Farina de Waard

Jamil - Zerrissene Seele


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      »Sie sind … ich glaube, sie werden uns für den Tod ihres Mannes verantwortlich machen. Und sie sind gefährlich. Sie sehen alle wild und wütend aus.«

      Die Schamanen traten vor und wirkten dabei so ernst und erhaben wie eh und je, offensichtlich hatten sie ihnen zugehört.

      »Ashanee, wir danken dir für deinen Mut und deinen Bericht. Wir halten es für das Beste, wenn sich ab jetzt alle den Fremden gegenüber mit äußerster Vorsicht verhalten«, erwiderte der älteste der vier Schamanen, bevor er sich an die Versammelten wandte. »Kommt ihnen nicht zu nahe, bis wir herausgefunden haben, was dort an der Klippe geschehen ist. Ashanee, denkst du, dass du deine Pflichten als Jägerin heute Nacht trotzdem erfüllen kannst?«

      Asha nickte langsam, während sie in Gedanken noch immer bei dem schmerzverzerrten Gesicht des jungen Mannes verweilte.

      »Wir werden die Geister befragen und sie um Gnade für diese arme, fremde Seele bitten. Du hast ihn als letzte gesehen, deshalb ist es richtig, wenn du Opfergaben an den heiligen Baum bringst, nachdem wir sie gesegnet haben.«

      Bei den Worten der jüngeren Schamanin verzerrte Asha das Gesicht. »Ich weiß nicht, ob die Fremden darüber glücklich sein werden, wenn ich direkt wieder dort auftauche. Sie sind so nah an unserem Hara–Baum … und sie haben mir mein Messer abgenommen.«

      Die Schamanin zögerte einen Moment und wirkte ungehalten, dann nickte sie jedoch. »Gut, dann bring die Gaben heute Nacht dort hin, bevor du jagen gehst. Damit sie dich nicht sehen. Und Haluschks Krieger werden dir sicherlich ein neues Messer geben, damit du nicht schutzlos bist.«

Bild5

      Navennes Schluchzen riss Aldo aus seinem unruhigen Schlaf. In ihrem Zelt war es noch dämmrig und klamm, er konnte kaum mehr als zwei, drei Stunden geschlafen haben und fühlte sich kein bisschen erholt.

      Wie auch, nachdem er den gestrigen Abend und die halbe Nacht damit verbracht hatte, die Gemeinschaft und anschließend seine Frau zu beruhigen? Sie hatten auf Geheiß der Seherin die Bucht und auch den Wald nach Jamil abgesucht … ohne Erfolg.

      Sein ganzer Körper fühlte sich steif und ausgelaugt an. Dieser Gedanke war ihm seit ihrer Flucht wieder und wieder durch den Kopf gewandert. Er war alt und müde geworden.

      Die Erschöpfung lag auf seinem Herzen wie ein Stück Blei und er hatte nicht mehr die Kraft, sie zu bekämpfen. Er wusste, dass seine Frau schlimmer litt als jeder andere, doch Aldo konnte ihr kaum Trost spenden.

      Als er seine Hand auf ihre Schulter legte, zuckte sie zurück und starrte ihn mit verquollenen Augen so vorwurfsvoll an, als hätte er selbst Jamil von der Klippe gestoßen.

      Es wollte einfach nicht zu ihm durchdringen. Sein Sohn sollte tot sein? Vor wenigen Wochen hatten sie noch darüber gesprochen, wie er sich auf seine zukünftige Position als Rätor und Ehemann von Lezana vorbereiten sollte. Sie hatten die Soldaten und Feuer überlebt, quälenden Hunger und den Sturm … und jetzt war er fort? Von der Klippe gestürzt, bei einem dummen Unfall?

      Aber das hatte die Seherin ja nicht genau sagen können. Vielleicht hatte er sich einfach nur im Wald verlaufen und dieses Mädchen hatte geschrien, weil sie sich über ihr Lager erschrocken hatte? Oder diese Wilden hatten ihn ermordet.

      Im selben Moment beschloss er, dass sie sich für einen Angriff rüsten mussten. Balor war noch nicht von seinen Erkundungen zurück, doch auch die anderen hatten bisher keine bessere Stelle für eine Siedlung gefunden. Hier gab es Wasser und Nahrung, das war jetzt am wichtigsten.

      Sie mussten zusammenhalten und sich verteidigen.

      Er würde den Befehl geben, zwei solide Langhäuser aus Stämmen zu errichten und nur seiner Familie und der Seherin eigene Häuser bauen, um ihren Stand in dieser neuen Welt zu stärken.

      Einer Welt, in der er nur noch einen Sohn hatte.

      Während Navenne ihr Gesicht in den Händen verbarg und wieder zu schluchzen begann, wurde Aldo klar, dass er Jamils Tod niemals würde verkraften können.

      Der gellende Schrei eines Kindes riss ihn und seine Frau aus ihren Gedanken.

      »Mamaaaa!«

      Das Kreischen drang durch die dünne Zeltwand und Aldo sprang auf, um hinauszueilen.

      »Mamaaaa! Ein Ungeheuer!«

      Aldo wandte sich zur nebelverhangenen Bucht und eilte los, dicht gefolgt von anderen aus dem Lager.

      Ein kleines Mädchen kletterte weinend die Böschung des Strandes hinauf und umklammerte eine Muschel, als hinge ihr Leben davon ab. Ihre Mutter überholte Aldo und schloss die Kleine in ihre Arme, die endlich stotternd erzählte, was passiert war, nachdem die Mutter ihr besorgt das Haar aus dem verweinten Gesicht gestrichen hatte.

      »I–ich wollte Muscheln sa–sammeln fü–für die Götter. Aber d–da ist ein U–Ungeheuer!«

      »Was tust du denn da allein? Ich habe dir doch gesagt, du darfst nicht zu weit von den Zelten weg!«, rief die Mutter tadelnd, doch Aldo hielt sie auf und fragte die Kleine, wo sie das Ungeheuer gesehen hatte.

      Sie deutete mit der Muschel zur rechten Seite der Bucht, wo der kleine Strand in die Felsen der Klippe überging, von der Jamil angeblich gestürzt war.

      In diesem Moment wurde Aldo bewusst, wie sehr er und seine Frau sich an die Hoffnung geklammert hatten, dass diese fremde junge Frau sich geirrt oder man sie falsch verstanden hatte. Die ganze Nacht über hatten sie insgeheim zu den Göttern gefleht, dass Jamil aus dem Wald auftauchen würde und alles ein Irrtum war.

      Der Gedanke, ihn dort unten am Strand zu finden, war unerträglich … doch er musste jetzt der Rätor sein, kein Vater. Langsam wandte er sich um und erkannte, dass sich fast alle aus der neuen Siedlung versammelt hatten.

      »Ihr bleibt hier, während ich mir das ansehe. Moleno, Farnir, ihr kommt mit.«

      Der alte Mann und der Sohn ihres Schmieds nickten hastig und traten vor, während Navenne sich durch die Menge drängte. »Ich komme auch mit.«

      »Nein!«

      »Du kannst mir das nicht verbieten, Aldo! Ich muss …« Sie brach ab, doch er konnte an ihrem verzweifelten Blick sehen, dass sie sich durch nichts würde aufhalten lassen.

      »Ihr anderen sucht nach der Seherin! Wir brauchen ihren Beistand«, befahl er nach einem Blick auf die Versammelten, wartete die Antwort jedoch nicht ab, da seine Frau bereits die Böschung hinabstieg und über den Kiesstrand eilte.

      Die Steine knirschten unter ihren Füßen. Er folgte Navenne, hörte hinter sich die beiden Männer – und ächzte auf, als er neben seiner Frau am Ende des Strands stehen blieb und auf die Gestalt starrte.

      »Neeein!«

      Navennes Schrei ließ Aldos Herz bersten. Er sah aus dem Augenwinkel, wie seine Frau kraftlos zu Boden sank, konnte aber den Blick nicht abwenden.

      Jamils Oberkörper ragte auf den Kiesstrand, der Rest lag im Wasser, von Wellen und Seetang umspült. Eine Möwe hüpfte im morgendlichen Nebel vorsichtig näher, legte den Kopf schräg und flog dann kreischend davon.

      Natürlich hatte die Kleine ihn für ein Monstrum gehalten, so geschunden, wie er war. Sein Körper glänzte rot von Blut und grün von Seegras und Tang, die sich um ihn gewickelt hatten.

      Aldo war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Die Gewissheit lähmte und entmachtete ihn. Bis vor wenigen Augenblicken hatte er sich an diese winzige, idiotische Hoffnung klammern können. Jetzt kroch Navenne weinend und klagend auf die Leiche ihres Sohnes zu.

      Was ist das nur für ein Schicksal?, dachte Aldo. Ertrunken, nachdem wir gerade dieses riesige Meer überwunden und den Krieg überstanden haben …

      Navenne klagte weiter, rief die Götter um Beistand an und streckte zitternd ihre Hand aus, wagte es aber nicht, ihren Sohn zu berühren – und ihr entfuhr ein Schrei, als Jamils rechter Arm sich