Frank Riemann

Das Lied des Steines


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in Ordnung, stand den halben Tag in der Küche und zeterte niemals, wenn er Nachts aus dem gemeinsamen Bett musste, was in diesem Jahr jetzt auch schon zum vierten Mal vorgekommen war. Wann hatte er ihr eigentlich das letzte Mal gesagt, dass er sie liebte, oder ihr eine Kleinigkeit mitgebracht? Er liebte sie wirklich, und sie beschwerte sich niemals.

      Er drehte den Zettel in den Fingern; eigentlich hatte er überhaupt keinen Hunger, er war nur müde. Die vergangene Nacht hatte ihn arg mitgenommen und er hätte seine Frau jetzt gerne gesehen und mit ihr gesprochen.

      Er ging ins Wohnzimmer und rief im Revier an. Das Verhör des verhafteten Kochs, Kazuko Odagi, hatte bisher nichts ergeben. Mit dem Hinweis an sein Labor, dass er am späten Nachmittag noch einmal vorbeischauen würde, da er jetzt erst einmal ein paar Stunden Schlaf bräuchte, verabschiedete er sich und legte auf. Er lehnte sich einen Moment im bequemen Sessel zurück und schloss die Augen. Es kam ja ab und zu mal vor, dass er nachts zu einem Tatort gerufen wurde, was ihn so beschäftigte, war die Sinnlosigkeit der Tat.

      Fast wäre er im Sessel eingeschlafen, aber Satoshi zwang sich dazu, aufzustehen und streifte ziellos durch die Wohnung. Er schaute in der Küche in die Schränke, als ob er dort die Antworten auf seine Fragen finden würde, ganz so wie er es zuvor in der Restaurantküche in der Hoffnung auf einen Hinweis getan hatte. Selbst in die Töpfe, in einem war schon der Fisch in einer Teriyakisoße eingelegt, schaute er. Er ging ins Bad, öffnete das kleine WC-Schränkchen, schloss es wieder und wusch sich die Hände. Satoshi schlenderte zurück ins Wohnzimmer und zappte durch ein paar Fernsehkanäle. Werbung - ein drittklassiger Spielfilm - ein Home Shopping Sender - Cartoons - Musik - Nachrichten. Er schaltete ab und ging zum Zimmer seiner Tochter.

      Die Tür war auf, was nicht immer der Fall war. Wenn Tatsu sich mit ihren Eltern gestritten hatte, schloss sie sich oft ein und verschanzte sich hinter, oder besser unter, dem Kopfhörer ihrer Musikanlage.

      Über ihrem Bett hing hinter Glas ein riesiges Poster, vor dem Satoshi stehen blieb. Es zeigte ein großes Samuraischwert mit Schriftzeichen am unteren Teil der Klinge knapp über dem Griff, welcher in braunem Leder eingefasst war. Bunte Bändchen hingen von ihm herab. Im Hintergrund war eine Hügellandschaft mit einem kleinen Zedernwald und einem alten Häuschen zu sehen. Aber das Katana, das japanische Wort für Schwert, beherrschte das Bild. Als seine Tochter acht Jahre alt war hatte er ihr einmal erzählt, wie die Familie zu ihrem Namen gekommen war.

      Vor vielen hundert Jahren, als Japan unter den Feindschaften der einzelnen Provinzen untereinander und den Kriegen zwischen den Fürsten zu leiden hatte, begegnete der Ahnherr der Familie dem Fürsten Yamashiro. Dieser war mit seinen Kriegern und Soldaten, Samurais und Söldnern auf dem Weg zurück in die heimische Festung. Obwohl viele tapfere Männer ihr Leben gelassen hatten, war die Schlacht erfolgreich für Yamashiro verlaufen. Der Familiengründer trat aus dem Wald heraus und dem Zug entgegen und wäre beinahe von der Leibgarde des Fürsten niedergemacht worden, die ihn für einen Attentäter, einen Ninja, hielten. Der Fremde, so die Familienchronik, beugte sein Knie und flehte um sein Leben, Essen und eine Anstellung. Obwohl in verschlissene Lumpen gekleidet, war er jung und stark und da der Fürst gut gelaunt ob des Sieges war, nahm er ihn auf. Sein Name war nicht bekannt. Er wurde zum Soldaten ausgebildet und zeigte sich sehr geschickt, und so durfte er sich schon bald in des Fürsten Leibgarde einreihen. Dort diente er sich hoch.

      Eines Nachts fand ein Anschlag auf Yamashiro statt. Die Wachen vereitelten ihn und im Kampf wurden alle Angreifer getötet, der Kommandant schwer verletzt und der Urahn der Familie rettete dem Fürsten das Leben. Nachdem der Kommandant dann verstorben war, Jahre nachdem er das erste Mal vor Yamashiro getreten war, wurde er Befehlshaber der Garde und der greise Fürst persönlich beförderte ihn. Als oberstem Leibgardisten oblag ihm auch höchstselbst die Aufsicht, besser die Bewachung, der fürstlichen Schwerter. Und so kam er zu seinem Namen. Von `Bewahrer des Schwertes` ist über die Jahrhunderte nur noch der heutige Familienname Katana übrig geblieben.

      Als Tatsu das Bild mitbrachte, das sie in einem Laden gefunden hatte, war die ganze Familie sofort davon begeistert gewesen, aber sie ließ es sich nicht nehmen, es in ihrem Zimmer aufzuhängen.

      Katana ging ins Schlafzimmer, zog die Schuhe aus und setzte sich auf das niedrige Bett. Er überlegte, ob er noch auf seine Frau warten sollte, aber sie schien doch nicht so bald zurückzukommen. Er ließ sich zur Seite fallen und murmelte: »Nur einen Moment die Augen zumachen, nur einen Moment.«

      Und so, angezogen und mit vom Bett baumelnden Beinen schlief er ein.

      Zuerst war nur Schwärze um ihn herum und er nahm nichts wahr, er war in einen tiefen Schlaf gefallen. Doch dann gewann das Unterbewusstsein die Oberhand, sendete Bilder in sein Gehirn und er träumte von einem winzigen grauen Raum. Über die Schultern zweier Männer blickte er durch eine Glasscheibe in einen weiteren tristen Raum. Dort saßen sich an einem Tisch vier Männer gegenüber. Zwei in einfachen Straßenanzügen, und ihnen vis-à-vis Einer in teurem Zwirn, sehr fein und mit dunkler Krawatte. Der Letzte, der neben ihm saß, hatte eine Art weißen Kittel an und eine weiße Mütze auf. Er schaute sich irritiert um, als wüsste er nicht, wo er sich befand, während die anderen Drei heftig miteinander diskutierten.

      »Wie sind Sie an das Gift gekommen, Sie Schwein?«, erboste sich einer der Beamten.

      »Bitte, das muss sich mein Mandant nicht gefallen lassen«, erwiderte der Verteidiger und der Koch starrte seine Gegenüber an, als begriffe er gar nicht, dass es um ihn ging.

      »Ihr Mandant«, ergriff der andere Polizist mit verächtlicher Stimme das Wort, »müsste sich eigentlich noch viel mehr gefallen lassen. Wollen Sie sich nicht einen Kaffee holen, Herr Anwalt?«

      »Das habe ich nicht gehört. Was Sie vorhaben ist illegal, und das wissen Sie.«

      »Also nochmal, warum haben Sie 17 Personen vergiftet. Wie haben Sie es getan und verdammt nochmal, wo haben Sie das Gift her?«

      Wie in einem alten Film verschleierte sich Katanas Traumbild bis zur Unkenntlichkeit, dann manifestierte es sich wieder und als Nächstes sah er eine Küche, wie sie in Restaurants vorkam, mit einigen Waschbecken, mehreren Herden, Öfen und Arbeitsplatten. Es gab Schubladen voll mit Messern, Löffeln, Sieben und weiterem Zubehör. An einer Wand stand ein Regal mit Töpfen und Pfannen. Durch eine Schwingtür kam ein Kellner herein, stellte dreckiges Geschirr in ein Becken, wusch sich eher schnell als reinlich die Hände und reichte ihm einen Zettel.

      Katana sah auf seine Hände hinab, die die Bestellung hielten. Er führte sich einen polierten Topf vor seine Augen und sah eine verschwommene weiß gekleidete Gestalt, mit einer hohen weißen Kochmütze. Er drehte sich im Kreis und hatte einen wunderbaren Rundumblick durch die ganze Küche. Er schaute auf die Notiz; es waren Bestellungen der Gäste, die er nun zuzubereiten hatte. Dort standen zwar nur Nummern, aber er wusste sofort, was sie zu bedeuten hatten. Hummer mit Curryreis, Sojasprossen und Bambusbeilage. Hühnerfleisch Gou-Bou mit Bambus, Champignons, Paprika, Morcheln und Knoblauch. Sowie ein Gemüsearrengement verschiedenster Sorten mit Rindfleischmedaillons. Das sollte er zubereiten? Er konnte kaum kochen und war froh, dass seine Frau das so gut beherrschte. Und woher wusste er, was die Nummern zu bedeuten hatten? Der Kellner verschwand mit einer Flasche Wein in der Hand durch die Schwingtür und ein Anderer kam herein, dreckiges Geschirr und einen Zettel in der Hand.

      Jetzt wieder der Verhörraum. Einer der Beamten hatte angefangen zu rauchen und ging im Zimmer auf und ab. Der Andere saß da und schüttelte den Kopf. »Warum sprechen Sie nicht mit uns? Die Beweise gegen Sie sind erdrückend. Wenn Sie kooperieren und uns unsere Fragen beantworten, uns Ihre Motive deutlich machen und später auch dem Richter, kann das Ihre Lage doch nur verbessern. Wollen Sie auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren, zieht das eine sehr lange unangenehme Untersuchung nach sich. Wir sind nicht die Kläger, wir sind nicht Ihre Richter, wir wollen nur die Wahrheit herausfinden. Sie kommen hier nicht eher raus, bis Sie mit uns gesprochen haben.«

      Der Anwalt räusperte sich.

      »Also noch einmal von vorne...«

      Gerade noch Beobachter des Verhörs trug Katana jetzt eine Flasche Wein durch eine Schwingtür in einen Speisesaal. Der Besitzer des Lokals wollte etwas Anderes. Klassische japanische Restaurants, in denen man um die Kochplatten herum saß, gab es zur