E.R. Greulich

Amerikanische Odyssee


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zur Stammmannschaft gehörten?"

      "Ich versuche zu sagen, wie es ist." Hesse glaubt einen Augenblick eine Unmutsfalte auf der Stirn Lawsons wahrzunehmen, doch kann es auch ein Irrtum sein, weil der Captain freundlich fragt:

      "Wie würden Sie einem Amerikaner erklären, dass Sie - hm - gewissermaßen eine Ausnahme unter den Stammleuten sind, eigentlich kein richtiger Hitlersoldat?"

      Die Menschen denken in Kategorien, überlegt Hesse, und da muss denen hier mein Verhalten schwer begreiflich sein. "Ich glaube, es liegt an meiner Erziehung."

      "Sind nicht alle Menschen in Ihrem Alter von der Hitlerjugend erzogen?"

      "Einige blieben dagegen gefeit, es kam auf die Eltern an. Mein Vater hat nie seine humanistischen Ideale über Bord geworfen. Gekämpft gegen Hitler hat er nicht. Wir haben uns geduckt und nur mitgemacht, wenn es nicht anders ging, im Übrigen unser Familienleben gelebt. Wenn Sie wollen, eine Art innere Emigration."

      "So etwas gibt es in Hitlerdeutschland?"

      "Ich möchte glauben, darüber ist auch in Ihren Publikationen zu lesen."

      Zum ersten Mal lächelt der Captain ein wenig ironisch. "Aber es dämpft die Kampfbegeisterung unserer Soldaten."

      Er hat recht, denkt Hesse, von seinem Standpunkt aus hat er recht. Dennoch ist es schade, dass er es sagt und wie er es sagt. Aber er ist als Offizier verantwortlich für das Leben seiner Soldaten. Übergangslos sagt Hesse: "Wenigstens versucht die Army, mit ihren Flugblättern das Gewissen jener Deutschen zu erreichen, die vom Nazismus noch nicht völlig umnebelt sind."

      Wieder ist da Lawsons kleines ironisches Lächeln, als er erwidert: "Allerdings mit geringem Erfolg."

      "Unserem Kompanieführer waren es noch viel zu viele, die sich aus dem Staube machten."

      Der Captain schaut Hesse nicht an, als er mit bitterem Unterton murmelt: "Außer Ihnen ist zu uns noch keiner gekommen."

      Die Verwundung des Sergeanten geht ihm sehr zu Herzen, denkt Hesse. Endlich scheint der rechte Augenblick da zu sein, und er fragt: "Sollte man nicht ein Protokoll machen, Sir? Gefangenenerschießung verstößt nicht nur gegen die Genfer Konvention, sondern gegen alle menschlichen Regeln überhaupt."

      Der Captain nickt, ein wenig zu schnell. "Selbstverständlich - beim Regiment. Morgen fahre ich nach hinten und nehme Sie mit."

      Hesse schwebt die Entgegnung auf der Zunge, ob nicht wenigstens ein Kurzprotokoll ... ," da gießt Lawson den Rest des Kaffees in Hesses Trinkbecher und ermuntert: "Trinken Sie - inzwischen werde ich für Sie ein Zelt anweisen."

      Im Zelt liegen saubere Wolldecken auf dem Feldbett und drei "Rations", jene Schachteln in Paraffinverpackung, die selbst lange im Wasser liegen können, ohne zu verderben. Ihr verschiedener Inhalt ist als Morgen-, Mittag- und Abendmahlzeit eingerichtet. Ein Soldat mag monatelang von nichts anderem leben, er wird dennoch keine Mangelkrankheiten bekommen. Welch ein Unterschied zum Kommissfraß der Wehrmacht. Wie viel Gauner haben sich erst ihren Teil genommen, ehe Margarine, Käse oder Wurst in die Hände des Landsers gelangt sind. Betrug mit den "Rations" ist unmöglich, jeder GI würde eine angebrochene Schachtel entrüstet zurückweisen.

      Schlafen kann Hesse noch nicht. Ständig stehlen sich GIs in sein Zelt, um ihm etwas zuzustecken und sich mit ihm zu unterhalten. Sie sprechen wie mit ihresgleichen, sind erstaunlich sorglos und alle fest davon überzeugt, dass sie kurz vor dem Sieg in Afrika stehen. Am stärksten beeindruckt Hesse der legere Ton der GIs gegenüber den Offizieren. Seine Sympathie für Amerika wird zur Bewunderung.

      Am nächsten Nachmittag bremst ein Jeep vor dem Zelt Captain Lawsons. Hesse steigt ein. Die Soldiers stehen herum. Späße und Segenswünsche fallen wie Sonnenregen auf ihn nieder. Lawson kommt, der Jeep jagt davon. Die Zurückbleibenden winken, bis Hesse ihren Blicken entschwunden ist.

      Der Jeep hopst über das Gelände. Der Fahrer lacht, seine Zähne blitzen in der Sonne. Ein Gespräch ist schwierig. Hesse fragt den Captain, ob es möglich sei, Sergeant Hampstead im Lazarett zu besuchen. Lawson nickt. Endlich kommen sie auf einen Weg, von dort auf eine richtige Chaussee, und nun jagt der Fahrer den Jeep bis an die Grenze seiner Tourenzahl. Hesse hält sich fest, dass ihm die Hände schmerzen.

      Am späten Nachmittag stoppen sie vor dem Hospital, eine kleine Zeltstadt für sich. Der Captain erfragt Zelt- und Bettnummer Hampsteads. Eine Frau in Schwesterntracht tritt ihnen entgegen, in den Händen einen Umschlag mit Papieren. Sie spricht leise. Der Sergeant sei kurz nach der Ankunft operiert worden, die Krise nach der Bluttransfusion habe er nicht überstanden. Sie habe ihm die Augen zugedrückt.

      Wie abwesend steckt Lawson die Papiere Hampsteads ein. Captain und PW stehen mit eng gewordenen Kehlen vor dem Toten unter dem weißen Laken. Lawson nimmt das Schiffchen vom Kopf, seine Lippen bewegen sich, er scheint zu beten. Unwillkürlich blickt auch Hesse zu Boden und faltet die Hände. Er sieht nicht den ersten Toten in diesem Krieg. Der Tod dieses Mannes unter der Leinendecke ist der Gipfel des Sinnlosen. Wenn im Bataillonsstab der absurde Befehl nicht gegeben worden wäre … Wenn Hampstead am Scherenfernrohr nicht allein gewesen wäre … Wenn den Stoßtrupp nicht der beförderungssüchtige Unteroffizier Malleck angeführt hätte ...

      Alle Wenn und Aber machen den unter dem Laken nicht lebendig.

      Lawson bekreuzigt sich, wendet sich vom Bett und erklärt der Schwester flüsternd, er werde veranlassen, dass der Sergeant mit allen militärischen Ehren beigesetzt werde. Schweigend klettern sie wieder in den Jeep. Hesse beneidet Lawson nicht. Der muss nun einen Brief schreiben. Wie wird er ihn abfassen? Sachlich-amtlich oder menschlich? Schrecken und Schmerz der Familie kann er nicht aufheben, und schriebe er mit biblischer Sprachgewalt. Gehen dem Captain ähnliche Gedanken durch den Kopf? Er zieht die Papiere Hampsteads heraus und blättert darin. Hesse schaut ihm über die Schulter und sieht, der Sergeant ist verheiratet gewesen. Wie wird es die Frau tragen? Hesse versucht sie sich vorzustellen, während er die Heimatanschrift Hampsteads liest. Sinnend schlägt Lawson die Seiten um, Hesse kann nicht mehr sehen, ob Hampstead Kinder hat.

      Bald darauf steigen sie vor dem Regimentsstab aus. Er ist in einer weißen Villa untergebracht, die mitten in einem gepflegten Park liegt. Wahrscheinlich der Herrensitz eines reichen Pflanzers. Hesse muss beim Wachhabenden in einer Art Pförtnerzimmer des Souterrains warten.

      Hesse muss lange warten. Wer und was ist dieser Sergeant gewesen? Trifft sein Tod eine arme oder eine reiche Familie? Würde er Boston kennen, die Gegend, in der die Hampsteads wohnen, ließe sich ungefähr ihre soziale Stellung herleiten. Einen Augenblick ist Verwunderung in Hesse, dass ihn das Schicksal des toten Sergeanten stärker berührt als das einiger gefallener Kameraden. Ist es, weil ich hier nichts anderes tun kann als grübeln? Sie sind den sogenannten Soldatentod gestorben. Hampstead ist als Gefangener niedergeschossen worden. Ich habe es nicht verhindern können, ich habe ihn zu retten versucht. Weshalb quält es mich trotzdem? Könnte ich nach Boston, ich würde es seiner Frau sagen. Würde es ihr helfen?

      Am späten Abend kommt ein GI mit der Armbinde der Military-Police und winkt, Hesse solle ihm folgen. Wieder fahren sie über glatten Asphalt nach Westen. Zur Vernehmung, glaubt Hesse und findet, Lawson hätte wenigstens noch einmal hereinschauen können. Fröstelnd drückt sich Hesse in die Ecke des Jeeps. Die Hitze ist umgeschlagen in Kühle. Die Luft scheint dünn und klarsichtig. Gelb hängt der Mond über dem Horizont, groß wie in der Heimat. Die Silhouette einer größeren Stadt wird immer deutlicher. Ist es Constantine? Dann wären sie schon in Algerien. Die Stadt liegt auf einem Hügel und wächst höher und höher aus der Ebene. Filigran der Türme und Minarette. Unverhofft dort oben der Aquädukt wie ein zu kühn erdachter Scherenschnitt. Es ist so märchenhaft, denkt Hesse, dass ich begeistert wäre, wüsste ich, wohin es geht. Er fragt den Posten. Der sitzt, das Gewehr zwischen den Knien, und zeigt deutlich, dass er nicht wünscht, angesprochen zu werden. "I don't know", ich weiß nicht, brummt er.

      Es ist schon Nacht, da wird Hesse in einer Baracke abgeliefert.

      Der wachhabende Master-Sergeant ist um keinen Deut zugänglicher als der Posten im Jeep. Telefonisch beordert er einen GI herbei. Der setzt sich mürrisch an die Schreibmaschine und spannt den vorgedruckten Personalbogen für alle