub... Warte.“ Sie schob ihren Ärmel zurück.

      „Kurz vor zehn. Soll ich etwa gehen?“

      „Ja bitte.“ Ulrich fiel ein Stein vom Herzen, dass sie ihm diese Vorlage bot, da ereilte ihn gleich die nächste, kleine Idee.

      „Ich bin leider sehr müde und werde morgen wohl früh aufstehen müssen.“

      „Ja, ich verstehe“, meinte Maria, obwohl sie überhaupt nicht verstand.

      „Es war wirklich schön und ich hoffe wir können das wiederholen!“ Jegliche Angst war aus ihm gewichen.

      „Ja... Ja. Sicher!“

      „Gut.“ Ulrich stand auf und zwang damit Maria zu Selbigem. Er begleitete sie zur Türe, umarmte sie kurz und wünschte ihr noch eine gute Nacht, dann lief er sofort an seinen Rechner und öffnete das Schreibprogramm. Alles lief so geschmiert.

      „Mir fällt ein Stein vom Herzen und direkt auf den Fuß. Autsch“, schrieb er zunächst auf und macht dann einige Absätze.

      Titel?

      Schon anfangs kann ich sicher sein,

      es wird neu und doch wie immer.

      Verführt fühl´ ich mich nie allein,

      in dem alten, dunklen Zimmer.

      Zuhauf. Sie war´n schon alle hier.

      Sie. Und die. Und stets das Selbe.

      Kommen. Und gehen durch die Tür.

      Schreien im Kanon bis zum Ende.

      Es ist eine und sie ist eine jede.

      Man hofft auf mehr und will es holen.

      Will ich, brauch ich nur zu reden.

      Doch mehr wird’s nicht, das weiß ich schon.

      Früher Schande des ganzen Lebens.

      Heute Rhythmus der Generation.“

      Es war erschreckend passend, dass Ulrich an diesem Abend noch einen Orgasmus erlebte. Nur nicht ein jener, wie man dachte schon, von sexueller Konnotation. Es war ein literarischer Orgasmus und er reichte aus.

      Einige Meter und wenige Türen weiter südlich saß Maria. Alleine. Auf einem gebrauchten Drehstuhl. Ihr Rücken war gerade, ihre Hände lagen parallel auf dem Schreibtisch vor ihr und es schien als bewegte sich nichts. Doch das unentwegte Klappern und Tippen zeugte von Anderem.

      „Eine Burg, eine Festung“, begann sie ihr pathetisches Selbstportrait.

      „Runde, einladende Gemäuer. Kleine Türme, die auf kleinen Hügeln stehen. Ein Torhaus, das die Zeit überwuchert