Farina de Waard

Jamil - Zerrissene Seele


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das jetzt nur noch seine Waden und Füße umspielte.

      Nach einer Weile veränderte sich der Schmerz, wurde an manchen Stellen klarer.

      Brüche. Der Sturz auf die hervorstehenden Felsen im Wasser musste ihm die Beine und einen Arm gebrochen haben. Auch einige Rippen brannten wie Feuer, sie fühlten sich an, als seien sie zu kleinen Splittern zerbröselt und würden sich Stück für Stück durch seine Lungen fressen.

      Die Seherin glaubte also, dass ein Fluch auf ihm lag? Das hörte sich völlig wahnwitzig an … Er war doch er selbst! Er spürte jede Faser seines Körpers so real und intensiv wie nie zuvor.

      Aber der Gedanke ließ ihn nicht los. Ein Fluch? Ein Dämon?

      Warum war er noch am Leben? Sein Körper fühlte sich so geschunden und zerstört an, dass er sich tatsächlich fragte, wie er eigentlich noch atmen konnte.

      Allerdings war für ihn klar, dass er sich eben NICHT wie ein Dämon fühlte.

      Sie ließen ihn im Stich, ließen ihn leiden. Er musste sie davon überzeugen, dass er noch er selbst war!

      Kalter Wind fegte über den dunklen Kiesstrand. Jamil zitterte, schließlich schaffte er es, seinen rechten Arm zu heben und sich eine Handlänge über die Steine zu ziehen. Als sich die Brüche verschoben, schoss derart heftiger Schmerz seine Seite hinab, dass er laut aufbrüllte.

      Niemand kam ihm zu Hilfe, obwohl er sicherlich das ganze Lager aus dem Schlaf geschreckt hatte.

      Jamil fasste all seinen Mut zusammen und zog sich noch ein Stück aus der Brandung.

      Ein weiterer markerschütternder Schrei hallte über die Bucht, als die Pfeile, noch immer zwischen den Steinen verkeilt, sich verdrehten und die Wunden weiter öffneten.

      Mit Mühe schaffte er es, den obersten Pfeilschaft zu ertasten, der anscheinend mit Seetang umwickelt war.

      Warmes, dickes Blut quoll über seine Finger und erneut packte ihn eine Welle aus Schmerz, bevor er das Bewusstsein verlor.

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      Es waren leise, zaghafte Schritte auf dem Kies, die ihn aus seinen ersten Fieberträumen aufschrecken ließen.

      Ein Zucken durchlief Jamil, als er sich der Schmerzen wieder bewusst wurde. Für einen Moment wünschte er sich zurück in den wirren, sinnlosen Traum aus Flammen und Wasser.

      Aber da schlich jemand langsam über den Strand und näherte sich ihm – genau in dem Moment, als etwas an seinem Bein zerrte. Schmerz durchbrannte ihn vom Fuß bis zur Hüfte, er stöhnte auf, drehte seinen Kopf – und starrte in die glühenden Augen eines riesigen Kojoten.

      Jamil schrie wütend auf und wollte einen Stein packen, um ihn nach dem Kopf des Tieres zu schleudern, doch er konnte ihn nicht anheben. Seine Finger glitten einfach kraftlos an ihm entlang, ohne ihn fassen zu können.

      Der Kojote ließ sich durch das Erwachen seiner Beute nicht im Mindesten stören. Im Gegenteil, er schnupperte an Jamils Kleidung, besonders die Pfeilwunden schienen ihn zu interessieren.

      Jamil ächzte, als er den schillernden Blick auf sich spürte. Nein! Er würde sich nicht lebendig fressen lassen! Wut kochte in ihm hoch und er schlug kraftlos nach dem Tier, auch wenn das eine Welle aus brennendem Schmerz durch seinen Leib jagte.

      Der Kojote sprang lautlos über ihn hinweg und verschwand aus seinem Blickfeld.

      Einen Moment lang wagte er zu hoffen, doch dann hörte er wieder das Schnuppern des Tieres, ehe es ein lautes, helles Heulen ausstieß, das Jamils Schrei nicht unähnlich war.

      Es dauerte nicht lange, da tauchte ein zweiter Kojote aus den weiten Schatten der Bucht auf. Er verschwamm immer wieder in Jamils Blickfeld, bevor dieser erschöpft die Augen schloss.

      Als er die Lider mit Mühe wieder aufschlug, kauerte der zweite Kojote vor ihm, bedrohlich an den Boden geduckt und knurrte. Plötzlich jaulte das Tier hinter ihm auf und rannte zu seinem knurrenden Gefährten, dicht gefolgt von einem größeren Schatten.

      Sein Helfer jagte hinter den fliehenden Kojoten her, warf Stöcke und Steine nach ihnen; erst als weit entfernt das klagende Heulen erneut ertönte, drehte er sich um.

      Hoffnung entbrannte in Jamil. Sein Bruder war von den Erkundungen zurück! Er würde ihn nicht hier liegen lassen. Er würde sich über das Gebot der Seherin hinwegsetzen und – da kam die breite Mondsichel hinter den Wolken hervor und tauchte die Person in mattes Licht.

      Erstaunen und Enttäuschung kämpften in ihm, als sich das fremde Mädchen vor ihm in die Hocke sinken ließ. Ihre Augen glitzerten, während ihr Gesichtsausdruck völlig neutral blieb. Zuerst sahen sie sich nur schweigend an … dann berührte sie zaghaft seine Hand und deutete hoch auf die Klippe. Sie machte eine Bewegung, die laufen bedeuten könnte, und deutete die Wiese hinauf, die an der Klippe entlang nach oben führte.

      Ihre Schönheit ließ ihn seine Schmerzen einen Augenblick vergessen. Das Licht des Mondes wurde ein wenig stärker, sie beugte sich zu ihm – und Jamil sah sich selbst in ihren Augen widergespiegelt. Er sah seinen eigenen Schmerz und ihm stockte der Atem.

      Dann drehte sie seine Hand um und drückte sie flach. Er wusste nicht, was größer war: die Faszination, die er verspürte, weil sie hier bei ihm war, oder der Schmerz, der seinen Arm durchflutete, weil er bewegt wurde.

      Sie nahm ein Stück Schwemmholz und hielt es vor sein Gesicht, deutete hoch auf die Klippe und dann auf seine Hand … und eine Erinnerung streifte seinen Geist. Sie wollte, dass er hinauf zu dem Baum ging. Aber warum?

      Neue Hoffnung machte sich in ihm breit. Sie könnte auch zu ihrem Dorf deuten, das hinter der Klippe lag … Würde sie ihm helfen? Würde sie ihn dorthin bringen, damit man ihn rettete? Er bewegte angestrengt den Arm, schloss seine Finger um ihre Hand, doch sie riss sie rasch weg und schüttelte den Kopf.

      Ich kann nichts für dich tun!, sagte ihr Blick und sie stand auf.

      Nein!, dachte Jamil und Zorn brannte in ihm. Nein, so hilf mir doch!

      Er wollte sie zurückhalten, verstand nicht, warum sie ihn zurückließ, doch ehe er sich erneut regen konnte, tauchte eine Wolke die Bucht in Dunkelheit und sie war fort.

      Jamil wartete, hoffte.

      Sie kommt wieder. Sie holt ihre Leute … Sie lässt mich hier nicht sterben!, sagte er sich immer und immer wieder, um nicht wahnsinnig zu werden.

      Als die nächsten Wolken die Mondsichel mehrmals enthüllt und verdeckt hatten, kehrte sie noch immer nicht zurück – und er verfluchte sie im Stillen.

      Aber ich will leben!, dachte er zornig. Ich werde leben!

      Trotz beherrschte seine Gedanken, als er mit der rechten Hand anfing, den Tang langsam von den Pfeilen in seiner Seite zu lösen und sie so zu befreien. Er betastete vorsichtig die Eintrittsstellen, schloss seine Hand um den ersten Schaft in seiner Seite, doch er konnte ihn nicht herausreißen. Ein Schrei entwich seiner Kehle, als er kurz an dem Holz zog und es dann rasch wieder losließ.

      Er brauchte Hilfe! Wenn dieses Mädchen sie ihm nicht gewährte, dann würde er sie sich selbst holen! Er schrie! Er brüllte nach seinem Vater, seiner Mutter, aber keiner kam. Das flache Tal über ihm blieb totenstill.

      Sie haben mich alle verraten!, dachte Jamil verbittert, doch dann durchzuckte es ihn. Aber was, wenn ich es hinauf schaffe? Was, wenn ich bis vor ihr Zelt krieche, dann müssen sie erkennen, dass ich lebe und noch ich selbst bin!

      Sein Vater musste ihm doch helfen, wenn er erkannte, dass sein Sohn kein Dämon war, oder? Verzweiflung breitete sich in ihm aus, ließ seinen Magen verkrampfen. So leicht konnte Aldo seinen Sohn doch nicht aufgeben!

      Er streckte den gesunden Arm nach vorn, packte die Steine, grub seine Finger in den Kies und zog sich weiter. Höllenqual durchbohrte ihn, doch er bewegte die Beine, stemmte sich etwas vom Boden weg – und arbeitete sich vor. Eine Handbreit nur, aber