Frank Riemann

Das Lied des Steines


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kam Kuznov aus der Wohnung, und es glich fast einer Flucht. Ohne sich ordentlich verabschiedet zu haben, war er froh, als er wieder draußen war. Er hatte nichts Neues erfahren, dafür hatte die Alte ihn mit ihrem Sarkasmus und ihrem Spott fast in den Wahnsinn getrieben. Sie hatte ihre spitzen Bemerkungen wie ein Füllhorn über ihn ausgegossen, so dass er sich wie ein kleiner Junge vor seiner Lehrerin vorkam.

      Nach einigen Fehlversuchen, sprich, Türen, an denen er vergebens geklopft und geklingelt hatte, näherte er sich der Wohnung der Familie Georgijev. Kuznov sah gerade noch einen Schatten hinter dem Spion verschwinden, als auch schon die Tür aufgerissen wurde.

      »Nur herein, nur herein. Sie wissen doch, die Leute tratschen zu viel«, zeterte eine Frau, wie es sie wohl in jedem Mehrfamilienhaus mindestens einmal gab. Eine Frau, die Alles wusste und Alles mitbekam, oftmals schon bevor es passiert war. Ehe er sich wehren konnte, zog sie ihn ins Wohnzimmer und schloss die Tür. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich, na los doch.« Sie bugsierte ihn zu einem bunten Sessel, zu dem es wahrscheinlich auf der ganzen Welt kein Gegenstück gab, zog sich einen Stuhl heran, setzte sich dem Kapitan gegenüber, und noch bevor dieser irgendetwas sagen konnte, brach ein Gewitter über ihn herein, dem er nichts entgegen zu setzen hatte.

      »Also, das war ja so: Gaspadin Ivanov war ja ein ganz Ruhiger, etwas seltsam, aber ruhig. Man bekam ihn kaum zu sehen, und wenn, war kaum mehr als ein `Sdrastwuitje, Guten Tag` drin, wenn überhaupt. Ja gut, er war etwas ungepflegt. Zumindest noch bis vor vier Wochen, oder so, dann bekam er öfter mal Besuch von einer Frau, Letovka, Petrovka, oder so, und seitdem, wie ausgewechselt, ging es mit ihm wohl wieder bergauf. Er war rasiert, gepflegter, war in besserer Stimmung und so...«

      »Äh...«

      »...ja, und man hatte gerade das Gefühl, da ist ein Nachbar, der vielleicht doch ganz nett ist, und keiner, der sich nur verkriecht, und dann das...«

      »Also...«

      »...mein Mann war schon aus dem Haus. Wenn ich daran denke, dass es ja auch ihn hätte erwischen können. Was täte ich denn dann jetzt? Die Kinder waren kurz davor, zur Schule zu gehen, als das ganze Theater losging. Wissen Sie, es war eh schon unruhig genug heute morgen. Mein Mann hatte schlecht geschlafen, Probleme im Werk, Entlassungen und so, Sie verstehen. Dann wieder mal kein Kaffee im Haus, Streit und so. Von dem Krach wurde der Kleine wach und begann zu schreien. Als er dann endlich weg war, meinen Mann meine ich, und wieder Ruhe war, mussten die anderen beiden zur Schule. Streit ums Bad und so. Dann waren die auch endlich raus. Ich hab mir gerade überlegt, wo ich wieder einmal das Geld zum Einkaufen herkriege, Kaffee wird es übrigens so schnell bei uns nicht geben, als meine Beiden, Timofej und Larissa, wieder vor der Tür standen. Was ein Geschrei, `Mama, Mama, komm, unten liegt ein Toter`. Ja dann..."

      »Aber...«

      »...ja dann bin ich gleich runter. Schön langsam, so schnell ging das auch nicht, hatte ich mir doch letzte Woche auf der Straße unten den Knöchel verstaucht. Bin umgeknickt, verstehen Sie, am Bordstein, das tat vielleicht weh, das kann ich ihnen sagen. Macht man sich überhaupt kein Bild von, von sowas. Seitdem humple ich noch etwas, geht aber schon wieder. Ja also, ich bin dann vorsichtig die Treppen runter, da war ja schon das halbe Haus versammelt. Gaspascha Botscharnikova natürlich vorne weg, die ist bei so etwas ja immer gleich mit dabei. Passen Sie ein bisschen auf sie auf. Die erzählt und erzählt, verstehen Sie, aber ich will nichts Böses sagen...«

      »Moment mal! Haben Sie irgend etwas gesehen, was mir weiterhelfen könnte?«, platzte es aus Kuznov heraus.

      »Wie denn? Die ganzen Leute standen ja um den armen Gaspadin Ivanov herum. Ich konnte so gut wie gar nichts sehen, nur ein paar Blutflecken an der Wand, und auch die nicht richtig. Meine Kinder habe ich natürlich heute nicht zur Schule geschickt. Das sollten sie sich nicht ansehen, ich bin ja keine Rabenmutter, wissen Sie. Da war ein Getöse, da unten. Alle haben durcheinander geredet. Das hat ja einen Moment gedauert, bis Ihre Kollegen da waren und alle bis auf die Grinkova in ihre Wohnungen geschickt haben, und dann habe ich ja überhaupt nichts mehr gesehen. Ausgerechnet die Grinkova. Und oben wollten meine Kinder dann alles ganz genau von mir wissen und so, aber denen konnte ich ja auch nichts genaues sagen...«

      »Wann hat denn Ihr Mann heute das Haus verlassen?«

      »So gegen sechs Uhr dreißig, und der hatte vielleicht ein Laune, das kann ich Ihnen sagen...«

      »Spasiba, Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen, Gaspascha Georgijeva.« Über Kuznovs Ganglien hatten sich dicke graue Wolken zusammengezogen und ihm war schwindelig. Wackelig stand er auf.

      »Sie sehen aber gar nicht gut aus. Soll ich Ihnen eine Tasse Tee machen? Spezialmischung von meiner Schwiegermutter. Ist schnell gemacht, dauert nur ein paar Sekunden. Der Samowar ist zwar schon etwas älter, aber noch gut in Schuss, wissen Sie, ich sage immer...«

      »Nein nein, schon gut. Ich muss jetzt gehen.«

      »Mama, ist das der Komissar? Zeigen Sie uns Ihren Ausweis? Haben Sie eine Waffe...« Die beiden Älteren ihrer drei Kinder waren hervorgekommen, sie mochten vielleicht acht und zehn Jahre alt sein, und tanzten nun um Kuznov herum.

      Hatte er sich zuvor gewünscht, wieder in seinem Bett zu liegen, so wünschte er sich jetzt, er wäre tot. »Ich muss nun wirklich gehen. Do swidanja, auf Wiedersehen.« Lieber nicht, aber das sagte er nicht.

      Er wand sich aus der Wohnung, stolperte die Treppen hinunter, Georgijeva rief ihm noch hinterher »...das geht manchmal schneller, als Sie meinen. Wie kann man nur so etwas tun? Diese Monster...«, weigerte sich, noch irgendetwas von dieser Frau zur Kenntnis zu nehmen und stürzte aus dem Haus. Draußen verlangsamte er seine Schritte, zündete sich eine Papirossej an und zog den Rauch tief und gierig in sich hinein. Bosche moi, mein Gott, es gab schon verrückte Menschen auf dieser Welt. War er froh, dass sie ihm nicht noch vom letzten Weihnachtsfest bei Tante Nina in Baranowitschi erzählt hat, sofern sie es feiern, oder ausgeführt hat, warum sie es nicht feiern. Noch ein paar Minuten länger bei dieser Frau und er wäre irrer geworden, als sie und der Mörder zusammen. Na ja, immerhin wusste er jetzt den ungefähren Zeitpunkt der Tat, noch bevor die Gerichtsmedizin ihn ihm gesagt hatte. Ungefähr zwischen sechs Uhr dreißig und sieben Uhr dreißig morgens. Allerding musste er noch einmal wiederkommen, und zwar am Abend. Zu viele Türen waren verschlossen geblieben. Und vielleicht hatte der Mann dieses verbalen Wasserfalles jemanden gesehen, der verdächtig um das Haus geschlichen war, der es beobachtet hatte oder sich sonst irgendwie auffällig verhalten hatte.

      Nun stieg Juri Kuznov im Ministerium die Treppen vom dritten in den vierten Stock hinauf. Schon wieder Treppen. Nach dem Besuch des Tatorts hatte er den Arbeitsplatz des Ermordeten aufgesucht.

      Er hatte mit den Kollegen aus Ivanovs Amt gesprochen, aber wiederum nichts Neues erfahren. Einer Ahnung folgend, sah er sich eine Namensliste aller Mitarbeiterinnen an und entdeckte eine Natascha Petrovka, zu der er jetzt unterwegs war.

      Nach einem Klopfen an ihrer Tür und einem »Herrein!« betrat er ihr Büro.

      Sie schloss gerade die Lade eines Aktenschrankes, setzte sich hinter ihren Schreibtisch und sah ihn verwundert an. Sie kannte Kuznov nicht und in ihrer Abteilung gab es normalerweise keinen Publikumsverkehr. Er stellte sich vor und nahm auf ein Zeichen hin ihr gegenüber Platz.

      »Können Sie mir etwas über Tawarischtsch Ivanov erzählen, über seine Arbeit und Ihre Beziehung zu ihm?«

      Petrovka zog die Stirn kraus. »Sagten Sie nicht, Sie seien von der Kriminalpolizei? Warum interessieren Sie dann solch interne Angelegenheiten? Ich dachte, die Zeiten der Überprüfungen und Bespitzelungen durch den Geheimdienst wären vorbei. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass Sie mit ihm und seinen Kollegen bereits gesprochen haben, die Ihnen sicherlich besser Auskunft über seine Arbeit geben können, als ich. Und was immer man ihm vorwerfen sollte, ich bin überzeugt, es ist nicht wahr.«

      Kuznov, schon entnervt genug, wurde schnippisch. »Ich konnte nicht mehr mit ihm sprechen.« Er hatte wahrlich keine Lust, ihr den Sanften vorzuspielen und es ihr schonend beizubringen. Einfach war es ohnehin nie, also sagte er geradeheraus und sah dabei wie sie blass wurde: »Mit ihm kann niemand mehr sprechen, er ist tot.« Er musste sich zur Ruhe zwingen. Es gelang ihm, emotionslos fuhr er fort: