Farina de Waard

Jamil - Zerrissene Seele


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      Die Klippe war tief und voller spitzer Vorsprünge, die unten in die raue See übergingen. Wenn er links an ihr entlang sah, war die Bucht mit dem Kiesstrand zu erkennen. Er konnte auch das Lager sehen, das sich zwischen die weiten, offenen Hügel schmiegte. Ein guter Platz für ihre neue Heimat.

      Doch dieses Land gehörte schon jemandem. Er musste mit Aldo darüber sprechen und ein Treffen erwirken, bevor sein Bruder etwas Dummes anstellte.

      In dem Moment, als er die Klippe verlassen und zum Lager unten zurückkehren wollte, entdeckte er die junge Frau. Sie folgte dem Rand der Klippe die Wiese hinauf, direkt auf ihn zu, war jedoch auf einen Korb mit Blüten und Früchten in ihren Armen konzentriert.

      Jamil war sofort von dieser Fremden fasziniert. Ihre offenen welligen Haare wogten in der Meeresbrise wie schwarze Seide und verbargen immer wieder die hohen Wangenknochen und geschwungenen Lippen. Ihr schlanker Körper war in schmiegsames Leder gekleidet, das ihre Figur betonte und den sicheren, eleganten Gang hervorhob.

      Angespannt blieb er stehen und wartete. Als sie zum Baum streben wollte, bemerkte sie ihn und erstarrte. Obwohl ihre Miene sofort misstrauisch wurde, zeigte sie keine Angst und hielt seinem Blick stand. Vertieft in ihre Erscheinung, nahm er eine weitere Bewegung nur im Augenwinkel wahr.

      Ein kurzes Surren drang an sein Ohr, ein Ruck ging durch seinen Körper – und stechender Schmerz breitete sich in seiner rechten Seite aus.

      Plötzlich wurde alles seltsam langsam, während er den Kopf senkte, an sich herabstarrte. Ein Pfeil steckte rechts in seiner Brust, zwei Handbreit unter der Achsel.

      Ein schriller, langgezogener Aufschrei erreichte sein Ohr. Nach einem Moment ordnete er ihn als den der Frau ein. Ihre Stimme klang verzerrt, drang wie durch Watte zu ihm.

      Von Schmerz und Schwindel erfüllt, blickte er von der Wunde auf, an deren Rand sich sein Hemd bereits mit Blut vollsog. Die Fremde hatte sich in die Wiese gekauert und starrte ängstlich zu ihm herüber.

      Der Schmerz betäubte ihn, die Welt um ihn herum verlor an Farbe und das Rauschen des Meeres dröhnte in seinen Ohren – oder war es sein Blut?

      Er machte einen wankenden Schritt auf die junge Frau zu und hob die Hand … dann spürte Jamil, wie ein zweiter und dritter Pfeil in seine Seite einschlugen und explosionsartige Schmerzen in seinem Körper entfachten.

      Sein Aufschrei wandelte sich in ein Röcheln. Er schmeckte Blut, als sein Blick trüb und verschwommen wurde und er das Gleichgewicht verlor.

      Tiefe Schwärze breitete sich um ihn aus.

      Jamil sackte weg und hatte das Gefühl, dass sich alles verschob. Er sah die schreckgeweiteten Augen der Fremden und dann fühlte er, wie sein erschlaffender Körper von der Klippe stürzte.

      Den Aufprall auf die Felsen in der aufgewühlten See spürte er schon nicht mehr.

      Das Urteil

Bild4

      Ashanee war noch immer völlig benommen, als die Fremden angelockt durch ihren Schrei auf dem Hügel auftauchten. Von einem Moment auf den anderen fand sie sich umringt von Männern, die in einer unbekannten Sprache durcheinanderriefen, sie ergriffen und auf die Füße zerrten.

      Erst da packte sie die Angst und sie vergaß die Opfergaben für den heiligen Baum, die sie auf der Wiese hatte fallen lassen.

      Nachdem eine grobe Hand sie abgetastet und das Messer von ihrem Gürtel gezogen hatte, ließ man sie los und machte ihr etwas Platz.

      Sie zitterte noch immer am ganzen Leib, doch die vielen fragenden Blicke, die sie durchbohrten, zwangen sie dazu, sich zusammenzureißen.

      Nach einem Moment hatte sie sich genug beruhigt, um die Gesichter der Umstehenden betrachten zu können. Ein paar Frauen hielten sich im Hintergrund, doch auch sie sahen genauso wild und ungezähmt aus wie die Männer. Ihre Haare waren teilweise lockig oder hell, ihre Gesichter wettergegerbt und … Asha konnte nicht genau sagen, warum sie dieses Gefühl hatte … aber es lag eine tiefe Erschöpfung und Trauer hinter den fremden Worten, mit denen sie jetzt überschüttet wurde.

      Eines klang immer wieder heraus und sie vermutete, dass es der Name des jungen Mannes sein musste. Jameel.

      Sie wollten wissen, was ihm zugestoßen war! Aber wie sollte sie das erklären? Sie verstand es doch selbst noch nicht. Bei der Erinnerung begann sie wieder zu zittern. Noch nie hatte sie einen Menschen sterben sehen … den Schmerz und die Hilflosigkeit in seinem Blick würde sie nie mehr vergessen.

      Langsam und vorsichtig drückte sie sich etwas von den drängenden Händen weg, während die Angst sie weiter durchwogte, und man machte ihr tatsächlich Platz.

      Unauffällig warf sie einen kurzen Blick in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren – vom heiligen Baum aus – doch natürlich war dort niemand mehr zu sehen. Der Schütze war verschwunden.

      »Jameel?«, fragte sie zaghaft und versuchte die Aussprache mit dem langen i nachzuahmen. Sofort nickten alle Männer und gestikulierten.

      Mit einem Zögern deutete sie an den Rand der Klippe, dann in die Tiefe, aufs Meer.

      Bestürzung und Fassungslosigkeit tauchten auf den Gesichtern um sie auf, dann wurde sie grob gepackt und den Hügel hinuntergeschleift, auf das Lager zu, das ihre Späher erst gestern zum ersten Mal bemerkt hatten.

      »Nein!«, schrie sie verzweifelt. »Nein, ich war das nicht! Bitte!«

      Aber man verstand ihr Flehen nicht. Die Leute umringten sie wie eine Mauer, aus der es kein Entkommen gab. Sie erreichten die Senke hinter dem Hügel und die Stoffzelte, die zwischen einem Durcheinander von Kisten und anderen Dingen aufgeschlagen waren.

      Einige eilten rufend vor, dann kamen ihnen eine alte Frau und ein erhaben wirkendes Paar entgegen. Die Erscheinung der Alten erinnerte Ashanee sofort an ihre Schamanen.

      Sie musterte Ashanee lange, während die anderen still verharrten und darauf zu warten schienen, was sie zu sagen hatte. Die Frau legte ihr die Hand an die Stirn, was sie erschaudern ließ, und schüttelte dann den Kopf. Sie murmelte etwas und die Griffe um ihre Arme wurden lockerer, ließen schließlich los. Einen Augenblick später traten die Fremden beiseite, die ihr den Weg in Richtung des Hügels versperrten.

      Als sie Ashanee so unerwartet laufen ließen, schlug ihr das Herz noch immer bis zum Hals. Sie hetzte los, klaubte oben auf der Klippe den zertretenen Korb auf und rannte zu ihrem Dorf, obwohl ihr ab dem halben Weg die Lunge in der Brust stach.

      Schwer atmend kam sie auf dem Platz zwischen den Hütten an und wurde sofort von Haluschk und den Jägern in Empfang genommen.

      »Was ist geschehen? Warum warst du so lange fort?«

      Ihr Anführer erblickte den zertretenen Korb, den Asha noch immer an sich gedrückt hielt, und bemerkte dann auch ihren gehetzten, verstörten Blick. »Was hat das zu bedeuten?«

      »Es … ich wollte die Opfergaben zum Hara–Baum bringen, aber …«

      Haluschk wurde sofort zornig. »Haben diese Fremden den Baum entehrt?«

      »Nein! Ich … da war …« Sie stockte kurz und musste neu ansetzen. »Einer ihrer Leute ist gestorben. Er wurde von jemandem mit Pfeilen erschossen und stürzte von der Klippe.«

      Unruhe machte sich breit, doch der Anführer beugte sich näher zu ihr, um in Ruhe mit ihr sprechen zu können.

      »Was ist passiert? Erzähl es mir ganz genau.«

      »Ich wollte zum Hara–Baum, wie die Schamanen es gesagt haben, und den Geist bitten, dass er die Fremden friedlich sein lässt. Auf dem Hügel stand dann auf einmal dieser junge Mann. Ich glaube, er wollte zu uns, so nachdenklich, wie er wirkte. Er hat mich gesehen, dann schossen plötzlich Pfeile aus dem Wald und durchbohrten ihn. Haluschk … könnte es einer von unseren Jägern gewesen sein?«

      Empörung