Frank Riemann

Das Lied des Steines


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      »Er ist tot?« Eine Träne lief ihr über die Wange. »Mord?« Petrovka lehnte sich zurück, verschränkte ihre Hände, weil sie zu zittern angefangen hatten, presste ihre Lippen zusammen, dass sie noch schmaler wurden, als sie es ohnehin schon waren, weil sie bebten, und schloss für einen Moment ihre feucht gewordenen Augen.

      Sie dachte an Pjotr und kurz über ihre eigene Situation nach. Sie war ihr ganzes Leben nur von den Männern ausgenutzt worden. Hinterher stand sie immer mit leeren Händen da. Aber dieses Mal war es anders gewesen, dieses Mal hatte sie die Initiative ergriffen. Sie war Ende Zwanzig und wollte endlich eine Familie haben. Als sie Pjotr dann soweit hatte, dass man ihn wieder als Menschen bezeichnen konnte, hatte sie gemerkt, wie sie sich ganz langsam in ihn verliebt hatte. Er war fürsorglich, ehrlich, zuverlässig und was sie gar nicht für möglich gehalten hatte, er hatte auch einen feinen Sinn für Humor. Ihr gemeinsames Wochenende war nicht nur der Lohn für ihre Mühen gewesen, sondern resultierte aus echter tiefer Zuneigung. Es war wunderbar gewesen und sie war erst am späten Sonntagnachmittag in ihre eigene Wohnung zurückgekehrt. Da hatte sie ihr Glück kaum fassen können.

      Und das sollte jetzt vorbei sein? So richtig hatte es doch noch gar nicht begonnen. »Wie...«, ihr versagte fast die Stimme, »wie ist es denn passiert?«

      »Soviel ich zur Zeit sagen kann, wurde er erschlagen.«

      »Erschlagen?« Es kam ihr alles so unwirklich vor. Gestern hatte sie noch den Himmel auf Erden, und heute kam da einfach jemand in ihr Büro spaziert, der ihren Traum zerplatzen ließ wie eine Seifenblase. Wie im Mittelalter, als sich der Überbringer schlechter Nachrichten seines Lebens nicht mehr sicher sein konnte, wurde Natascha Petrovka zunehmend wütend und ihr Zorn begann sich gegen den Kommissar zu wenden. Mit welchem Recht kam er hier herein und zerstörte ihr ihre Zukunft?

      »Also, was wollen Sie noch von mir?« Ihr Ton wurde schärfer. »Wie kann ich Ihnen denn jetzt noch weiterhelfen?«

      »Jede Einzelheit könnte für mich von Nutzen sein.«

      »Ich sehe keine Veranlassung und habe auch überhaupt kein Bedürfnis danach, unsere Beziehung vor Ihnen auszubreiten. Ich habe keine Ahnung, wer Pjotr getötet haben könnte.« Ihre Stimme war fast nur noch ein Wimmern. Trotzig steckte sie ihr dunkles Haar hinter die Ohren und wischte sich mit den Handballen über die Augen. »Ich kann Ihnen dabei nicht weiterhelfen und der Rest geht Sie nichts an.«

      Petrovkas ablehnende Haltung ging Kuznov etwas zu schnell. »Waren Sie vergangene Nacht bei ihm, oder hatten Sie einen speziellen Grund, heute Morgen nicht bei ihm zu sein? Vielleicht wollten Sie ja gerade heute Morgen nicht am Tatort gesehen werden.«

      »Wie bitte?«

      »Hatten Sie Streit in letzter Zeit? War etwas vorgefallen? War vielleicht von Trennung die Rede?« Der Kapitan war jetzt ganz offensiv. »Waren Sie aus irgendeinem Grund wütend auf ihn?«

      »Was soll das?« Petrovka konnte es nicht fassen. "Sie platzen hier rein und verdächtigen mich, nein, beschuldigen mich, etwas mit Pjotrs Tod zu tun zu haben. Sind Sie noch bei Trost, Tawarischtsch? Das ist doch absurd. Ich habe ihn...«, sie senkte den Kopf und ihre Stimme, zuvor noch laut und aufgebracht, wurde wieder ruhiger, »Auch wenn Sie es nicht verstehen oder mir nicht glauben, ich habe ihn geliebt. Aber wie ich schon sagte, das geht Sie nichts an.«

      »Ich kann Sie auf die Station kommen lassen oder sogar vor Gericht, wenn Sie jetzt nicht reden wollen. Aber ich finde, Sie sollten besser den Mund aufmachen. Ich glaube, Sie stecken ganz schön in der Klemme. Ziehen Sie lieber juristischen Beistand hinzu und in Ihrem eigenen Interesse, verreisen Sie in nächster Zeit nicht.« Er stand auf.

      Petrovka sprang aus ihrem Stuhl hoch. »Das ist ja wohl die Höhe. Mit welchem Recht machen Sie mir diese Vorschriften? Ich habe nichts verbrochen.«

      »Mit dem Recht des Polizeikapitans. Ob Sie etwas verbrochen haben oder nicht, werden wir noch klären. Im Moment sind Sie meine einzige Spur.«

      »Was für eine Spur?«, keifte sie ihn an. »Ich bin verdächtig, weil ich ihn kannte? Dann ist hier im Ministerium und in seinem Haus jeder verdächtig. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Sie müssen der Stolz Ihrer Abteilung sein. Sie picken sich jemanden raus, Fall abgeschlossen. Sie haben bestimmt eine hohe Aufklärungsrate.«

      Kuznov merkte, er war auf der Verliererstraße, aber außer ihr hatte er wirklich noch keine andere Spur, und das frustrierte ihn. »Sagen Sie mir nicht, wie ich meine Ermittlungen zu führen habe.«

      »Es hat sich wirklich nichts geändert.«

      »Seien Sie bloß vorsichtig.« Und beim Hinausgehen brummte er noch: »Ich bin sicher, wir sehen uns wieder.«

      Er war bereits draußen, als bei Natascha Petrovka die Dämme brachen. Sie fiel in den Stuhl und in sich selbst zusammen und ließ ihrer Trauer freien Lauf.

      Kuznov war verwirrt und wühlte in seinem buschigen braunen Oberlippenbart. Sie hatte natürlich Recht gehabt. Petrovka zu verdächtigen, war tatsächlich an den Haaren herbeigezogen, aber ansonsten stand er mit leeren Händen da. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Vielleicht sollte er einfach warten, bis der Täter noch einmal zuschlug, oder bis er einen Fehler machte. Aber was, wenn dies nur eine einmalige Sache war und er niemals wieder in Erscheinung treten würde? Vielleicht hatte die Spurensicherung ja schon etwas herausgefunden.

      Obwohl er kaum verwertbare Hinweise hatte, hatte Kuznov jetzt schon das Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben. Ein Indiz, etwas, das gesagt worden war, Hinweise am Tatort... irgendetwas war ihm entgangen.

      Sioux City / Iowa, Montag 26. April, 08:30 Uhr

      Greg wich einem liegengebliebenen Fahrzeug aus. Er holte zum nächsten Wagen auf, machte einen kleinen Schlenker nach links und zog langsam aber sicher an seinem Kontrahenten vorbei. Vielleicht hatte er die windschnittigere Form, oder seine Radlager waren besser geölt. Jetzt hatte er Jonathan Peters hinter sich gelassen und es war nur noch ein Fahrzeug vor ihm. Greg hatte Zweifel, ob er ihn würde einholen können, hatte Andrew Summers doch einen verdammt schnellen Wagen. Greg holte auf. Würde er es nicht schaffen, hätte er das Rennen eindeutig im Gedränge am Start verloren. Allmählich kam er näher, aber Andrew der Ziellinie ebenfalls.

      Sein Vater hatte ihm die Seifenkiste gebaut und Greg hatte ihm geholfen.

      Vincent Bascomp hatte einen Laden, der Bibliothek und Buchladen in einem war. Seine Auswahl der zu erstehenden Bücher war ansehnlich, aber man konnte auch einfach nur stöbern, das Ein oder Andere nachlesen oder die Werke gegen Gebühr ausleihen. Von einigen Wälzern wollte sich sein Vater auch einfach nicht trennen. Gregs Mutter war schon früh verstorben, er hatte kaum eine Erinnerung an sie. Nur alte Bilder und die Geschichten seines Vaters.

      Schon früh in der Schule, als Greg lernte zu lesen, war er fasziniert von Büchern und Geschichten. So begann er sehr jung, einem winzigen Lehrling gleich, im Laden seines Vaters zu arbeiten, was für ihn nicht nur Pflicht und Mühsal war, sondern das reinste Vergnügen. Er katalogisierte und ordnete neu angekommene Lieferungen ein, räumte von Kunden durcheinander gebrachte Regale auf und fand sich alsbald besser zurecht, als sein alter Herr, der Bücher ausgab, entgegennahm und sich um die Kasse kümmerte.

      Eines Tages sah Greg in einem Buch mit dem Titel `The History of Automobiles` eine alte schwarz-weiß Aufnahme, unter der zu lesen stand `The legendary Silver-Arrow`. Dem Text zufolge soll dieser Wagen zu seiner Zeit das beste, schnellste und, auf Grund der Farbe und Form, schönste Auto der Welt gewesen sein. Greg fand ihn einfach Klasse. Seine Seifenkiste, mit der er beim nächsten Rennen antreten wollte, sollte nach diesem Vorbild geschaffen sein. Sein Flitzer vom letzten Jahr war zwar nicht schlecht gewesen, aber einen der vorderen Plätze hatte er damit nicht belegt. Die anderen Jungs aus seiner Straße hatten ihn damit aufgezogen, dass sein Vater soviel Zeit in eine Verliererkiste gesteckt hatte.

      Dieses Mal bastelten sie zusammen und brauchten noch länger. Das Gestell war aus schwerem Holz, in der Fahrerkabine verstärkt um Greg zu tragen und um für zusätzlichen Ballast zu sorgen, und mit Spanplatten umrahmt. Anstelle von Zugseilen hatte der Wagen