Frank Riemann

Das Lied des Steines


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nicht nur eine einfache japanische Suppenbude. Und das kam in einem Land wie Japan, in dem Tradition und Moderne miteinander verschmolzen, gar nicht so schlecht an, gerade beim jüngeren Publikum.

      Der Kellner/Katana sah sich um, während er mit dem Wein auf ein junges Paar zuging. Im Moment waren knapp zwanzig Gäste da, ein durchschnittlicher Besuch.

      Im Verhörraum. Der Koch brach sein Schweigen: »Sie sagen, ich hätte gestern Abend eine hochgiftige Flüssigkeit unter das Essen unserer Gäste gemischt. Ich hätte zwölf Menschen auf diese Weise getötet, vielleicht kommen noch Weitere hinzu. Sie wollen wissen, wie ich das geschafft habe und warum ich das getan habe.«

      Einer der beiden Beamten verlor die Fassung und schrie: »Ja, verdammte Scheiße! Reden Sie endlich!«

      »Ich kann dazu nur sagen: Ich weiß es nicht. Für mich ist das Alles gar nicht passiert. Was Sie mir vorwerfen, kommt mir vor wie ein böser Traum. Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, wie ich die Küche betrat, um die ersten Vorbereitungen für den Abend zu treffen, und das Nächste, das ich wieder weiß, ist, als mir Ihre Leute ins Gesicht geschlagen haben und Sie mich mit diesen Vorwürfen konfrontiert haben.« Er sprach leise und wirkte geknickt, als würde er jeden Augenblick zusammenbrechen, sich der Schwere seiner Bürde, die auf ihm lastete, allmählich gewahr werden. »Zum Hergang kann ich Ihnen nichts sagen, weil ich mich nicht erinnern kann. Ich weiß gar Nichts. Sie wissen ja sogar noch mehr, als ich.«

      Satoshi war wieder der Koch, der eine hellbraune Flüssigkeit erst in eine Tasse füllte und sie dann unter eine Soße rührte.

      Er war der Kellner, der vier Teller zu einem der Tische balancierte, an dem sich eine gesellige Runde zusammen gefunden hatte.

      Und obwohl er wusste, was passieren musste, konnte er nichts dagegen tun, er war nur ein Zuschauer in fremden Körpern.

      Jetzt saß er einer eleganten Frau gegenüber, bekam keine Luft mehr, hatte Angst, zu ersticken, seine Brust krampfte sich zusammen, fiel vom Stuhl und wand sich vor Schmerzen. Das Letzte, das er sah, war, dass seine Begleiterin ebenfalls zu Boden sank, sich krümmte, ebenso wie viele andere Gäste in seinem Blickfeld. Alles lief wie in Watte gepackt ab: dumpf, langsam und leise. Dann drohte der Schmerz ihn zu überwältigen.

      »Huh! Was ist los?«

      Kimiyo saß neben ihm auf dem Bett und hatte ihre Hand auf seine Stirn gelegt. Sie lächelte ihm beruhigend zu. »Du hast im Schlaf gesprochen. Du hast immer gesagt: `Ich weiß es nicht`. Was bedrückt dich? Ist es deine Arbeit?«

      »Ich hatte einen schrecklichen Traum. Das gibt dem Satz `Er löste den Fall im Schlaf` eine vollkommen neue Bedeutung. Aber leider bin ich jetzt auch nicht schlauer, als vorher. Das Schlimme war, es war so real. Als wäre ich dabei gewesen…«

      Seine Frau, die die Zusammenhänge nicht begriff, schaute tröstend und sanft zu ihm hinunter.

      Katana setzte sich auf. »…als Beobachter, und als teilnehmender Akteur, als mehrere Personen. Ist das nicht verrückt?«

      Kimiyo küsste ihn »Na, jetzt ist es ja vorbei«, stand auf und verließ das Schlafzimmer. Die Worte ihres Mannes konnte sie schon nicht mehr hören.

      »Wenn ich ehrlich bin, dann glaube ich: Dies war erst der Anfang.«

      Santiago de Chile, Montag 26. April, 13:20 Uhr

      Sein Essen wollte ihm diesmal nicht so recht schmecken. Benito Latas saß wie ein Fremdkörper in der großen Kantine des Präsidiums und rührte lustlos in seinem Hühnchen auf Reis herum. Rings um ihn war ein lautes Durcheinander. Die Kollegen der verschiedenen Abteilungen hatten sich zu kleinen Gruppen an ihren Tischen zusammen gefunden. Der Lautstärkepegel im Speisesaal war enorm, da Alles durcheinander sprach. Von den Polizeischülern, die hinter Ben saßen, bekam er nur vereinzelte Gesprächsfetzen mit. Ein junger Bursche erzählte von dem Fall, an dem er mitarbeiten durfte, Bens Fall.

      Er berichtete den anderen Schülern, wie sie am Tatort eine ziemlich zerhackte Frauenleiche vorgefunden hatten. »Die sah vielleicht heiß aus, das kann ich euch sagen.« Dass ihm übel geworden war und er sich hinter einem geparkten Auto erbrochen hatte, verschwieg er wohlweißlich.

      »Da wäre mir bestimmt schlecht geworden«, bemerkte eine weibliche Stimme hinter Ben.

      »Na ja«, reagierte der Erzähler, »entweder man kann das ab, oder nicht.«

      Ben drehte sich um, um zu sehen, wer denn der harte Kerl war und bekam mit, wie der junge Kollege seine Kameradin tröstete. »Da gewöhnst du dich schon dran.« Sie bemerkte gar nicht, dass er sich jetzt selbst widersprach.

      Ben war der Knabe am Einsatzort noch nicht einmal aufgefallen, wie es so oft mit Schülern war, die nur Botengänge erledigten, Schaulustige fernhielten oder älteren Beamten unauffällig über die Schulter sehen wollten. Er wendete sich wieder um und alle Gespräche verschwanden in einem murmelnden Getöse. Selbst die Worte seiner Kollegen, neben ihm und gegenüber, nahm er nicht mehr wahr, und schob sich ein Stückchen Geflügel in den Mund, auf dem er lange und leidenschaftslos herumkaute.

      Nach der Pause saß Ben an seinem Schreibtisch und versuchte das, was er an Fakten hatte mit seinen Vermutungen und Ahnungen zu verbinden und auf eine Linie zu bekommen. Viel war es ja nicht, aber vielleicht bekam er ja einen Einfall, wenn er es systematisch anging.

      Das oberste Blatt seiner Schreibunterlage war mit Telefonnummern und kurzen Mitteilungen vollgeschrieben. Zum Beispiel stand da `Jose Aparo – 3005376`, ein teures Restaurant, dessen Besuch er sich bis jetzt immer vorenthalten hatte. Oder direkt in der Mitte des Blattes `26. 04. - Izabella anrufen`. Dann noch `Fernando – 1462431`, die Bar um die Ecke, in der sich Ben öfter Sandwiches und Kaffee besorgte. Die Sachen aus den hauseigenen Automaten, die auf jedem Flur standen, empfand er als ungenießbar.

      Moment mal, `Izabella anrufen`. Heute? Später, wenn er nicht so beschäftigt sein würde vielleicht. Izabella war seine Verlobte. Ben riss das Blatt ab, faltete es einmal und stopfte es in eine der Schubladen seines Schreibtisches. Sie quoll fast über vor gefaltetem Papier, aber sein System hatte Erfolg, wenn er eine alte Notiz oder Nummer suchte. Er blätterte dann alle Zettel noch einmal durch, ohne jedoch jeden Einzelnen gründlich zu studieren. Vielmehr warf er nur einen kurzen Blick darauf und nahm das Gesamtbild in sich auf. Dann wusste er fast immer sofort, ob sich die gesuchte Mitteilung auf diesem Bogen Papier oder auf einem anderen befand, und wenn ja, an welcher Stelle sie stand.

      Ben schob die Lade zu, griff sich einen Bleistift aus dem Stifthalter, da brach die Mine beim ersten Buchstaben, einem O, ab. Ben sah in das kleine Loch im weichen Holz des Stiftes, als ob er dort etwas finden würde, schüttelte stumm den Kopf und da er keine Lust zum Anspitzen hatte, steckte er ihn zurück und nahm sich einen anderen Stift. Er prüfte vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger die Spitze und begann zu schreiben.

      Opfer: Cora Bastion, 48 Jahre, Selbstmord ausgeschlossen. Ben erinnerte sich daran, wie er einmal einen alten amerikanischen Schundfilm gesehen hatte. In diesem wurde ein Mann regelrecht ausgeweidet, weigerte sich aber beharrlich zu sterben und lief als fast leere Hülle herum und begann sogar seine eigenen aus ihm heraushängenden Gedärme laut schmatzend zu verspeisen. Dann bildeten sich andere Bilder vor Bens geistigem Auge wie Senora Bastion sich selbst all diese schrecklichen Wunden beigebracht und es dann noch geschafft hatte, kurz bevor sie gestorben war, das große Fleischermesser zwei Straßen weiter zu werfen, wo es nämlich gefunden worden war. Nein, unmöglich.

      Familie: Ramon Bastion, Ehemann, kein Motiv (vermutlich).

      Sandra Bastion, Tochter, kein Motiv.

      Nach dem Verhalten des Mannes hätte die Tochter eher einen Grund gehabt ihm, dem Vater, an die Gurgel zu gehen.

      Arbeitsplatz: Näherei nahe Tatort, C. B. unauffällige Mitarbeiterin, keine Probleme, hier auch einzige Freundin, Roberta Alcatena, kein Motiv.

      Ben erinnerte sich daran, wie er, entgegen seines ersten Vorhabens, doch zuerst zur Näherei gefahren war, um der Gerichtsmedizin Zeit zur Arbeit zu geben. Ungemütliche zugige Hallen mit diffusem Licht, träge lustlose