Farina de Waard

Jamil - Zerrissene Seele


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Seine Kehle war wund, seine Stimme versiegt, aber in seiner Qual hatte er sich immer an dem Funken festgehalten, der in seinem Willen glühte. Er wollte leben! Er wollte nicht in die Schatten, die ihn umringten und belauerten … das Gras unter seinen Fingern war so weich nach all dem Fels und Kies.

      Erschöpfung machte sich in ihm breit, als er die grünen Halme berührte.

      Wollte er denn wirklich noch weiter? Noch mehr Schmerz? Er lebte ja … konnte er da nicht einen Moment ruhen, das lebendige Gras genießen? Ja … schlafen, das wollte er …

      Aber da fühlte er auch das Fieber, wie es ihn umhüllte. Er durfte nicht müde werden! Seine Finger krallten sich um die dunklen Halme, seine Muskeln zitterten, verkrampften sich – da berührte ihn die Wärme von weicher Haut.

      Wie ein Engel stand sie über ihm. Leuchtend im Licht des Mondes … das Mädchen! Ein Lächeln zuckte über sein müdes Gesicht. Sie war zurück! Sie würde ihn in die Siedlung bringen …

      Ihre Hände strichen über seine zerkratzte Haut. Ihre Finger umfassten seinen Arm, als sie ihn leicht anhob. Schmerz packte ihn, schüttelte ihn wie eine hilflose Beute, als sich sein Brustkorb bewegte. Er spürte noch, dass sie ihm unter die Schultern griff und ihn auf den Rücken drehte. Seine Sicht, seine Sinne, alles verschwamm eine Weile in Schmerz und Dunkelheit.

      Als nächstes erkannte er die dünne Mondsichel, wie sie über dem finsteren Meer stand, die Bucht, die unter ihm lag, während jemand ihn mit festem Griff durch das Gras zog.

      Wer zog ihn da? Jamils Geist war heiß und kalt zugleich, als Erinnerungen sich wild mit seinen Halbträumen mischten.

      Ein hübsches Gesicht tauchte in der Dunkelheit auf. Ja, die schöne Fremde zog ihn … aber wohin? Das Lager erreichte sie so einfach von der Bucht aus, warum zog sie ihn dann die steile Wiese hinauf?

      Das Licht des Mondes schien Jamil ins Gesicht, als sein Blick erneut verschwamm.

      Als nächstes lag er wieder auf dem Bauch, mit dem Gesicht im Gras. Seine Seite und Beine schmerzten, aber als er den Kopf etwas anhob, sah er nicht das Lager, sondern den Baum.

      Das Mädchen lief durch sein Blickfeld, von ihm fort und stellte sich zu den dicken Wurzeln des Baums, die wie Schlangen über die Erde zu kriechen schienen. Sie berührte den dicken Stamm, suchte Jamils Blick – dann wandte sie sich ab und lief in die Dunkelheit.

      Nein! Wo willst du hin? Lass mich nicht zurück!, dachte Jamil, wollte es brüllen, aber aus seiner Kehle kam nur ein Krächzen.

      Sein glasiger Blick streifte gehetzt über die Wiese – und blieb dann an dem Baum hängen. Seine Krone schien im Wind zu wogen … dann spürte er die Kraft, die ihn zu diesem mächtigen Baum zog.

      Er streckte den gesunden Arm aus, krallte seine Finger ins Gras und zog sich langsam vorwärts.

      Es erschien Jamil seltsam – je näher er dem großen Baum kam, desto besser schien er sich zu fühlen. Er nahm nicht mehr wahr, dass das Wundfieber ihn nun vollends übermannte, als er zu den Wurzeln des Baums kroch und in heißer, dicker Schwärze versank.

      Scharfe Klingen

Bild8

      Gähnend kroch Marifa aus dem Zelt und streckte sich. Die Luft war morgendlich kühl und leichter Dunst waberte über der Bucht unterhalb ihres Lagers.

      Beim Gedanken an den gestrigen Tag fröstelte es die Frau und sie presste die Lippen zusammen. Die schreckliche Überfahrt und die Flucht steckten ihr noch immer in den Knochen, doch das Schicksal des jungen Jamil belastete sie weit mehr. Zwar hatte die Seherin entschieden, dass niemand um ihn trauern durfte, doch Marifa tat er dennoch leid. Sie selbst hatte keine Tränen vergossen, aber sie wusste ganz genau, wie sehr Navenne unter dem Tod ihres Sohnes leiden musste.

      Im Lager war es noch ganz still und Marifa entschloss sich, für ihre Freundin einige Kräuter zu sammeln, um ihr einen beruhigenden Tee zuzubereiten.

      Vermutlich hatten die anderen im Lager genauso schlecht geschlafen wie sie, also wunderte es Marifa nicht, dass es noch so still war. Die Schreie des Dämons hatten sie die halbe Nacht wachgehalten und einen Moment zögerte sie, ob sie wirklich allein auf die Wiese sollte, um nach Kräutern zu suchen.

      Dann entsann sie sich der Worte der Seherin. Die hatte verkündet, dass der Dämon bald Jamils toten Körper verlassen würde.

      Es wäre gut, wenn das jetzt schon geschehen ist. Dann können wir Jamil anständig begraben und um ihn trauern, dachte sie und stapfte dann den Hügel hinauf, Hauptsache weg von der Bucht. Das Dämmerlicht schwand und sie erkannte eine zusammengesunkene Gestalt neben den Zelten und schmunzelte.

      Der alte Moleno hätte Wache halten sollen, war aber ebenso erschöpft wie die anderen in tiefen Schlaf gesunken. Kopfschüttelnd ließ sie ihn schnarchen und schweifte auf ihrem langsamen Weg mit dem Blick über die Pflanzen der Wiese.

      Schließlich fand sie tatsächlich etwas Minze und die pfeilförmigen Blättchen und Blüten eines Krauts, welches das Herz beruhigte. Sie hatte jetzt den Hügelkamm erreicht und hob den Blick, um nach weiteren brauchbaren Kräutern Ausschau zu halten. Vor ihr in der Wiese war eine blutige Spur, die zum Fuß des großen Baumes führte.

      Zwischen den Wurzeln lag der Dämon.

      Ein Schrei entwich ihrer Kehle, doch ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr. Sie konnte sich nicht bewegen und war heilfroh, als Rufe hinter ihr laut wurden und einige Männer den Hügel hinaufrannten. Sie sammelten sich in einem weiten Halbkreis bei Marifa, die vor dem Baum erstarrt war. Sie wagte einen kurzen Blick auf die Männer und war erleichtert, dass weder Aldo noch Navenne unter ihnen waren. Diesen Anblick hätte sie den beiden lieber erspart.

      »Ist er tot?«, fragte sie leise, über den Rücken ihres Ehemannes spähend, der sich schützend vor sie gestellt hatte.

      »Man darf keinem Dämon trauen! Er könnte sich nur tot stellen, bevor er uns plötzlich angreift!«, warnte ein anderer und Marifa erschauderte bei der Vorstellung. Auch sie kannte die Berichte, die früher gelegentlich Kas’Tiel erreicht hatten und von flammenden Todesengeln erzählten.

      Dämonen wurden als Rachegeister der Götter gesandt, wenn sie die Menschen bestrafen wollten.

      Die Männer traten noch einen Schritt näher.

      Der Körper des Dämons lag erschlafft da und war blutüberströmt. Der Kopf lehnte seitlich auf seiner Schulter, die Augen waren geschlossen.

      Einer der Männer trat vor und stieß mit dem Ende seines Speers gegen das ausgestreckte, verdrehte Bein des Dämons.

      Die gesamte Gruppe wich sofort zurück, als dem Monstrum vor ihnen ein leises, aber hörbares Stöhnen entwich.

      »Verflucht! Der Dämon in ihm lebt immer noch!«

      »Wie hat er es nur hier herauf geschafft?«

      »Ein Fluch liegt auf ihm und diesem Ort! Lasst uns verschwinden und die Seherin fragen!«

      »Der arme Jamil«, flüsterte Marifa. »Dass ihm so etwas Schreckliches widerfahren muss, ausgerechnet Aldos und Navennes Sohn. Und Balor weiß nicht einmal davon, da er die Wälder erkundet. Armer Jamil …«

      »Was redest du da, Weib? Das ist nicht mehr Jamil – und dass ihn dieses Schicksal ereilt hat, ist mit Sicherheit allein seine Schuld! Die Götter wollten ein Opfer, bestimmt keinen Dämon.«

      »Aber dieses wilde Mädchen, das wir auf dem Hügel gefunden hatten, hat uns ja nichts sagen können. Ganz offensichtlich war sie es nicht, so erschrocken, wie sie war … ist Hals über Kopf in den Wald gerannt …«

      »Wenn ihr mich fragt, ist er von der Klippe gesprungen! Er war schon immer etwas seltsam und nach der Flucht noch stiller … dieser Fluch hat ihn ereilt, da er sein Leben fortwarf! Die Götter strafen solche Feiglinge!«

      Marifa beäugte den Körper. Er sah