Thomas Spyra

Wildgänse


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Herrschaften, immer servierte sie ein vorzügliches Essen. Sie war eine begnadete Köchin, die Tommaso dazu brachte, später selbst mit Freude zu kochen und oft etwas Neues auszuprobieren.

      „Du wirst noch einmal ein großer Koch, der für einen Duce oder Conte kochen darf“, meinte sie oft scherzhaft.

      Er genoss den täglichen Unterricht beim Lehrer Emilio - ganz gleich, ob sie endlos die verschiedenen Formen der Verben aufsagen mussten oder das Einmaleins rauf und runter auswendig lernten. Immer war Tommaso mit Begeisterung dabei. Dem Signorino machte diese ganze Lernerei nicht so viel Spaß. Der Hauslehrer äußerte, er solle sich ein Beispiel an Tommaso nehmen. Christiano reagierte darauf sauer und ließ ihn seine Wut beim Spielen im Hof spüren.

      Sein ausgesprochenes Lieblingsfach war Geschichte. Sehr anschaulich erzählte Lehrer Emilio den beiden Buben aus der Vergangenheit. Tommaso konnte stundenlang zuhören und sich so richtig in die vergangenen Zeiten hineinversetzen. Dabei hörte er das erste Mal, dass Sizilien eine große Insel ist. Er kannte nur die kleine Insel im Flussbett, auf der er sich manchmal in den drei Büschen, die dort wuchsen, versteckt hatte, wenn seine Brüder in gesucht hatten.

      Der Lehrer führte sie Tausende Jahre zurück zur ersten Besiedelung durch die Sikaner oder Sikeler. Er berichtete davon, wie die Griechen das Land später kolonisiert und unter anderem die große Stadt Siracusa sowie im Gebirge die kleine Stadt Acrei, das spätere Palazollo Acreide, gegründet hatten. In Siracusa soll man sogar noch Überreste aus dieser Zeit sehen können.

      Die beiden erfuhren, dass später die Griechen von den Römern vertrieben wurden. Seitdem sprechen die Menschen hier auch eine Art von Latein, das sich zum Italienischen veränderte. „Das sizilianische Bauernvolk spricht noch immer ein Kauderwelsch, eine Mischung aus lateinisch, italienisch und griechisch, ebenso wie Tommaso, als er hier angekommen ist“, scherzte Emilio.

      Aber auch die Römer wurden besiegt. Immer wieder kamen fremde Soldaten und Siedler. Byzantiner, Ostgoten, Mauren, Normannen, bis dann, etwa vor 600 Jahren der letzte Normannenkönig Wilhelm kinderlos starb und die Herrschaft über die Insel an den Staufer Heinrich, dem Sohn und Erben von Kaiser Friedrich Barbarossa, ging. In diese Zeit reichten auch die Wurzeln der Familie di Cardinali zurück. Das interessierte nun sogar Christiano.

      Am Hofe des Königs Konrad von Sizilien, der ein Enkelsohn von Kaiser Heinrich war, diente als Ritter ein Roger von Portoballo. Er wurde für seine Verdienste zum Barone ernannt, sein Sohn erhielt dann später unter König Manfred den Titel eines Conte und wurde mit umfangreichen Ländereien im Inland von der Ostküste Siziliens belehnt. Die Familie der Conte di Cardinali hatte es verstanden, sich selbst in schweren Zeiten immer auf die richtige Seite zu stellen. So wurde ihr Einfluss und ihre Macht immer größer. Nur einmal wäre das alles fast schief gelaufen. Der Conte von Anjou Karl, ein Bruder des französischen Königs, beutete die Menschen aus, seine Unterdrückungsherrschaft wurde unerträglich. Ausgehend von den Bürgern Palermos erhoben sich die Sizilianer und vertrieben den ungeliebten Grafen. Den Aufstand nannte man später die Sizilianische Vesper. Hierbei wurde auch ein junger Mann, Barthelomeus aus der Linie der Cardinali, als Spion enthauptet. Angeblich zu Unrecht, wie man in der alten Familienchronik nachlesen konnte. Christiano entrüstete sich, horchte aber weiter gespannt zu.

      Der sizilianische Adel hatte sich zu Peter, König von Aragon, geflüchtet. Dieser war mit der Tochter von König Manfred verheiratet. Nach der Vertreibung des Anjou kam nun die Macht für über 150 Jahre an die Spanier. Sizilien wurde Vizekönigreich Aragoniens. Peter ernannte sich später zum König von Sizilien und auch zum König von Neapel. Vor nun etwa 18 Jahren fiel das Land aufgrund des Spanischen Erbfolgekrieges an Savoyen.

      „Vor zehn Jahren etwa um die Zeit, als du, Tommaso, geboren wurdest, tauschten die es dann mit den Österreichern. Und im Moment wird in der großen weiten Welt wieder um Sizilien gekämpft.“ Der Lehrer wusste so viel, Tommaso hing bei den Erzählungen aus der Geschichte gespannt an den Lippen des betagten Mannes.

      Allerdings spielten sich die Politik und die große weite Welt nicht hier im unzugänglichen Innern der Insel ab. Alle wichtigen Städte lagen an den Küsten. Man konnte von Glück sagen, wenn sie hier erfuhren, wer gerade über Sizilien herrschte.

      „Was geht uns das alles an, das ist alles schon so lange her und die Politik, die versteht sowieso keiner“, machte Christiano seinem Unmut Luft.

      Er konnte sich mit dem ganzen Geschichtsgefasel nicht anfreunden. Hauptsache, er würde einmal der nächste Conte de Cardinali.

      Neidisch blickte Tommaso zu seinem Freund auf: Der weiß wenigstens, was später einmal aus ihm wird – und aus mir?

      Tommaso war etwa zwölf Jahre alt, als noch ein zusätzliches Pult in die Studierstube gestellt wurde. Die inzwischen neunjährige Principessa Alessandra sollte nun mit den beiden Jungen gemeinsam unterrichtet werden. Christiano fand das eine Verschwendung, wozu brauchten Mädchen eine Bildung, die sollten doch nur gut verheiratet werden. Es reichte, wenn sie einem Haushalt vorstehen konnten. Hochmütig verbesserte er seine Schwester und lachte sie demütigend aus, wenn sie etwas nachfragte. Darum wandte sich das Mädchen an Tommaso und der erklärte ihr gerne geduldig so manches, was sie nicht gleich verstanden hatte. Die hübsche Alessandra war im Gegensatz zu ihrem Bruder klein und schwarzhaarig wie ihr Vater. Oft bat sie Tommaso um Hilfe, wenn mal wieder eine Puppe oder Ähnliches kaputt gegangen war. Sie himmelte ihn an, er war für sie wie ein großer Bruder, der sie beschützte und dem sie auch ihren Kummer anvertrauen konnte.

      Man schrieb das Jahr 1735, die Zeit war wie im Flug vergangen, Sizilien war nun wieder einmal spanisch. König Ferdinand vereinigte wie im Mittelalter, Unteritalien mit Sizilien, Residenzstadt war diesmal allerdings Neapel.

      Vier Jahre lernten die beiden Knaben nun schon gemeinsam, Christiano quälte sich so durch, Tommaso war mit Begeisterung dabei. Ihm fiel das Lernen leicht, einmal gehört, behielt er das Gesagte in seinem Gedächtnis.

      Nur seine Körpergröße bereitete ihm Probleme. Seit Jahren wuchs er nur geringfügig. Der gleichaltrige Christiano dagegen war ein schlaksiger Jugendlicher geworden, dem er gerade bis zur Brust reichte.

      Eines Tages rief der Conte den Jungen zu sich ins Arbeitszimmer.

      „Tommaso, der Lehrer ist voll des Lobes über deine Leistungen. Es war gut, dass ich mich damals deiner angenommen habe. Du hast die gleiche Ausbildung wie Christiano genossen, das heißt die Erziehung eines Conte. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen. - Ja, ja, ist schon gut“, winkte er Tommaso ab, als der etwas erwidern wollte. „Mein Sohn hat dir bestimmt erzählt, dass er nach dem Sommer auf die Militärakademie nach Palermo gehen wird.“

      „Ja, Signor Conte.“

      „Für dich ist dann die Zeit hier auch zu Ende. Ich werde dich zum Kaufmann Matteo Francoforte nach Siracusa schicken. Du wirst dort die Geschäfte eines Kaufmanns erlernen und kannst mir später bei meinen Handelsgeschäften dienlich sein. Lerne fleißig und vergiss nicht, wo du ohne meine Unterstützung wärst. Das Lehrgeld lege ich für dich aus und du zahlst es mir später zurück.“

      Soviel hatte der Conte noch nie in einem Stück mit ihm gesprochen. Freudig erregt bedankte sich Tommaso für die große Gunst, die ihm der Patrone weiterhin erwies.

      Nur einmal war er mit Christiano in Siracusa gewesen. Damals, als der Conte nach dem Sommer beschlossen hatte, dass die beiden Knaben in der Fattoria gemeinsam unterrichtet werden sollten. Hier auf dem Land gebe es wenig Ablenkung, meinte die Contessa damals. Und so fuhr die Familie in die große Stadt. Tommaso durfte mit, um einen Teil der Sachen von Christiano zu holen.

      Eine riesengroße Stadt, Tausende von Menschen wohnten da, behauptete Christiano. Sie fuhren gerade die Via Eurialo in der kleinen Ortschaft Beleverdere entlang, als der Kutscher Mario plötzlich die Pferde zügelte.

      „Steigt doch einmal aus und geht mit mir dort hinauf.“

      Er zeigte auf die gewaltigen Ruinen einer Befestigungsanlage.

      „Das sind Reste vom Castello Eurialo, welches die Griechen zum Schutz der Stadt errichtet hatten.“

      Gemeinsam kletterten sie hinauf.