her und hilf mir.“
Erst als sie später mit mehreren Männern aus Lassan zurückkamen, erkannten sie die ganze Tragik des Unglücks. Der Sturm hatte die Wassermassen weit ins Inland getrieben. Dabei war, bis auf das Mädchen, die gesamte Familie Reetschneider ums Leben gekommen. Man fand später noch die Leiche von Freias jüngster Schwester, aber ihr Vater und ihr kleiner Bruder Uwe blieben spurlos verschwunden - vom Wasser verschluckt.
Freia hatte Glück im Unglück gehabt. Auch einige Nachbarn hatte das Schicksal arg gebeutelt. Insgesamt waren dreizehn Menschen bei dem Unwetter ums Leben gekommen und viele Häuser waren zerstört. Aber dies waren die Menschen hier an der See gewohnt, immer wieder richteten Winterstürme schwere Schäden an. Doch so eine Wucht und Geschwindigkeit, mit der diese Sturmflut über sie hereingebrochen war, hatten bisher nur wenige erlebt.
„Das Mädchen kann solange, bis sich noch irgendwelche Verwandten melden, bei uns bleiben. Jetzt, nachdem Petrus erwachsen ist, ist meine Frau bestimmt froh, wenn wieder jemand da ist, um den sie sich kümmern kann“, meinte Johann Singer zum Bürgermeister.
Der Fischer Johann Singer hatte erst recht spät geheiratet und seine Frau Margarete war damals auch nicht mehr die Jüngste gewesen. Lange hatten sie sparen müssen, um sich die Hochzeit leisten zu können. Am Anfang wohnten sie über dem Bootsschuppen von Johanns Vater. Als jüngster Sohn war das Erbe nicht groß, das er zu erwarten hatte. Erst als Margarete unverhofft eine kleine Erbschaft von einer Großtante erhielt, konnten sie sich das kleine Anwesen am Hafen kaufen. Es stand schon lange leer und verfiel immer mehr zur Ruine, trotzdem verlangte der Müller noch eine ansehnliche Summe dafür. Sie bauten sich hier eine kleine Existenz auf, von der sie recht gut leben konnten.
Das Hauptnahrungsmittel der Lassaner Bewohner bestand aus Fisch. Die Fischereirechte verpachtete der Magistrat. Zehn Fischer erhielten für zwölf Taler jährlich das Recht, im Peenestrom vor der Stadt zu fischen.
Auch die Singers hatten das Glück und konnten ein Fangrecht erwerben. Johann fing Aale, Zander, Hecht, Barsche und manchmal auch Heringe, viele Fischarten, die es - Gott sei Dank - immer noch reichlich im Strom gab.
Einen Teil der Fische räucherte er dann gemeinsam mit seiner Frau. Margarete fuhr einmal in der Woche mit dem Bauern Schlegel zum Markttag nach Anklam, der nächsten größeren Stadt. Die Städter kauften gerne ihren leckeren Räucherfisch, sodass sie fast immer ruckzuck ausverkauft war. Danach half sie noch dem Bauern an dessen Stand, sein Gemüse und Obst zu verkaufen. Dafür durfte sie umsonst mit in die Stadt fahren. An guten Tagen bekam sie manchmal ein kleines Trinkgeld und vom Schlegel die Reste der nicht verkauften Waren.
Nach einigen Jahren erfüllte sich dann endlich der lang ersehnte Kinderwunsch. Sie ließen ihren Sohn auf den Namen Petrus taufen, weil der Herr Pfarrer in der Kirche schon viel von dem Fischer Petrus erzählt hatte, der mit Jesus gewandert war. Die beiden Singers verhätschelten ihren Knaben nach Strich und Faden.
Freia zog nun in Singers Fischerkate, gleich neben dem Hafen der Stadt.
Starr vor Schreck lag sie auf ihrem Strohsack. Es war noch stockdunkel. Sie spürte, wie etwas ganz langsam an ihrem rechten Bein heraufkroch. Immer weiter, immer höher. Vor Angst traten ihr Schweißperlen auf die Stirn. Eine Wanze, eine Maus, eine Ratte oder gar noch etwas Größeres? Freia lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, wie erstarrt lag sie da. Neben ihr atmete die alte Fischerin ruhig und gleichmäßig.
Das Tier kroch sachte weiter, schlüpfte unter ihr Nachthemd, strich krabbelnd über den Schamhügel, spielte mit dem aufkeimenden zart gekräuselten Flaum. Freia stockte der Atem, sie wollte entsetzt aufschreien - das war kein Tier. Doch da drückte ihr eine nach Fisch riechende Hand den Mund zu.
„Pssst, keinen Laut, sonst …“, flüsterte der alte Johann schwer atmend. Sie wand sich verzweifelt und versuchte die Hand wegzuschieben.
Weiter suchten die Finger, spielten in ihrem Schoß, versuchten in sie einzudringen, da schrie sie laut auf. Sofort verschwanden die Hände.
„Was ist?“, rief Margarete aus dem Schlaf aufgeschreckt.
„Ach, nichts, ich – ich hab nur schlecht geträumt“, stotterte Freia erleichtert.
„Komm her“, sanft nahm Margarete das Mädchen in die Arme, „ist alles wieder gut - schlaf weiter.“
Ängstlich schaute Freia am Morgen zum alten Johann hinüber. Der grinste sie nur hämisch an.
„Stell dich nicht so an. Einmal musst du ja in die Liebe eingeführt werden. Aber wenn du ein Wort sagst, jage ich dich ins Wasser“, raunte er ihr später drohend zu, als seine Frau außer Haus war.
Damit begann für Freia eine angstvolle Zeit. Sie traute sich nicht mehr, richtig zu schlafen. Nur wenn der Fischer nachts auf dem Strom unterwegs war oder wenn sie sich an Margarete kuscheln konnte, hatte sie Ruhe vor seinen Nachstellungen.
Eines Tages, als sie vom Pilzesuchen zurückkam, hörte sie schon von Weitem die alte Fischerin mit ihrem Mann schreien: „Meinst du, ich merke nicht, dass du immer an der Kleinen rumfingerst? Lass das Mädchen in Ruhe! Ich gehe sonst zum Pfarrer und zum Bürgermeister und erzähle denen, was für ein Kerl du bist.“
Der Fischer schlug ihr rechts und links auf die Wangen und beendete damit das Geschrei.
„Untersteh dich, ich schlage dich eher tot“, drohte er ihr, rannte hinaus und ins Wirtshaus.
Aber von da an hatte Freia ihre Ruhe. Ein paar Wochen später bekam sie eine kleine Kammer unterm Dach mit einem schweren Riegel an der Tür. Margarete hatte ihren Sohn Petrus davon überzeugt, dass ein fast erwachsenes Mädchen einen eigenen Raum benötige, und so hatte dieser ihn in seiner wenigen freien Zeit hergerichtet.
Der Fischer starrte sie immer noch durchdringend an, als ob er durch die Kleidung schauen könnte. Sie fühlte sich dann nackt und bloßgestellt und versuchte so schnell wie möglich zu entfliehen.
„Seit die Peene der Grenzfluss zwischen Preußen und Schweden ist, gehen unsere Geschäfte immer schlechter. Wie du weißt Freia, kann ich auch nicht mehr in Anklam meine geräucherten Fische verkaufen. Und hier bei uns gibt es viel zu viel Konkurrenz. Wir - die armen Leute leiden am meisten unter der Willkür der Reichen und Mächtigen“, meinte die Singerin eines Morgens, „wir müssen etwas ändern.“
„Mm“, nickte Freia unsicher.
„Der Diakon Michael Hartwig sucht jemanden für die Küche, da die alte Hedwig letzte Woche gestorben ist“, fuhr sie fort, „Ich meine, das wäre etwas für dich. Du bist jetzt alt genug, um in einen Dienst zu treten. Ich habe schon mit ihm gesprochen, morgen früh sollst du vorbeikommen und dich vorstellen.“
Ängstlich wollte Freia protestieren, aber Margarete duldete keinen Widerspruch, und so fügte sich die 15-Jährige. Sie hatte ja keine Wahl.
Der Diakon war ein sehr feiner und gebildeter Mann, auch seine Frau war von ruhiger Art. Man wurde sich einig und bereits am nächsten Tag zog Freia in das Haus der Hartwigs um. Unterm Dach bekam sie ein eigenes kleines Zimmer mit einem Tischchen, einem Hocker und einem Bett. Aus dem winzigen Fenster konnte sie über die Stadt bis zum Hafen blicken - eine herrliche Aussicht.
Anfangs hatte sie noch etwas Probleme mit den drei kleinen Kindern des Diakons, aber sehr bald fassten sie Vertrauen.
In ihrer knapp bemessenen Freizeit durfte sie in der umfangreichen Hausbibliothek lesen. Jederzeit konnte sie Frau Hartwig fragen, wenn sie etwas nicht verstand, sie hatte ja nur ein paar Jahre die Grundschule besucht. So begann die schönste Zeit ihres bisherigen Lebens.
Der Diakon legte besonders viel Wert auf ein gepflegtes Aussehen, auch bei seinen Dienstboten. Sie legte die Trauerkleidung ab und bekam dafür einen feinen schwarzen Rock, ein schwarzes bunt besticktes Mieder, eine weiße Bluse, weiße Schürze und Jungfernhaube.
Einmal im Monat wurde ein Hausmusikabend in der guten Stube veranstaltet, bei dem Freia servieren musste. Der Hausherr hatte sich einen Holzkasten gekauft, auf dem man Musik machen konnte. Dem Mädchen wurde erklärt, das sei ein Clavichord