Nadja Losbohm

Die Tagebücher des Michael Iain Ryan


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– wie sagt man nochmal? - Jungfrau. Ich habe noch nie eine Frau vollkommen nackt gesehen. Geküsst habe ich hingegen schon, aber dazu ein anderes Mal mehr. Jedenfalls was die Veränderungen des menschlichen Körpers in der Jugend angeht und die Gefühle, die aufkommen – darüber hatte man uns im Kloster nichts beigebracht.

      Alles, was man uns, den Novizen, eingebläut hatte, war, dass Frauen Sünde bedeuteten und es schon verheerende Folgen für uns hatte, wenn wir sie auch nur ansahen. Dasselbe galt für unsere Gedanken und Handlungen. Welche das waren, sagte man uns nicht. Erst als ich meine erste Erektion und den ersten nächtlichen Erguss hatte, ahnte ich, was sie meinten. Ich schämte mich dafür so sehr, dass sie mir die Schuld an der Nasenspitze hatten ablesen können. Es hatte Folgen für mich gehabt. Schmerzhafte. Obwohl ich es nicht absichtlich getan hatte. Es passierte einfach und ich konnte nichts dagegen tun. Irgendwann gab es sich von ganz allein. Der Lauf der Natur sozusagen.

      Nichtsdestotrotz war der Wandel vom Jungen zum Mann schlimm für mich. Niemand hatte mir erklärt, wieso dies oder jenes geschah oder irgendetwas funktionierte. Die Andeutungen, die de Forestier damals in Bezug auf das Leben als Bauern und das Verhalten der Tiere gemacht hatte, ergaben für mich ebenfalls keinen Sinn. Weder auf dem Hof meiner Eltern noch im Kloster von Gourin hatte ich je die Zeugung von neuem Leben gesehen. Mit anzusehen, wie ein Tier geschlachtet, ausgenommen, gekocht oder gebraten wird, um es zu verspeisen, schien zur damaligen Zeit für ein Kind verkraftbar zu sein. Über den Akt der Fortpflanzung von selbigen informiert zu sein, war hingegen etwas Verwerfliches. Deswegen konnte ich von ganzem Herzen und aufrichtig sagen:

      ***

      „Was meint Ihr? Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.“

      Der Bischof kratzte sich am Kinn, das dunkle Bartstoppeln zierte. „Ah“, seufzte er, „das Leben hinter dicken Klostermauern, abgeschnitten von der sündigen Welt – es ist ein Segen, nicht wahr, junger Freund?“ De Forestier schaute hinauf zu den dunklen Schatten des sich im sanften Wind bewegenden Blätterwerks. Über sein Gesicht huschten Erinnerungen an vergangene Zeiten. Ob er an seine Ausbildungszeit in einem Kloster zurückdachte? Wo hatte er gelernt? Diese Fragen interessierten mich. Ich wollte den Mann, der dem Bild eines typischen hochrangigen Klerikers so gar nicht entsprach, kennenlernen. Und es war sicherlich von Vorteil, mehr über ihn zu erfahren, ganz besonders in Anbetracht der Tatsache, dass mich seine letzten Worte so sehr an jemand anderes erinnerten. Hatte nicht auch Arnaud mich oft Freund genannt?

      Mich fröstelte, was nicht von der Böe herrührte, die über unser Nachtlager fegte. Man stelle sich nur einmal vor, de Forestier und Arnaud wären Novizen im selben Kloster zur gleichen Zeit gewesen und hatten über die Jahre hinweg den Kontakt beibehalten. Saß ich womöglich vor des Priors Zwilling? Nicht in Hinblick auf ihr Äußeres, wohl aber was ihren Charakter und ihre Vorlieben betraf wie zum Beispiel der des Folterns und Quälens? Sollte de Forestier mir durch dieses eine winzige Wörtchen einen Hinweis geliefert haben, mit wem er im Bunde stand? Hatte er es absichtlich getan oder war ihm nur ein Fehler unterlaufen? Mir wurde ganz schlecht bei diesen Gedanken, ich hatte womöglich nur den einen gegen den anderen ausgetauscht. War ich zu leichtgläubig gewesen? Hatte ich der Geschichte zu viel Gewicht beigemessen, weil ich unbedingt fort gewollt hatte? Hatte ich Wahrheit in etwas hinein interpretiert, wo es keine Wahrheit gab?

      Meine Gedanken überschlugen sich. Etwas in mir wollte am liebsten sofort aufstehen und davonlaufen. Aber wohin sollte ich? Ich wusste nicht, wo wir waren, hatte keine Ahnung, wohin ich gehen konnte. Was ich wusste, war, dass ich ohne den Bischof und den Kutscher verloren sein würde. Ich hatte nicht nur keinen blassen Schimmer von dem, was die Wildschweine trieben. Ich wusste auch nichts über die Welt, von der ich den größten Teil meines Lebens getrennt aufgewachsen war und in die wir schon bald eintauchen würden. Ich musste der Tatsache ins Auge blicken: Ich war abhängig von den beiden Männern.

      Es missfiel mir, aber es stimmte. Ein anderer Teil von mir wollte es mit ein bisschen Vertrauen versuchen. Dieser Teil war neugierig und erpicht darauf, endlich zu sehen, wovon ihm erzählt worden war. Er wollte helfen, schützen, Gutes tun und Wiedergutmachung leisten für mein Versagen als Kind. Wenn dies irgend möglich war. Ein winzig kleiner Rettungsanker tauchte in mir auf. An diesen klammerte ich mich fest: Hätten de Forestier und Rousel mir etwas antun wollen, hätten sie bereits zahlreiche Möglichkeiten dazu gehabt. Ihr Körperbau und nicht zuletzt die Narben und Wunden in ihren Gesichtern, die von ihren letzten Schlachten noch nicht vollständig verheilt waren, zeugten von ihrer Erfahrung im Kampf. Ein jeder von ihnen war problemlos dazu in der Lage, mich allein mit einem Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht zu Boden zu schicken, so dünn, so zerbrechlich, ja geradezu kränklich war ich. Der Bischof hätte mich auch hinterrücks in der Kutsche abstechen können, als ich geschlafen hatte und doch war ich immer noch am Leben. „Mhh“, machte ich zur selben Zeit wie de Forestier. Überrascht sahen wir uns an. Dann lächelten wir.

      „Versuch noch ein bisschen zu schlafen. Ich wecke Rousel, wenn er mit der Wache an der Reihe ist.“ Ich nickte und tat, wie mir geheißen wurde. Innerlich gab ich nochmals ein Mhh von mir. Ja, ich will es mit ein wenig Vertrauen versuchen.

      3. Kapitel

      „Sein Magen knurrt so laut. Wie kann er davon nicht wach werden?“ Ich vernahm die Worte unterbewusst, ahnte jedoch nicht, dass sie mir galten. Ich dachte, sie waren Teil meines Traums, den ich zum wiederholten Male von Bruder Corentin und der Sternkarte träumte. Ich hatte seinen Unterricht geliebt, und ihn auf diese Weise erneut zu durchleben, war eine willkommene Abwechslung zu den grausamen Dingen, die ich für gewöhnlich im Schlaf sah. Überwiegend begegnete mir des Nachts meine tote Mutter, die zu meinem Entsetzen nicht schön, sondern am Verwesen war, sodass ihr bereits Haut- und ganze Fleischstücke fehlten. Meine Träume wurden auch von Bruder Antoine, Arnauds Folterknecht, beherrscht, der sich vor mir, der mit dem Halseisen an die Wand gekettet war, auf dem Boden in meinem Blut und meinen Tränen wälzte und mit Armen und Beinen zuckte wie ein Hund, der sich im Gras herumwirft und darauf wartet, dass ihm sein Herr den Bauch krault. Hin und wieder schlichen sich aber auch neue Bilder ein, und ich erlebte Ungewohntes.

      So kam es vor, dass ich von mir selbst träumte und doch war nicht wirklich ich es, den ich sah. Es war ein junger Mann, dem Aussehen nach mein Zwilling. Seinen Taten nach zu urteilen jedoch ähnelte er dem Prior. Diese fremde Person, die mein Gesicht, meine Haare und meine tiefbraunen, fast schon schwarzen Augen mit den hellen Lichtpunkten hatte, schikanierte und folterte andere, wie es ihr beliebte. Am Ende des Traums, wenn er seiner Leidenschaft gefrönt hatte, stand er von Schwärze umhüllt einfach nur da und lächelte mich an, bis sich hinter ihm ein Mann, ebenfalls zufrieden lächelnd, aus der Finsternis schälte, und ihm vertrauensvoll eine Hand auf die Schulter legte. Es war schon eine Weile her, dass ich diesen Traum zum ersten Mal gehabt hatte. Ich war damals schreiend aufgewacht und hatte vergeblich mit Stroh von meinem Nachtlager versucht, mich von dem Schmutz namens Arnaud zu befreien. Ich will nicht so sein wie er. Ich bin nicht so wie er, hatte ich dabei unter Tränen gemurmelt. Seitdem hatte ich panische Angst davor, noch einmal davon zu träumen.

      Im Halbschlaf nuschelte ich eine Antwort auf die Frage, wieso er nicht wach wurde. Ich dachte, es ginge um Jean, der in meinem Traum auf seinem Hocker saß. Sein Habit war so sehr zerrissen, dass nur Stofffetzen auf seinem Leib lagen. Die blasse Haut leuchtete überall zwischen ihnen hervor. Ich glaubte, ich erwiderte so etwas wie: Sein knurrender Magen ist sein geringstes Problem. Es ist vielmehr erstaunlich, dass er nicht von der Kälte wach wird. Ich spürte etwas an meinem Oberschenkel, konnte jedoch nicht zuordnen, was es war. Ich wischte mit meiner Hand über die Stelle, um die Missempfindung loszuwerden. Irgendwer in Corentins Unterrichtsraum schnalzte missbilligend mit der Zunge. Dann verspürte ich einen Tritt in die Rippen und war schlagartig wach.

      Ich fuhr hoch und sprang auf alle viere. Ich mochte dünn und schwach sein wie ein zartes junges Bäumchen. Dafür aber war ich flink wie ein Eichhörnchen. Ebenso wie dieses um einen Baumstamm flitzt und sich an ihm in die Höhe schraubt, konnte auch ich mich bewegen. Ich huschte auf Händen und Füßen über den Waldboden, erhaschte mir dabei einen Stock, um mit ihm notfalls jemand ein Auge auszustechen, und verharrte schließlich etliche Schritte von meiner Schlafstatt entfernt hockend in absoluter