Frank Riemann

Das Lied des Steines


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weil er nicht wieder geschlagen werden wollte. Aufreizend langsam stolzierte seine Mutter nach oben, einen Mann an der Hand, den er hier schon einmal gesehen hatte.

      »Ja Dummkopf, mach Platz!«, äffte dieser seine Mutter nach und beide lachten, bis eine Tür hinter ihnen zufiel.

      Immer wenn er seine Mutter fragte, was sie denn dort drinnen mit den Männern mache, bekam er eine Ohrfeige. Deshalb hatte er nach einiger Zeit gelernt, nicht mehr zu fragen, und sie sagte: »Ich sorge dafür, dass du nicht verhungerst, du Dummkopf.«

      Aber wie sollte das funktionieren? Die Herren in ihren steifen Anzügen, die zu Besuch kamen, hatten keine Säcke voller Kartoffeln dabei, keine Körbe voll mit Äpfeln oder Taschen voller Brot. Und das musste man ja schließlich irgendwie bezahlen. Gaben diese Männer seiner Mutter etwa Geld? Aber wofür?

      Wieder einmal schlich er vor die Tür zum Zimmer seiner Mutter und legte das Ohr an das Holz. Von drinnen vernahm er Stimmen, wie bei den vergangenen Gelegenheiten auch, konnte aber nicht verstehen, was gesagt wurde. Er schaute sich ängstlich um, dass ihn auch niemand erwischte, was unweigerlich eine gehörige Tracht Prügel nach sich gezogen hätte und drückte sich noch enger an das Türblatt. Dummkopf hörte etwas quietschen und ein regelmäßiges heftiges Stöhnen, wie von einem Verletzten, der große Schmerzen haben musste. Einmal hatte er es gewagt an einer Tür einer der anderen Frauen zu horchen und hatte Ähnliches wahrgenommen. Kamen die Männer nach einer Weile heraus, wirkten sie erleichtert und lächelten, wie von einer großen Last befreit. Waren seine Mutter und die Anderen vielleicht so etwas wie Ärzte? Erlösten sie ihre Besucher von Kummer und Pein durch Techniken, die dem Doktor am Ende der Straße unbekannt waren? Denn, wenn sie solche Schmerzen hatten, warum gingen diese Männer dann nicht zu ihm?

      »Dummkopf!«, brüllte jemand von unten, und er erkannte die Stimme sofort, verhieß sie doch zumeist nichts Gutes. Die Treppe! Er hatte zu lange gelauscht. Er sollte sich sofort nach Beendigung seiner Arbeit wieder bei Karl melden. So war die Zeit verstrichen, ohne dass er die Treppe fertig gewischt hatte.

      »Dummkopf! Wo steckst du, du Nichtsnutz?« Karl war der einzige Mann, der hier im Haus lebte. Als Dummkopf seine Mutter einmal fragte, ob er sein Vater wäre, antwortete sie, das wisse sie nicht. Er solle sich einfach merken, dass sein Vater fortgegangen sei. Trotzdem unternahm sie Nichts, wenn er ihn schlug. Ja, sie lachte sogar noch dabei und sagte, das hätte er aber auch verdient. Hatte er das wirklich? War vielleicht wirklich alles seine eigene Schuld?

      »Wo versteckt sich der Bengel? Dummkopf!«, schrie Karl wieder.

      Der Gesuchte schreckte von der Tür zurück und hastete zur Treppe. Er sprang die Stufen hinunter und wollte seine Arbeit wieder aufnehmen. Vielleicht würde es ihm diesmal gelingen, Karls Annahmen Lügen zu strafen, und er würde einsehen, dass er zu Unrecht nach ihm rief.

      Er wollte sich auf den Lappen stürzen, auf die Knie gehen, um mit kräftigen Putzbewegungen zu beginnen, als er bei einer Drehung den Wascheimer mit dem Bein umstieß, genau in dem Moment, als Karl um das untere Ende der Treppe bog.

      »Antworte gefälligst, wenn ich dich rufe, blöder Kerl. Was ist das hier? Aua, verdammte Scheiße!«

      Der Eimer war die Treppe heruntergepoltert und ihm vor das Knie gesprungen und sein Inhalt ergoss sich wie ein Wasserfall über Stufen und seine Hosen und Schuhe.

      »Verfluchte Schweinerei! Sieh dir an, was du getan hast. Nichts kannst du richtig machen.« Er stapfte durch die Pfütze zu ihm herauf und holte mit der Hand weit aus, um ihn zu schlagen, aber Dummkopf rollte sich zusammen, und so trat Karl nach ihm.

      Durch den Lärm angelockt standen oben an der Treppe einige der Damen, sowie seine Mutter mit ihrem Besucher, und alle lachten.

      »Seht Euch den Trottel an. Der ist aber auch blöd.«

      »Ich dachte immer, der wäre zu doof, um einen Eimer Wasser umzukippen.«

      Weitere Beleidigungen gingen im Gelächter unter, welches in Henrys Ohren mit seinem eigenen Geschrei verschmolz.

      Zurück in der Gegenwart dachte der Inspector an seine Kollegen, seinen Vorgesetzten, seinen Fall, seine Frau und an sein ganzes Leben und fragte sich zum wiederholten Male: »Warum immer ich?«

      Henry raffte die Unterlagen zusammen, fand die Telefonnummer des Professors aus Indiana auf der Rückseite seiner Zeichnung, schloss die Mappe und legte sie in die oberste Schublade ganz nach oben. Vielleicht würde er sich später noch mit Amerika verbinden lassen. Wer hätte jemals gedacht, dass er einmal wegen eines Falles einen Spezialisten aus den Staaten konsultieren würde.

      »O`Mailey! Sofort in mein Büro!«, brüllte eine Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Der Inspector erhob sich schwerfällig mit einem Seufzen und machte sich auf den Weg zu seinem Superintendent, Edward McGuiggan.

      Henry schloss die Tür und wandte sich seinem Vorgesetzten zu, der, wie eine Spinne im Netz, hinter seinem Schreibtisch saß und ihn über dicke Brillenränder ansah, als wäre er eine fette schmackhafte Fliege. »Setzen Sie sich, Henry.« Seine Stimme, zuvor noch donnernd und befehlend, war jetzt vollkommen ruhig. Das, und der Umstand, dass er ihn mit seinem Vornamen ansprach, ließ ihn vermuten, dass es ein ernstes Gespräch werden würde. »Wie geht es Ihnen, Henry? Ist alles in Ordnung? Ich mache mir Sorgen um Sie.«

      Der Inspector runzelte die Brauen. Er hatte einen ganz anderen Beginn erwartet. Dies hier war ihm unheimlich. »Ist schon OK. Na ja, ich meine, es ist soweit alles in Ordnung«, log er.

      »Was macht Ihr Fall? Wie weit sind Sie?«

      »Hören Sie Superintendent«, Henry hob zur Abwehr seine Hände, »ich weiß, was Sie sagen wollen, aber ich arbeite erst seit ein paar Stunden an dieser Sache und Sie wissen, das ist nicht unbedingt die Art Fall, mit denen ich mich normalerweise beschäftige.«

      McGuiggan nickte stumm und legte den Kopf auf die Hände, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt. Einen Augenblick lang schwiegen beide und der Superintendent musterte seinen Inspector. Dann räusperte er sich und sprach in ruhigem Ton weiter: »Ich sage Ihnen was, Henry. Ich werde Ihnen meine Lage, unsere Lage, erklären. Der Staatsanwalt möchte Jemanden haben, den er vor Gericht stellen kann.« Er begann einzeln seine Finger zu heben, um die Anzahl seiner Argumente zu verdeutlichen und fuhr fort. »Der Bürgermeister möchte das auch. Die Wahlen sind zwar erst im nächsten Jahr, aber bei seinem angeschlagenen Ruf käme ihm ein Erfolg gerade Recht, um den Bürgern zu zeigen, dass seine Stadtverwaltung, zu der die Polizei auch gehört, gut arbeitet. Die Presse hat von unserem Großaufgebot heute morgen am Tatort Wind bekommen, und fängt an, Fragen zu stellen. Ich möchte nicht, dass die sich eine Horrorstory aus den Fingern saugen und Alles noch schlimmer machen, als es ohnehin bereits ist. Und außerdem habe ich wieder Sodbrennen.« Er hob die andere Hand. »Bernstein und Green arbeiten an dem Raubüberfall. Beechman und Sallis arbeiten an dem Grayson-Mord. Wyngarde und Flumm suchen diesen vermissten Erben. Wie heißt er noch? Billings. Maddicks ermittelt gegen den Kerl, der die Prostituierten absticht und Barton und Jones sind raus. Der eine ist noch krank und der andere hat Urlaub. Zur Zeit kommt Alles ein bisschen Dicke, Henry. Sie wissen doch, wie es läuft. Der nächste Fall, der nächste freie Mann. Sie sagen, der Fall wäre ungewöhnlich für Sie. Das mag stimmen. Aber Sie brauchen keinen Überraschungszeugen aus dem Hut zu ziehen, nicht den Hauptverdächtigen in einem Wahnsinns-Show-Down zu erledigen oder mit einem kniffligen Trick zu überführen. Das sind Fernsehmärchen. Unsere Arbeit besteht darin, Fragen zu stellen, Fakten zu sammeln, das Unmögliche auszuschließen und auf die offensichtliche Lösung zu kommen. Leisten Sie gute Arbeit, Henry. Oder wollen Sie, dass ich Sie von diesem Fall abziehe? Das könnte ich tun. Es wäre zwar nicht so einfach, wie Sie vielleicht denken, aber es wäre machbar. Sie müssten sich dann in den Raubüberfall oder die Prostituiertenmorde einarbeiten und die Kollegen in Ihren Fall. Das ist immer problematisch, aber möglich. Wollen Sie das?«

      O`Mailey wollte schon reflexartig verärgert `Nein` antworten, stockte aber und überlegte es sich noch einmal. Natürlich, dieser Fall war der absolute Hammer. Warum nicht? Er gab die Sache ab, und hatte ein Problem weniger. Das wäre das Einfachste. Wenn sich erst die Presse auf die Angelegenheit stürzte, bekäme er noch mehr Druck. Allerdings sind die anderen Fälle auch nicht viel harmloser.