Walter Wosp

ASIA B-C


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Bewegungsverhalten des Patienten integriert und erworbene Fehlhaltungen und Bewegungsstörungen korrigiert werden«, zitiert sie auswendig aus dem Lehrbuch. »Kurz gesagt heißt das«, setzt sie fort, »dass durch gezielten Druck auf bestimmte Punkte beim Patienten die für spontane Bewegungen im Alltag benötigten unbewusst eingesetzten Muskelfunktionen, besonders an der Wirbelsäule, aber auch an Armen und Beinen, Händen und Füßen sowie im Gesicht, aktiviert werden.«

      »Stellen Sie sich vor, ich bin ein Sechsjähriger und versuchen Sie es nochmal«, bitte ich sie.

      »Ihr Rückenmark und damit Ihr zentrales Nervensystem ist verletzt. Damit sind manche Leitungen vom Gehirn zu den Muskeln unterbrochen. Ich versuche mit der Vojta-Therapie, dass wir Umleitungen in ihrem Nervensystem finden, durch die die Muskeln wieder angesteuert werden können.«

      »Jetzt habe ich es kapiert, glaube ich. Wie mit meinen Fingern in der Ergotherapie«, sage ich und bin gespannt, was jetzt kommt.

      Caro drückt, ich spüre zwar den Druck ihrer Finger, aber keine Reaktion. Ich bin enttäuscht, Caro ist aber zufrieden. Sie sagt, dass sie sieht, dass sich manche Muskeln bewegen. Wir werden ab jetzt Vojta dreimal die Woche machen, an den anderen zwei Tagen normale Physiotherapie.

      Julia sagt stolz, dass sie alles für die Dreharbeiten für ein lange geplantes Imagevideo für einen langjährigen und anspruchsvollen Kunden organisiert hat. Die Dreharbeiten werden nächste Woche beginnen. Sie wird als Produktionsleiterin dabei sein. Sie hat ein mulmiges Gefühl, weil sie das noch nie gemacht hat. Ich tröste sie, sage, dass sie bis jetzt alles großartig gemacht hat und dass der Kameramann und alle anderen im Team alte Hasen sind und ihr sicher helfen werden. Sie sagt, dass ich endlich gesund werden und gefälligst wieder selbst arbeiten soll. Ich sage, dass ich hier arbeite wie ein Tier, jede Bewegung total anstrengend ist und ich am Abend völlig fertig bin.

      »Du hast nicht mein Mitleid, aber meine Liebe«, sagt sie leise.

      »Das reicht mir«, sage ich.

      Am nächsten Tag betreut mich eine Praktikantin auf der Toilette. Sie steckt mir das Zäpfchen in den Darm und verabschiedet sich. Ich lese das Buch von Kuby. Nach ein paar Seiten höre ich etwas in die Muschel fallen, weiß aber nicht, was es ist. Nach der gewohnten halben Stunde kommt Berthold, grüßt wie immer fröhlich, nimmt die Handschuhe und stutzt.

      »Oje, ist Ihnen das Zäpfchen raus gefallen?«

      »Keine Ahnung, ich spüre ja nichts.«

      »Schauen wir einmal«, sagt er und steckt mir einen Finger in den Hintern. »Ich fürchte, da ist noch alles drinnen. Trauen Sie sich den Tag so zu überstehen oder soll ich nochmal stecken?«

      »Wie groß ist die Chance, dass es schief geht, wenn wir kein Leci mehr stecken?«

      »Das kann man nicht sagen.«

      »Dann stecken Sie mir bitte noch ein Leci rein«, sage ich seufzend.

      »Dann müssen Sie aber wieder 20 bis 30 Minuten warten.«

      »Besser als in die Hose gemacht.«

      Er nimmt ein Zäpfchen, es folgt die übliche Prozedur.

      »Wie kann das sein, dass das Zäpfchen rausfällt?«

      »Wahrscheinlich war es nicht weit genug drinnen, man muss es so weit wie möglich im Darm nach oben schieben.«

      »Wieder etwas gelernt.«

      Was ich an diesem Tag noch lerne, ist, dass sich die Schmerzen, wenn man länger auf dem brettharten Duschrollstuhl sitzt, nicht addieren, sondern potenzieren.

      Wieder finde ich einen neuen Eintrag auf dem Therapieplan. »11:00 bis 12:00« Krafttraining. Voller Tatendrang rolle ich in Richtung Kraftkammer. Vor der Kraftkammer ist am Gang ein Bereich mit mehreren Barren, wie ich sie aus der Schule kenne. Ein Patient steht in einem Barren, er hält sich mit beiden Händen an den Stangen an. Ich schaue, warte und wirklich: er macht einen Schritt, dann noch einen. Ich schwöre mir, dass ich auch bald hier stehe und gehe. Dann rolle ich weiter in die Kraftkammer.

      Die Ausstattung macht einem Fitnessstudio alle Ehre. Hanteln, Stepper, Hometrainer, Seilzüge, alles ist da. Ich bekomme meinen Trainingsplan, es sind sechs Übungen. Ich will mit den Hanteln beginnen, rolle zur Wand, an der die Hanteln aufgereiht liegen, und nehme den Griff einer 3-Kilo Hantel. Ich kann sie keinen Millimeter bewegen.

      »Die drei Kilo werden nicht gehen«, höre ich die Stimme von Sabine, die die Kraftkammer betreut.

      »Noch nicht«, antworte ich mit meinem Standardsatz.

      »Beginnen wir mit einem halben Kilo, ich lege Ihnen eine Manschette an.«

      Ich schaue sie ungläubig an.

      »Ich habe vor einem Monat täglich 150 Liegestütze gemacht.«

      »Vor einem Monat. Sie werden sehen, dass das halbe Kilo schwer genug wird.«

      Ich schüttle nur noch den Kopf. Sie legt mir um das linke Handgelenk ein Gewicht und befestigt es mit einem Klettband, dann befestigt sie dasselbe Gewicht an meinem rechten Handgelenk. Ich biege die Arme an den Ellbogen, hebe die Ersatzhanteln, es geht problemlos.

      »Na, bitte«, sage ich zufrieden.

      »Machen Sie es noch zehn Mal.«

      Beim achten Versuch gebe ich völlig erschöpft auf.

      »Machen Sie eine Pause, dann probieren Sie es wieder. Nach drei Einheiten wechseln wir vom Bizeps auf den Trizeps.«

      Nach den ersten 45 Minuten in der Kraftkammer fühle ich mich als ob mehrere Dampfwalzen über mich gerollt wären. Ich kann kaum noch mit dem Rollstuhl in mein Zimmer fahren. Und trotzdem, kaum bin ich aus der Tür des Fitnessraums draußen, freue ich mich auf den nächsten Tag. Ins Bett komme ich heute nicht alleine, ich muss einen Pfleger bitten, dass er mir über das Rutschbrett hilft.

      Ein neuer Therapieplan liegt auf meinem Bett. Morgens 7:30 Anziehtraining. Ich frage Susanne, meine Ergotherapeutin, was das ist.

      »Na irgendwann werden Sie sich ja selbst anziehen wollen. Ich komme morgen vorbei und zeige Ihnen, wie das geht.«

      Am nächsten Morgen, ich bin gerade aus dem Waschraum zurück, kommt sie in mein Zimmer. Sie zieht den Vorhang, der mein Bett vor den Blicken des Zimmernachbarn schützt, vor.

      »Gehen wir es an.«

      Ich sage, dass sie mir bitte die Stützstrümpfe anlegen soll. Die sind so eng, dass ich das sicher nicht selbst machen kann, alles andere würde ich gerne eigenhändig probieren. Sie stimmt zu und zieht mir die Strümpfe an. Ich drehe mich auf die Seite, nehme mit beiden Händen den rechten Oberschenkel, ziehe ihn hoch und halte das jetzt angewinkelte Bein mit der linken Hand am Knie. Mit der anderen Hand ziehe ich das rechte Hosenbein über den rechten Fuß.

      »Na bitte, geht ja ganz leicht.«

      Ich wende mich nach rechts, ziehe das linke Bein hoch und will das linke Hosenbein über den Fuß ziehen. Das Problem ist, dass das Hosenbein zwischen meinen Schenkeln eingeklemmt ist. Ich will die Hose zwischen den Beinen vorziehen, habe aber zu wenig Kraft in den Fingern. Ich drehe mich wieder zurück und lege das Hosenbein so, dass es bei der nächsten Drehung oben und nicht mehr zwischen den Beinen liegen wird. Es folgt wieder die Drehung nach rechts. Ich beuge mich mit dem Oberkörper nach vorne und tatsächlich: Ich kann das zweite Hosenbein über den Fuß ziehen. Nur wie geht es jetzt weiter? Ich habe zwar die Hose an, aber nur bis zu den Waden.

      Ich versuche mich aufzusetzen, falle aber sofort zur Seite um. Ich ziehe das linke Hosenbein so hoch es geht und bekomme es bis übers Knie. Ich drehe mich auf die linke Seite und ziehe das rechte Hosenbein bis über das rechte Knie. Meine Therapeutin kann sich nicht mehr zurückhalten.

      »So habe ich noch nie gesehen, dass sich jemand die Hose anzieht, bei Ihnen kann ich noch was lernen«, prustet sie heraus.

      »Schauen Sie zu«, sage ich keuchend, »jetzt wird es interessant.«

      Ich habe keine Ahnung, wie