Farina de Waard

Jamil - Zerrissene Seele


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machte ihn schier wahnsinnig. Er spürte, wie das Metall der Pfeilspitze am Knochen einer Rippe schabte, dann warf er das verfluchte Geschoss mit einem verbissenen Ausdruck fort, ergriff das Messer und zog es sich aus dem Fleisch, um sich den nächsten Pfeil aus dem Leib zu schneiden.

      Blut drang aus den Wunden und mit letzter Kraft ließ Jamil das Messer fallen. Ein gequältes Ächzen entwich ihm, er riss nasses Gras aus dem Boden und presste die Halme auf die drei dicht beieinander liegenden Schnitte.

      Dunkles Blut sickerte hervor, besonders aus der Wunde, die er zuletzt geöffnet hatte. Er hatte sich den schlimmsten Pfeil als letzten aufgespart.

      Jamil war sich selbst in seinem jetzigen Zustand sicher: die Pfeile hätten sein Todesurteil sein müssen! Die beiden oberen waren tief eingedrungen, zwischen zwei Rippen hindurchgefahren bis in die Lunge … der unterste musste mit Sicherheit die Leber erwischt haben.

      Rote Flecken zeigten sich jetzt immer wieder in Jamils Sicht, auch weiße Blitze zuckten hindurch, während er schwer atmend auf den Wurzeln des Baumes lag und versuchte, mit dem Gras das hervorquellende Blut aufzuhalten.

      Sein ganzer Körper fühlte sich kochend heiß an und doch war ihm schrecklich kalt und er zitterte immer wieder, als habe er Schüttelfrost.

      Zu müde und schwach, um erneut die Augen zu öffnen, lag er weiter unbewegt da und fragte sich, warum ihm die Götter das antaten, dass er noch miterleben musste, wie sein Körper dem Sterben so nah war und es doch nicht konnte.

      Aber wollte er das wirklich? Wollte er erlöst werden und sich wie ein Schwächling den Tod wünschen?

      Nein, im Gegenteil. Er hasste seinen Körper dafür, dass er ihm nicht mehr gehorchte und er nicht aufstehen konnte, um endlich herauszufinden, wer ihm das angetan hatte!

      Doch dann versiegte sein Gedankenstrom, als er ein Flüstern im Wind hörte. Es war kaum lauter als das Rascheln der Blätter des Baumes und Jamil dachte zuerst, er würde es sich im Fieber einbilden. Aber das Flüstern blieb beständig und nach einer Weile begann er, erste Worte zu verstehen und erkannte, dass er dem Raunen des Baumes lauschte.

      Ja, der Baum redete auf ihn ein, sanft und beständig, wie der Wind. Er erzählte von Erde, fest und sicher, die ihm Halt gab in dieser unsicheren Welt … von Wasser, das ihm zum Leben verhalf und seine Blätter gedeihen ließ … von der Sonne, die ihm Kraft schenkte und dem Mond, der mit seiner sanften Ruhe Erholung und Heilung brachte.

      Dann flüsterte er vom Feuer, das Zerstörung … aber auch Erneuerung bedeuten konnte.

      Ein wirres Lächeln zuckte über Jamils spröde Lippen.

      Vielleicht hatte er das Mädchen ja doch richtig verstanden. Dem Baum schien eine sonderbare Kraft innezuwohnen – andererseits fühlte Jamil die Hitze seines Körpers nur zu gut. Halb wach, halb träumend und im Fieber hörte er das Rauschen des Windes auch von fernen Städten sprechen, die es zu erkunden galt, von der Seherin und seinem Bruder und seiner Mutter … und dann von dem Volk, das in der nächsten Bucht lebte und das er gar nicht kannte.

      In seinem Fieber hatte er das Gefühl, der Baum durchstrahle ihn mit blauem Licht, das so unendlich viel Wissen und eine fremde Sprache in sich trug.

      Eine Weile lauschte er der Stimme und nahm alles in sich auf, dann überkamen ihn Schwindel und Schmerz und er sackte in die Schwärze zurück.

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      Die Jägerin hastete über die Wiese und stolperte mehrmals über Grasbüschel und Äste.

      Ihr Kopf schwirrte und bei der Erinnerung an dieses schreckliche Gefühl der Hilflosigkeit wurde ihr schwindlig. Sein feurig glühender Blick hatte sie dazu gezwungen, ihm das Messer auszuhändigen!

      Dieser Dämon hatte sie irgendwie dazu gebracht, ihm die Klinge zu geben – und seine Schmerzensschreie verfolgten sie über den Hügel.

      Ashanee kauerte sich am Waldrand hinter einen Baum und lauschte, während ihr ganzer Körper zitterte und Tränen des Schreckens über ihre Wangen rollten.

      Wie konnte er sich nur umbringen? Er war doch bereits zu dem Baum gelangt!

      Einen Moment wollte sie nur noch die Flucht ergreifen und in den Wäldern nach Drissa und den anderen Jägern suchen. Doch was würde ihre Freundin von ihr denken, wenn sie einfach ihre Aufgabe hier von sich warf? Sie hatte eine Verantwortung …

      Das Stöhnen des Sterbenden wurde leiser und schwächer. Sie sah schemenhafte Bewegungen bei der Silhouette des Baumes, die sich schwarz gegen den sternenglänzenden Nachthimmel abhob.

      Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis Asha aus ihrer Starre erwachte und sich ihre Gedanken endlich ordneten. Sie musste ihr neues Messer zurückbekommen. Wie sollte sie Haluschk oder ihrem Vater erklären, dass sie es nach kaum einem Tag schon wieder verloren hatte?

      Der Dämon hatte schon eine Weile keinen Ton mehr von sich gegeben – und oben am Baum kam rauschender Wind auf!

      Sie wollte ihren Augen nicht trauen, als sie einen sanften, bläulichen Schimmer auf der Hügelkuppe wabern sah.

      Mit offenem Mund beobachtete Asha, wie eisblaue Schatten über den Stamm des Hara–Baumes wanderten.

      Erstarrt vor Faszination wurde ihr klar, dass sie in diesem Moment zum ersten Mal die Wunder des Geistes erblicken durfte, der in diesem Baum lebte.

      Sie blinzelte mehrmals … und schon war das blaue Leuchten verschwunden, als wäre es nie da gewesen. Ihr Herz schlug heftig und ihre Finger zitterten. Nach einigen tiefen Atemzügen hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Diese Reaktion des Hara–Baumes konnte eigentlich nur bedeuten, dass der Geist die Seele des Sterbenden befreit hatte.

      Sie musste ihr Messer holen und sichergehen, dass er wirklich tot war. Das war ihre Pflicht als Späherin.

      Angst ließ ihr Herz wieder wild pochen. Wie sollte sie den Schamanen erklären, dass er ihr Messer genutzt hatte, um sich aus dieser Welt zu bringen? Das war sicherlich ein schreckliches Omen. Sie würde das Messer vermutlich tief im Wald vergraben und die Stelle segnen müssen.

      Asha huschte im schwachen Schein der Mondsichel zum Baum, näherte sich dem Mann zögerlich, ehe sie sich neben ihm in die Hocke sinken ließ und ihr blutiges Messer aufhob.

      Mit Gänsehaut auf dem ganzen Körper betrachtete sie sein Gesicht, das von Schrammen und blauen Flecken übersät war. Es wirkte noch so lebendig ... aber gehörte doch einem Toten.

      Sie senkte den Blick und murmelte einen kurzen Segen, um seinen Tod zu ehren.

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      Der Fiebernde schrak aus seinem wirren Traum und spürte, dass er nur wenige Augenblicke weggedämmert gewesen war. Er hatte keine Kraft mehr, um nach den Wunden zu tasten. Ein kühles Flüstern erfüllte seinen Kopf und sagte ihm, dass der Blutfluss versiegt war und er nicht sterben würde.

      Das Mädchen kniete wieder vor ihm und ein flammender, wütender Teil von ihm wollte sie anbrüllen, weil sie ihm nicht half.

      Sie sprach von Geistern und einem Segen, doch er dämmerte immer wieder kurz weg und sah dann Spiralen aus eisigem Nebel und glühenden Flammen, die sich umkreisten. Sie bezeichnete den Baum über ihm als heilig, nannte ihn Hara … was in ihrer seltsamen Sprache wohl mächtiger Schutz bedeutete.

      »Es tut mir leid«, flüsterte sie am Ende ihrer kleinen Ansprache – nicht wissend, dass er noch lebte … und sie verstehen konnte.

      Seine Augen waren halb geschlossen, sodass er kaum mehr als ihre weichen Lederschuhe sah, auf die das Mondlicht wilde Schatten warf. Sein Verstand sagte ihm, dass er eigentlich mit dieser dünnen Mondsichel niemals so gut hätte sehen dürfen … aber es erschien ihm seltsam unwichtig. Er dachte nur an sie.

      Sein Arm lag ebenfalls in seinem Blickfeld, ganz nah an ihrem Fuß. Er sah, wie seine Finger zuckten, ohne ein richtiges Gefühl für den Arm zu haben.

      »Es