Walter Wosp

ASIA B-C


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Taschen voller Kleingeld hat, und Ingrid, etwas größer, Typ harte Schale, weicher Kern, wilde braune Mähne, sportliche Figur und mit einer Bluse, die beträchtlicher Oberflächenspannung ausgesetzt ist, kommen ein paar Minuten später. Ich rolle zum Anfang des Barrens. Astrid hebt die beiden Holzstangen etwas hoch und fixiert sie neu, damit sie in einer für mich passenden Höhe sind. Ich arretiere den Rollstuhl, klappe die Fußstützen meines Rollstuhls weg, mittlerweile kann ich es selbst, greife nach den beiden Stangen und atme tief durch.

      »Nur Mut, ich halte den Rollstuhl, es kann nichts passieren, wenn Sie sich wieder niedersetzen müssen.«

      Ich drücke mich mit den Armen hoch, will mich mit den Beinen abstützen und falle sofort wieder zurück in den Rollstuhl.

      »Warten Sie, ich helfe Ihnen, ja«, sagt Ingrid.

      »Es geht schon.«

      Ich versuche es mit Schwung, versuche die Arme auszustrecken, bevor ich zum Stehen komme, kippe ich aber wieder nach hinten und falle in den Rollstuhl.

      »Machen wir es gemeinsam«, sagt Ingrid.

      »Ich kann es schon«, stoße ich schnaufend hervor.

      Im Spiegel sehe ich, dass sie den Kopf schüttelt und mit Astrid einen Blick wechselt. Ich rutsche im Rollstuhl so weit wie möglich nach vorne, ziehe das linke, das bessere Bein, mit der Hand etwas nach hinten, so, dass Wade und Oberschenkel fast einen rechten Winkel bilden, nehme die beiden Stangen, konzentriere mich und drücke mich mit aller Kraft, die ich habe, nach oben. Ich stehe. Vorsichtig lasse ich die rechte Hand los, dann die linke. Es funktioniert genauso wie im Stehpult, ich muss nur die Hände etwas zur Seite strecken, um die Balance zu halten, im Großen und Ganzen stehe ich aber sicher.

      Ingrid stellt sich rechts neben mich, sagt mir, dass es gut ausschaut, ich soll einen Schritt probieren.

      »Mach ich«, sage ich und bleibe wie einbetoniert stehen.

      »Sie müssen die Hände zu Hilfe nehmen, ja, stützen Sie sich auf dem Barren ab.«

      Ich greife nach unten, stütze mich ab und will den linken Fuß nach vorne stellen. Er bewegt sich keinen Zentimeter.

      »Sie fallen nicht um«, sagt Ingrid.

      »Ich weiß, aber mein Bein weiß es nicht.«

      Ingrid kniet sich neben mich und nimmt meinen linken Fuß.

      »Ich helfe Ihnen, ja, stützen Sie sich mit den Händen ab. Ja, und los geht es.«

      Ich sehe nach unten, sehe, wie sie meinen Fuß hebt, und mache die Bewegung mit. Mein linker Fuß bewegt sich ungefähr zehn Zentimeter nach vorne. Ich mache den ersten Schritt seit meinem Unfall. Astrid kniet auf meiner rechten Seite. Sie nimmt den rechten Fuß, ich versuche ihn mit ihrer Hilfe zu bewegen, kann aber das Knie nicht abwinkeln oder das Bein aus der Hüfte heben. Astrid schleift den rechten Fuß über den Boden, Ingrid hebt den linken Fuß, Astrid schleift. Ich schnaufe wie eine Dampflokomotive und muss mich niedersetzen, weil ich keine Kraft mehr habe.

      Diesmal sage ich es nicht laut, aber tief im Inneren weiß ich: New York ich komme! Ich raste eine Minute oder zwei, dann ziehe ich mich wieder hoch. Diesmal funktioniert es problemlos, ich stehe wieder.

      »Den linken Schritt will ich selbst probieren, helfen Sie mir bitte nicht.«

      Ich stütze mich am Barren ab, entlaste so weit wie möglich meine Beine, atme tief ein und tatsächlich: Der linke Fuß bewegt sich eine halbe Schuhlänge nach vorne.

      »Es geht!« schreie ich, »es geht!«

      »Super«, sagt Astrid, »gratuliere, beim Rechten helfe ich Ihnen wieder.«

      Sie hebt den rechten Fuß hoch und setzt ihn etwas vor dem linken ab. Ich mache mit dem linken den nächsten Schritt, wieder zehn Zentimeter. Bevor Astrid den rechten danebenstellen kann, beginnt dieser unkontrolliert zu zucken. Ich verkrampfe mich mit den Händen an den Barrenstangen.

      »Schnell, den Rollstuhl, ich falle!« schreie ich in Panik.

      »Er steht hinter Ihnen, ja«, sagt Ingrid, »setzen Sie sich nieder.«

      Ich schaue zur Seite, sehe den Rollstuhl im Spiegel hinter mir stehen und lasse mich nach hinten fallen.

      »Was war das?«

      »Die Anstrengung und Ihre Verletzung.«

      »Bleibt das?«

      »Das kann man jetzt noch nicht sagen, ja, bei einem Patienten bleibt es, bei einem anderen nicht. Haben Sie vor dem Unfall Sport betrieben?«

      »Sicher, alles Mögliche. Laufen, Rad fahren, schwimmen. Alles, was irgendwie mit Ausdauer zu tun hatte.«

      »Dann haben Sie die besten Voraussetzungen, wird schon werden, ja. Nur Geduld.«

      »Ich will es noch einmal probieren«, sage ich und blicke sie fragend an.

      »Klar, ich bleibe mit dem Rollstuhl wieder direkt hinter Ihnen.«

      Ich ziehe mich hoch, stehe einen Moment und beginne am ganzen Körper unkontrolliert spastisch zu zittern. Im blinden Vertrauen, dass der Rollstuhl wirklich hinter mir steht, lasse ich mich nach hinten fallen.

      »Ich glaube, für heute haben Sie genug, ja«, sagt Ingrid, »erholen Sie sich, wir machen morgen weiter.«

      Julia erzählt mir von den Dreharbeiten, es ist alles gut gegangen. Ihre Organisation hat perfekt funktioniert, alles war vorbereitet, jeder Interviewpartner war rechtzeitig zur Stelle, alle Requisiten, die sie organisiert hat, waren zur Stelle.

      »Na bitte, ich habe dir ja gleich gesagt, dass du das schaffst«, sage ich.

      »Der Kameramann war genial, hat auch gleich die Regie mitgemacht. Ohne ihn wäre es nicht gegangen, zahl ihm eine Prämie.«

      »Mach ich glatt.«

      Sie sagt, dass das ganze gedrehte Material auf dem Laptop ist, weil sie gedacht hat, dass ich das sicher selbst schneiden will.

      »Klar«, sage ich, »mir ist eh schon ein bissel fad und die Therapeuten und Ärzte sagen, ich soll so schnell wie möglich wieder mit irgendeiner sinnvollen Tätigkeit anfangen.«

      Dann kann ich mich nicht mehr zurückhalten und platze heraus.

      »Ich bin heute gegangen.«

      Ich erzähle ihr von meinem Erlebnis in der Gangschule, sage, dass ich insgesamt sieben Schritte gegangen bin, verschweige ihr aber, dass ich vor Anstrengung gezuckt und gezittert habe und dass das eventuell für immer so bleibt. Julia küsst mich.

      »Morgen gehst du zehn und übermorgen zwanzig, du wirst sehen. Der Weg ist das Ziel.«

      »New York ist das Ziel«, bessere ich sie aus, »und das schaffe ich.«

      »Sicher«, sagt sie und küsst mich noch einmal.

      Ich setze die Kopfhörer auf und sehe mir die ersten Videos an. Sie sehen super aus. Ich starte das Textprogramm mit dem Drehbuch und das Schnittprogramm. Ich arbeite mit dem kleinsten Videoschnittstudio der Welt: ein Hochleistungslaptop, ein Kopfhörer, eine Tischplatte auf Rollen und ein Bett. Das Arbeiten macht Spaß, es ist, abgesehen von den Therapien, die erste sinnvolle Tätigkeit seit dem Unfall. Nach ungefähr einer Stunde muss ich aufhören. Obwohl ich liege und eigentlich nur die Finger bewege, wird die Arbeit zu anstrengend, ich kann mich nicht mehr konzentrieren.

      Wieder stehe ich im Barren und halte mich mit beiden Händen an den Stangen an. Ich bin fest entschlossen, heute ein paar Schritte alleine zu gehen. Ingrid steht mit dem Rollstuhl hinter mir. Ich versuche den linken Fuß zu heben, hebe ihn tatsächlich ein bisschen und bewege ihn nach vorne. Ich warte darauf, dass ich zittere, stehe aber still.

      »Sehr gut. Und jetzt den rechten.«

      Ich versuche den rechten Fuß zu bewegen, er bewegt sich keinen Zentimeter. Ich versuche meinen Körper mit den Händen zu heben, die Beine zu entlasten, drücke die Ellbogen durch und mache einen zweiten Versuch. Vergeblich, der Fuß bleibt wie