Nadja Losbohm

Die Tagebücher des Michael Iain Ryan


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wie Neid und Wehmut, gerade weil ich gehen konnte. Und ich hoffte so sehr, ihn nie wieder sehen zu müssen!

      Ich zog den Kopf zurück ins Innere der Kutsche, lehnte ihn gegen die Vorhänge und sah zu, wie das Kloster von Gourin mit jedem verstreichenden Augenblick immer kleiner wurde. Erst als es nur noch die Größe hatte, um in meine Hand zu passen, schlug ich die Augen zu. „Ich bin bereit“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu de Forestier. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht schlief ich ein.

      1. Kapitel

      ***

      Das menschliche Gehirn ist wirklich erstaunlich. Es speichert einschneidende Erlebnisse, merkt sich das exakte Datum, an dem sie passiert sind. Der Tag meines Verlassens des Klosters von Gourin war der neunzehnte Juni im Jahre 1000. Es fühlte sich so unwirklich an, dem Ort den Rücken zu kehren, von dem ich angefangen hatte zu glauben, für immer dort gefangen zu sein. Ich konnte es kaum begreifen, was vor sich ging, aber es war echt und kein Traum, auch wenn ich lange Zeit brauchte, um dies wahrhaftig zu verstehen. Die Tatsache, dass de Forestier mit mir im Schlepptau auf Exkursion ging, um mich in die Geheimnisse der übernatürlichen Geschöpfe einzuweihen, machte es mir beim Verstehen und Verarbeiten nicht unbedingt leichter.

      Bis zum tatsächlichen Aufbruch hatte ich mir viele Gedanken darüber gemacht. Dennoch hatte ich die dunkle Vorahnung, dass ich gar nicht so absurd denken konnte, wie die Realität wirklich aussah. Ich versuchte also, mich vorerst auf die Reise zu konzentrieren. Ein Schritt nach dem anderen. Alles Denken, was darüber hinausging, ließ mich unruhig und ängstlich werden. Nichtsdestotrotz geisterten unablässig unzählige Fragen in meinem Kopf umher, sodass ich schon von den Schreckgestalten träumte, von denen der Bischof mir erzählt hatte.

      ***

      „Deine Träume waren keine der angenehmen Art, nicht wahr?“, fragte er mich, als ich, in einer äußerst unbequemen Haltung, aus dem Schlaf erwachte. Ich ordnete meine Gliedmaßen, legte den Kopf erst nach rechts, dann nach links. Die Muskeln in meinem Nacken knirschten.

      „Habe ich denn geschrien?“, fragte ich zurück.

      Mein Gegenüber nickte. „Du bist sehr vorsichtig mit der Wahl deiner Worte. Ein Indiz für Misstrauen. Hmm“, sagte er und rieb sich grüblerisch das Kinn. Ich zuckte nur mit den Schultern. Der Bischof beließ es dabei, und ich war ihm dankbar, dass er nicht weiter in mich drang und stattdessen wissen wollte, ob ich keine Fragen an ihn hätte, was unsere Reise anging.

      „Hunderte“, meinte ich und grinste.

      „Für den Anfang kannst du mir eine nennen.“

      Bei meiner Devise bleibend, einen Schritt nach dem nächsten zu gehen, fragte ich: „Wohin fahren wir?“

      Mein neuer Lehrer, oder was auch immer er war, sah mich mit großen Augen an. „Von all den Dingen, die du mich fragen kannst, ist das ausgerechnet das erste?“

      Wieder quittierte ich seine Bemerkung mit einem Schulterzucken. „Mein Kopf ist mit der Tatsache, dass ich das Kloster verlassen habe, etwas überfordert. Ich kann derzeit nur von Moment zu Moment denken, in der Hoffnung, dass ich mich auf diese Weise allmählich an mein neues Leben gewöhne.“

      De Forestier legte den Kopf schief und musterte mein Gesicht. Er versuchte mich zu lesen. Doch ich wusste zu verbergen, was verborgen werden musste. Er musste nicht alles wissen. „Ich verstehe“, meinte er und sah aus dem Fenster. Sein Blick rückte in weite Ferne. In seinen Augen flackerten Bilder aus der Vergangenheit auf, so schien es mir. Ich war nur leider nicht dazu in der Lage, sie klar zu erkennen, sonst hätte ich wohl einen Vorgeschmack davon erhalten, was mir bevorstand. Der Bischof räusperte sich nach einer Weile, kehrte ins Hier und Jetzt zurück und verriet mir, dass wir nach Concarneau fuhren. Der Name war mir ein Begriff. Ich war natürlich noch nie dagewesen. Er war lediglich ein verschwommener Fleck auf einer vergilbten Pergamentrolle, auf der eine Karte der Bretagne abgebildet gewesen war, die man mir während der Unterrichtsstunden im Kloster vor die Nase gehalten hatte. Wer oder was dort auf uns wartete, vermochte ich nicht zu sagen.

      „Und was dann?“, wollte ich genauer wissen, etwas unzufrieden mit seiner knappen Antwort.

      „Ich dachte, du verträgst die Einzelheiten, wohin es geht und welche Zukunft dich erwartet, nur stückweise?“ Die Partie um seinen Mund zuckte, als er sich bemühte, ein Grinsen zu unterdrücken.

      „Mhh“, machte ich. Er weiß mich mit meinen eigenen Waffen zu schlagen. Das gefiel mir nicht, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich empfand es als persönlichen Angriff, und meine Reaktion darauf war, dass ich umgehend eine Mauer vor mir aufbaute, an der Pfeile dieser Art abprallten. Die Neugierde, wie es weitergehen würde, war nicht tot in mir. Na und? Wollte er mich deswegen etwa verurteilen? Mein Unmut darüber, dass er meine Worte gegen mich verwendete, muss mir ins Gesicht geschrieben gestanden haben.

      Ich hörte, wie es in de Forestiers Brust rumpelte wie bei einem Menschen, der unter einer schweren Bronchitis litt, die dabei war, sich zu lösen. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das sich zu einem breiten Grinsen ausdehnte, und das Rumpel in seinem Innern brach als schallendes Gelächter aus ihm hervor. Ich hatte noch niemand so befreit und kräftig lachen gesehen. Als er sich wieder beruhigt hatte, wischte er sich eine Freudenträne aus dem Augenwinkel.

      „Oh Michael, ich mache doch nur Spaß. Es ist Zeit für dich, ein bisschen locker zu lassen und Humor zu entwickeln“, meinte er und klopfte mir auf das Knie. Er ließ seine Hand für meinen Geschmack ein wenig zu lange dort, als dass ich locker lassen konnte. Ich wischte sie von meinem Bein, setzte mich aufrecht hin und starrte aus dem Fenster.

      „Humor – dieser wurde mir vor zehn Jahren genommen“, sagte ich finster. Für eine Weile war es still und nur das Geräusch der Wagenräder, die über Sand und Steine rollten, war zu vernehmen.

      „Ein Grund mehr, dass du ihn dir wiederholst, Junge. Was ist das Leben ohne Lachen, hm? Bis es soweit ist, werde ich nachsichtig mit dir sein und verrate dir auch noch dies: In Concarneau angekommen, werden wir mit einem Boot nach Britannien übersetzen.“ Beim Klang des letzten Wortes richteten sich meine Augen auf de Forestier. Ich zog eine Augenbraue hoch und musterte ihn aufmerksam. War das sein Ernst oder veräppelte er mich? Der Bischof lehnte sich vor und ich befürchtete schon, er würde mich abermals anfassen. Meine Reaktion darauf immer noch im Gedächtnis habend, ließ er es und sagte: „Ich denke, jetzt ist es an der Zeit, dass ich ein Nickerchen halte.“ Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und fing beinahe umgehend an zu schnarchen. Dieser Mann würde mich noch in den Wahnsinn treiben!

      Das Licht vor dem Fenster veränderte sich. Die Sonne küsste die Wipfel der Bäume in der Ferne. De Forestier hatte mehrere Stunden seelenruhig geschlafen, und erst als der Abend anbrach, erwachte er. Ausgeruht und zufrieden streckte er sich und begrüßte mich fröhlich. „Wo sind wir?“ Fragte er mich das wirklich? Er war doch der Weitgereiste von uns beiden. Als ich ihm nicht antwortete, setzte er sich auf den freien Platz neben mir und klopfte mit der Faust kräftig gegen die Kutschenwand, hinter der der Kutscher saß und uns sicher durch die Landschaft fuhr. Ich hörte seine tiefe, ruhige Stimme, wie sie die Pferde zum Halten aufforderte. Einen Wimpernschlag später wurde ich gegen die Lehne der Bank, auf der ich saß, gepresst, als wir zum Stehen kamen. Leise hörte ich die Pferde schnaufen und wie sie mit den Hufen scharrten, als könnten sie es kaum erwarten, wieder so schnell wie der Wind zu laufen.

      De Forestier öffnete die Tür auf seiner Seite, streckte den Kopf nach draußen und rief zum Kutscher: „Rousel, wo sind wir? Wie lange dauert es noch, bis wir Concarneau erreichen?“ Ich vernahm zwar die Stimme des Angesprochenen, konnte aber nicht die Worte ausmachen, die er sprach. Als er verstummt war, zog de Forestier den Kopf wieder zurück ins Innere unseres Gefährts und seufzte. „Nach einem halben Tag ständiger Ruckelei sind wir immer noch nicht viel weiter. Wir müssten viel weiter sein. Wieso sind wir noch nicht weiter? Nun ja, es ist nicht zu ändern“, murmelte er vor sich hin.

      „Ich habe Hunger und muss mal“, bemerkte ich. Der Bischof wandte mir den Kopf zu und verzog missbilligend