Nadja Losbohm

Die Tagebücher des Michael Iain Ryan


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war heute vor Sonnenaufgang. Ebenso lange ist es her, dass ich uriniert habe, wenn Ihr es schon genau wissen wollt“, informierte ich ihn.

      „Urinieren – du brauchst dich in meiner Gegenwart nicht dermaßen geschwollen auszudrücken“, stellte er klar. Ich wusste ja selbst nicht, wieso ich in solch eine überkandidelte Ausdrucksweise verfallen war. Wollte ich womöglich bei de Forestier Eindruck schinden? Lechzte ich etwa insgeheim nach weiterem Lob, das ich ohnehin nicht annehmen würde? Zu welch verkorkster Persönlichkeit war ich nur geworden? Es war grotesk! Ich hatte früher nicht so geredet. Der Bischof schlug sich mit der Hand gegen die Brust. „Wir zwei sind erwachsene Männer. Wir können das Kind beim Namen nennen.“ Ich sah ihn verständnislos an. Welches Kind bei welchem Namen nennen? „Sag einfach pinkeln oder pissen. Wir sind unter uns. Du bist nicht mehr in deinem elitären Kloster. Wie dem auch sei. Dein Wunsch soll dir erfüllt werden. Hey, Rousel! Ist hier ein guter Platz, um Rast zu machen?“, schrie de Forestier mir ins Ohr.

      „Nicht wirklich, Meister. Wir sind hier wie auf einem Silbertablett. Lasst uns noch ein Stückchen weiterfahren. Ich sehe die Schatten von Bäumen, unter denen wir Schutz finden können. Und wenn wir Glück haben, finden wir dort einen Unterschlupf, der uns noch viel besser vor unliebsamen Augen verbirgt als ein Grashalm“, rief Rousel laut genug, sodass wir alle ihn hören konnten.

      De Forestier schlug mir gegen die Schulter. „Hältst du es noch so lange aus?“, fragte er und grinste. Ich nickte. Ich hatte schon ganz anderes viel länger ausgehalten.

      2. Kapitel

      Als wir endlich an den Waldrand gelangten und ich aussteigen konnte, war der Punkt erreicht, an dem mir vor Harndrang schon ganz schlecht war. Sobald meine Füße den Erdboden berührten, fummelte ich an meiner Kleidung herum. Da ich so nötig musste, tänzelte ich hin und her, zappelte herum, was es mir erschwerte, mich aus den Stofflagen zu befreien.

      „Junge, du brauchst dringend andere Kleider. Was du trägst, ist viel zu umständlich für solch banale Angelegenheiten. Siehst du, meine Sachen sind viel praktischer“, sprach de Forestier und führte es mir vor. Mit einer fließenden Handbewegung schob er den Stoff seiner Kutte beiseite, ließ hierbei seine braunen Beinlinge aufblitzen und beförderte sein Gemächt zutage. Ungeniert packte er es und fing an, sich vor mir zu erleichtern.

      Schockiert weiteten sich meine Augen, und ich schnappte nach Luft. Nicht nur, dass er schamlos seine Nacktheit entblößte. Er trug auch keine Brouche, die gängige Unterhose unserer Zeit. Ich selbst besaß keine, war ich doch gerade erst vom niedrigsten Novizen zum niedrigen Mönch aufgestiegen. Man hatte mich kleidungstechnisch minimalistisch ausgestattet, und ich war an das freie Schwingen um die Mitte herum gewöhnt. Aber er als Bischof hätte sie tragen müssen. Es war unerhört, ein Skandal! De Forestier lachte, und auch Rousel amüsierte sich bei dem Schauspiel köstlich.

      „Auf unserer Reise werden wir viel Zeit miteinander verbringen. Wir werden noch weniger Komfort haben als jetzt und wir werden einander in Situationen sehen, die weitaus unangenehmer sind als das hier“, eröffnete er mir. Er schüttelte ab und richtete sich wieder her. „Für Schüchternheit haben wir keine Zeit. Außerdem ist es mir hier zu heiß, um noch mehr Stoff zu tragen, und es bietet mir im Notfall auch mehr Bewegungsfreiheit. Du wirst noch früh genug erleben, was das zu bedeuten hat“, meinte er und zwinkerte mir zu. Ich war verwirrt und entsetzt zugleich. Schwer zu sagen, was dabei schlimmer war: der Auftritt, den er hingelegt hatte, oder die ehrlichen Worte, die er gesprochen hatte? Zugute halten musste ich dem Geschehen, dass es dafür sorgte, dass meine Hände sich beruhigt hatten und stillhielten und ich nicht mehr herumzappelte. Mit mehr Contenance als zuvor konnte ich es de Forestier gleichtun, wenn auch mit einem Funken mehr Anstand und Würde als er – zumindest hoffte ich das.

      Nachdem ich mich erleichtert hatte, machte ich mich daran, nach dem Bischof Ausschau zu halten. Ich entdeckte ihn am hinteren Ende des Reisewagens, als er diesen anschob. Am vorderen Ende fand ich den Kutscher Rousel, der die Pferde an den Zügeln gepackt und sie mit sich tiefer in den Wald zog. Es rumpelte und polterte, als das Gefährt zwischen die Bäume rollte. Äste brachen, als sie den Kampf gegen den Kutschwagen verloren. Die beiden Männer ließen sich von nichts beirren, ebenso wenig wie die Pferde. Sie ertrugen das Gezerre, Geschiebe und Knacken und selbst die auf sie zukommende Dunkelheit des Waldes mit stoischer Gelassenheit. Ich kam nicht umhin zu denken, dass sie an derlei Aktionen gewöhnt waren. Alle vier, die Pferde, der Kutscher und der Bischof, waren eine eingespielte Mannschaft, die nicht lange brauchte, bis sie zwischen den Bäumen und Sträuchern verschwunden war, dass man sie vom Weg aus nicht mehr sehen konnte. Den Rest erledigten geschickt platzierte Äste, Zweige und was sich sonst noch so alles auf dem Erdboden finden ließ. Ich hob den Saum meines Habits an, stapfte durch das hochgewachsene Gras und gesellte mich zu den beiden Männern.

      „Ah, Michael, wunderbar. Sei so gut und hilf dabei, unser Nachtlager herzurichten“, meinte de Forestier. Er schnaufte nicht einmal aufgrund der Anstrengungen, die es gekostet haben musste, die Kutsche zu bewegen. Er war beinahe dreimal so alt wie ich und besser in Form. Es war schwer zu erkennen im Licht der Abenddämmerung, aber ich vermutete, er vergoss nicht einmal einen Tropfen Schweiß. Ich sah mich um, auf der Suche nach etwas, das ich verwenden konnte. Wenn ich doch nur gewusst hätte, was man dafür benötigt.

      „Wonach suchst du, Junge? Etwa nach Blättern, um dir mit ihnen den Hintern abzuwischen?“

      Ich drehte mich zu der Stimme um und wurde umgehend von etwas großem, aber Weichem getroffen. Im Halbdunkel waren mir meine Augen keine große Hilfe, um auszumachen, was es war. Nur meine Hände errieten, dass es eine Decke und ein Kissen waren, die mir Rousel zugeworfen hatte. „Solange wir den Luxus noch haben, leben wir auch in ihm. Es wird bald anders kommen“, meinte er und trottete, selbst bepackt mit Schlafzeug, an mir vorbei. Er wusste ganz offensichtlich, was er tat, also folgte ich ihm. Ich beobachtete ihn dabei, wie er zielstrebig eine Stelle ansteuerte. War er hier zuvor schon gewesen oder war er lediglich in der Lage, seine Umgebung geschwind mit wenigen Blicken zu erfassen? Als ich ihn danach fragte, antwortete er: „Hast du einen Wald gesehen, hast du alle gesehen. Ich habe mein ganzes Leben in welchen verbracht. Ich weiß, was ich brauche und finde es schneller, als dass du deinen blaublütigen Schniedel zum Pissen hervorholen kannst.“

      Grundgütiger! Was redete er da nur? Seine vulgäre Ausdrucksweise zog mir beinahe den Boden unter den Füßen weg. Ich musste stehen bleiben, um mich von dem Schock zu erholen. Ich hatte gedacht, der Bischof war schon unverschämt gewesen, aber das! Es war – mir fehlten die Worte! Und überhaupt, wie kam er darauf, mein Schnie – ich sei blaublütig? Dann dämmerte es mir allmählich. Er hatte mich geschwollen reden hören, ganz so wie es die Angehörigen des Adels taten. „Ich bin nicht adelig!“, rief ich ihm nach und rannte wie ein Hündchen hinter ihm her.

      „Ach nein? Wieso sagst du dann urinieren und benutzt nicht Worte, die wir alle kennen, Graf Kotz?“, fragte er, blieb stehen und verbeugte sich vor mir. Seine Bewegungen waren formvollendet. Sogar hochwohlgeborene Jünglinge hätten gegen ihn linkisch ausgesehen. Ich hätte mich geschmeichelt gefühlt, dass er sich so viel Mühe gab, wenn ich nicht gewusst hätte, dass er mich damit verhöhnte. Graf Kotz.

      „Ich weiß nicht. Vielleicht wollte ich vor dem Bischof einen guten Eindruck machen“, gestand ich kleinlaut.

      „Ach so ist das. Du bist ein Arschkriecher.“ Verdutzt starrte ich den Kutscher an. Seine Fremdwörter überforderten mich. „Da ist unser Schlafplatz“, verkündete er und schob mich unsanft aus dem Weg. Schnurstracks lief er an mir vorbei. Immer noch verblüfft über den rasanten Themenwechsel, den er vollzogen hatte, sah ich ihm hinterher. Rousel stakste durch den Wald und schien nach einigen Schritten plötzlich im Erdboden zu versinken. Ich zog scharf den Atem ein, so erschrocken war ich, und vergaß dabei ganz unsere seltsame Unterredung. Ich rief seinen Namen und rannte in die Richtung, in die er verschwunden war. „Hier unten.“

      Zwei Schritte von mir entfernt tauchte sein Kopf in etwa auf Bodenebene auf. Da erst erkannte ich, dass sich nicht das Erdreich aufgetan hatte, um ihn zu verschlucken, obwohl es mich nicht gewundert hätte, bedenkt man, welch schmutziges Mundwerk er besaß.