Walter Wosp

ASIA B-C


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Schmerzen spüre.

      »Sehen Sie sich meine Hand an«, rufe ich erschreckt. »Wo bekomme ich Handschuhe?«

      »Ein echter Rollstuhlfahrer fährt ohne Handschuhe«, bekomme ich als Antwort.

      »Ich will aber weder ein echter noch ein falscher Rollstuhlfahrer sein, ich will gar keiner sein, ich will gehen«, stöhne ich und spüre plötzlich die Schmerzen in den Händen.

      »Du hast doch eine Kopie vom Aufnahmebefund bekommen?« sage ich und halte den Telefonhörer vorsichtig mit Daumen und Fingerspitzen.

      »Ja?«

      »Schau bitte im Internet nach, was das diese ganzen Ausdrücke bedeuten, bitte.«

      »Warum?«

      »Heute hat mich wer gefragt, was ich für eine Verletzung habe und ich habe ihm sagen müssen, dass ich keine Ahnung habe. Das war schon ein bisschen peinlich.«

      »Ein bisschen? Ok, ich schaue, was ich finde.«

      Zwei Stunden später ruft Julia zurück.

      »Sorry, das hat etwas gedauert, im Internet war es etwas kompliziert. Ich habe dann einen Arzt angerufen.«

      »Bist ein Schatz. Und, was habe ich?«

      »Also, ›Cont.med.spin.reg.cervicalis‹ heißt, dass du eine Prellung des Rückenmarks im Halsbereich hast.«

      »Sag mit was Neues«, sage ich und stöhne, weil mir der Telefonhörer auf den Handballen gerutscht ist.

      »Was ist?«, höre ich Julia.

      »Nichts, geht schon wieder. Und das Nächste?«

      »›Stenosis columnae vertebr.cervic.op.‹ heißt, dass deine Halswirbelsäule verengt war und du operiert wurdest.«

      »Auch nichts Neues.«

      »Jössas, das ist der Aufnahmebefund, das müssen sie schreiben.«

      »Ist schon gut. Und das Nächste?«

      »›inkompl.Tetraplegie sub C VII ASIA B-C‹. Das wird jetzt etwas kompliziert.«

      »Ich habe Zeit«, unterbreche ich.

      »Sehr witzig. Also, ›inkomplette Tetraplegie‹ heißt frei übersetzt, dass du nicht komplett gelähmt bist. ›Sub C VII‹ heißt, dass das Segment C7 in deiner Halswirbelsäule noch in Ordnung ist und ab dem Segment C8 Lähmungserscheinungen vorliegen.«

      »Hmmm, und das versteht du?«

      »Es ist so, dass je nachdem auf welcher Höhe dein Rückenmark verletzt ist, verschiedene Teile deines Körpers gelähmt sind.«

      »Kompliziert ...«

      »Habe ich ja gleich gesagt.«

      »Und Asia?«

      »›ASIA‹ ist die Abkürzung von ›American Spinal Injury Association‹, die haben 1992 eine Klassifikation entwickelt, mit der sich die verschiedenen Formen der Querschnittlähmung einteilen und beschreiben lassen. Ich schick dir eine SMS mit einem Link, da kannst du dir alles selbst anschauen.«

      Eine Sekunde später höre ich das Signal, dass eine eintreffende SMS signalisiert. Vorsichtig drücke ich die Taste, die die SMS anzeigt, meine Hand schmerzt wirklich höllisch.

      ›http://www.medmedia.at/medien/neurologisch/artikel/2010/02/9039_04-09_Die.php‹ sehe ich auf dem Display.

      »Danke, angekommen. Ich schaue es mir später an. Und ›B-C‹?«

      »›B‹ heißt, dass du keine motorische Funktion, aber Restsensibilität zumindest in den sakralen Segmenten hast ...«

      »Hmmm ...«

      »Und ›C‹, dass du Restmotorik unterhalb der Verletzung hast.«

      »Und was heißt das jetzt wirklich?«

      »Dass du Hoffnung haben kannst, dass es besser wird, aber der Arzt hat gesagt, dass du Geduld haben musst.«

      Matthias kommt am nächsten Morgen ins Zimmer und sagt mit verschmitztem Lächeln, dass ich vom 5-Sterne Hotel auf 4-Sterneniveau downgegradet wurde. Ich schaue ihn fragend an.

      »Ab heute gibt es kein Frühstück mehr ans Bett. Sie frühstücken jetzt im Speisesaal.«

      »Warum?«

      »Weil es Ihnen schon sehr viel besser geht und das ein weiterer Schritt zur Selbstständigkeit ist.«

      Ich rolle in den Speisesaal. Es gibt fünf runde Tische, jeweils für ungefähr sechs Patienten. Auf den Tischen stehen Namenskärtchen. Ein Zivildiener fragt mich nach meinem Namen, sucht mein Kärtchen und führt mich zu meinem Platz. Es gibt eine Semmel, ein Weckerl, Butter und Honig. Neben der Tür steht ein Kaffeeautomat. Ich überlege, wie ich mit meinen Fingern und im Rollstuhl mit einer brühend heißen Tasse Kaffee vom Automaten zu meinem Platz komme und begreife, dass das unmöglich ist. Ich bitte den Zivildiener um einen großen schwarzen Kaffee und dass er mir die Semmel auseinander schneidet. Ich versuche, mir die Butter auf die Semmel zu schmieren, kann aber das Messer nicht halten, weil ich zu wenig Kraft in den Fingern habe. Er streicht mir die Semmel, »Nein, danke, keinen Honig«.

      Inzwischen ist ein junges Mädchen an meinen Tisch gerollt und beginnt mit dem Frühstück. Ich sehe fasziniert zu. Sie klemmt das Messer so in die rechte Hand, dass der Griff auf Mittel- und Ringfinger liegt. Den Zeigefinger und den kleinen Finger legt sie über den Griff des Messers, so, dass das Messer durch die Spannung der Finger fixiert wird. Ich versuche es nachzumachen. Nach einigen Versuchen gelingt es, ich versuche augenblicklich, das Weckerl aufzuschneiden. Ich nehme es in die linke Hand, setze die Klinge an, schneide und rutsche sofort ab, voll mit der Schneide in den Zeigefinger der linken Hand. Normalerweise sollte ich jetzt einen ziemlichen Schnitt haben, ich bin aber unverletzt. Nach dem ersten Schreck prüfe ich die Klinge mit dem Daumen der linken Hand und sehe, dass sie eher stumpf ist. ›Selbstmordsicher‹, denke ich. Ich überlege, ob ich mir das Weckerl vom Zivi aufschneiden lassen soll, beschließe dann aber, die Butter in kleinen Stücken abzuschneiden und Biss für Biss aufs Gepäck zu schmieren. Mit dem zwischen den Fingern eingezwängten Messer geht das sogar ein paar Mal ganz gut, bald aber verkrampft sich die Hand, ich muss aufhören.

      In der Ergotherapie erzähle ich von meinem Frühstückserlebnis.

      »Na sehen Sie, es geht mit Riesenschritten vorwärts. Keine fünf Wochen nach dem Unfall und sie können schon wieder selbst eine Buttersemmel schmieren.«

      Was für mich wie Hohn und Spott klingt - »Sie können schon selbst, ja wirklich selbst, eine Buttersemmel, ja wirklich eine Buttersemmel, schmieren, stellen Sie sich das nur vor« - meint meine Therapeutin als ehrliches Lob. Ich bin nicht sicher, ob ich mich freuen oder schreien soll.

      Bei der Visite frage ich, wann ich in die Gangschule komme. Ich sage der Ärztin, dass ich mittlerweile problemlos 20 Minuten im Stehpult stehe, ohne dass ich mich anhalten muss oder dass der Kreislauf Schwierigkeiten macht.

      »Nur Geduld, ich werde mit Ihrer Therapeutin sprechen.«

      Und tatsächlich finde ich am Nachmittag einen neuen Therapieplan auf meinem Bett. 09:00 bis 10:00 Gangschule. Endlich. Ich rufe sofort Julia an und sage ihr, dass es morgen losgeht. New York rückt näher.

      »Übertreib es nicht«, sagt sie.

      Am nächsten Morgen treffe ich mich mit drei anderen Patienten bei den Barren vor der Kraftkammer. Es gibt drei Barren, die hintereinander aufgestellt sind. Ein Barren ist ungefähr drei Meter lang, insgesamt sind es also zirka neun Meter, die man zwischen den Stangen gehen kann. Zwischen den Barren und der Wand ist ungefähr ein Meter Platz, entlang der Barren ist an der Wand über die ganze Länge ein Spiegel. Am Ende des Barrens schließt an den Spiegel eine Sprossenwand an, sie ist ungefähr fünf Meter lang. Am Ende der Wand ist eine Mauer im rechten Winkel, auf ihr ist ein weiterer Spiegel montiert. Steht man im Barren, sieht man sich also links und frontal im Spiegel und kann seine Haltung kontrollieren.

      Astrid,